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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Neue Romane

uns über ihren Plan, jenseits des Ozeans einen Gesellschaftsstaat zu gründen,
mit einer Ausführlichkeit unterhalten, von der wir das meiste ihnen gern er¬
lassen würden. Dann fährt Coleridge in besagter Postkutsche nach Bristol, um
dort einen Vortrag zu halten. Unterwegs stellt er Betrachtungen an, die an
die englischen Humoristen erinnern, aber doch auch nur matt und schläfrig,
ohne eigentliche Spitze vorgetragen werden. Der Unterhaltung mit einer Reise¬
gefährtin, einer sehr anziehenden Schauspielerin, über Theater und allerlei
Lebensfragen würden wir allenfalls größere Teilnahme schenken, wenn wir
etwas früher erführen, daß er und sie ein Paar werden sollten, und daß darauf
und auf die Vereitelung des Weltverbesserungsplanes die ganze Geschichte
hinaufginge. Aber es dauert noch ziemlich lange, bis wir dahinterkommen.
Einstweilen steigt Coleridge im Hause einer alten Tante seines Freundes Southey
ab. Am Theetisch fragt dann die einfache und praktisch kluge Dame den jungeu
Herrn, was ihn hergeführt habe. Er will einen Vortrag halten über den
Untergang des weströmischen Reichs. "Ach, meint sie bedauernd, ist denn das
untergegangen?" Und als er ihr etwas betroffen sagt, daß das kein Unglücksfall
sei, sondern ein bereits vor Jahrhunderten eingetretnes, nunmehr unabänder¬
liches geschichtliches Ereignis, fragt sie weiter: "Ja, hat man das denn jetzt
erst erfahren, sodaß Sie darüber einen Vortrag halten müssen?" "Nein, erklärt
er verblüfft, aber man hat doch inzwischen manches anders gehört und er¬
mittelt, als es früher erschienen ist, und so --" "Ja, sagt die Alte, das kann
ich mir wohl denken, aber ich wundre mich, daß gerade ein so junger Mann,
wie Sie, zuerst diese neuen Nachrichten erhalten hat." So geht es weiter.
Das ist allerliebst und der erste Lichtblick in der Erzählung, die von nun an
in der That sehr hübsch verläuft. Die beiden Genossen kommen, um den
Freund, der so lange ausbleibt, aufzusuchen. Sie kehren bei der Tante ein,
und in ihrer reizend behaglichen Behausung beim Weihnachtsfest unter dem
Mistelzweig verloben sich die drei Studenten mit drei anmutigen Schwestern,
deren älteste jene Schauspielerin, Coleridges Reisegefährtin und demnächstige
Gattin ist. Wer für Züge des englischen Familienlebens empfänglich ist, der
wird sich durch alles dies für die früher ausgestandne Langeweile reichlich ent¬
schädigt fühlen. Er mag sich dann wohl sagen, daß auch sie etwas mit zum
englischen Wesen, also zum Kolorit des Kunstwerks, gehört, das der Verfasser
als "historische Novelle" einführt und seinen Absichten nach in einer Vor¬
bemerkung erläutert. Wir befinden uns einem höhern, stark reflektirten Kunst-
Produkt gegenüber und werden trotz alles Genusses, den es uns bereitet hat,
doch den Zweifel nicht los. ob ein englischer Roman (und warum wollte es
der Verfasser nicht so nennen?) mit Figuren des vorigen Jahrhunderts wirk¬
lich ein dankbarer Gegenstand sei für einen Schriftsteller, dem die Kunst der
Darstellung in solchem Maße zu Gebote steht.

Angehängt sind dieser größern noch vier kleine Geschichten, von denen


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uns über ihren Plan, jenseits des Ozeans einen Gesellschaftsstaat zu gründen,
mit einer Ausführlichkeit unterhalten, von der wir das meiste ihnen gern er¬
lassen würden. Dann fährt Coleridge in besagter Postkutsche nach Bristol, um
dort einen Vortrag zu halten. Unterwegs stellt er Betrachtungen an, die an
die englischen Humoristen erinnern, aber doch auch nur matt und schläfrig,
ohne eigentliche Spitze vorgetragen werden. Der Unterhaltung mit einer Reise¬
gefährtin, einer sehr anziehenden Schauspielerin, über Theater und allerlei
Lebensfragen würden wir allenfalls größere Teilnahme schenken, wenn wir
etwas früher erführen, daß er und sie ein Paar werden sollten, und daß darauf
und auf die Vereitelung des Weltverbesserungsplanes die ganze Geschichte
hinaufginge. Aber es dauert noch ziemlich lange, bis wir dahinterkommen.
Einstweilen steigt Coleridge im Hause einer alten Tante seines Freundes Southey
ab. Am Theetisch fragt dann die einfache und praktisch kluge Dame den jungeu
Herrn, was ihn hergeführt habe. Er will einen Vortrag halten über den
Untergang des weströmischen Reichs. „Ach, meint sie bedauernd, ist denn das
untergegangen?" Und als er ihr etwas betroffen sagt, daß das kein Unglücksfall
sei, sondern ein bereits vor Jahrhunderten eingetretnes, nunmehr unabänder¬
liches geschichtliches Ereignis, fragt sie weiter: „Ja, hat man das denn jetzt
erst erfahren, sodaß Sie darüber einen Vortrag halten müssen?" „Nein, erklärt
er verblüfft, aber man hat doch inzwischen manches anders gehört und er¬
mittelt, als es früher erschienen ist, und so —" „Ja, sagt die Alte, das kann
ich mir wohl denken, aber ich wundre mich, daß gerade ein so junger Mann,
wie Sie, zuerst diese neuen Nachrichten erhalten hat." So geht es weiter.
Das ist allerliebst und der erste Lichtblick in der Erzählung, die von nun an
in der That sehr hübsch verläuft. Die beiden Genossen kommen, um den
Freund, der so lange ausbleibt, aufzusuchen. Sie kehren bei der Tante ein,
und in ihrer reizend behaglichen Behausung beim Weihnachtsfest unter dem
Mistelzweig verloben sich die drei Studenten mit drei anmutigen Schwestern,
deren älteste jene Schauspielerin, Coleridges Reisegefährtin und demnächstige
Gattin ist. Wer für Züge des englischen Familienlebens empfänglich ist, der
wird sich durch alles dies für die früher ausgestandne Langeweile reichlich ent¬
schädigt fühlen. Er mag sich dann wohl sagen, daß auch sie etwas mit zum
englischen Wesen, also zum Kolorit des Kunstwerks, gehört, das der Verfasser
als „historische Novelle" einführt und seinen Absichten nach in einer Vor¬
bemerkung erläutert. Wir befinden uns einem höhern, stark reflektirten Kunst-
Produkt gegenüber und werden trotz alles Genusses, den es uns bereitet hat,
doch den Zweifel nicht los. ob ein englischer Roman (und warum wollte es
der Verfasser nicht so nennen?) mit Figuren des vorigen Jahrhunderts wirk¬
lich ein dankbarer Gegenstand sei für einen Schriftsteller, dem die Kunst der
Darstellung in solchem Maße zu Gebote steht.

Angehängt sind dieser größern noch vier kleine Geschichten, von denen


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[0181] Neue Romane uns über ihren Plan, jenseits des Ozeans einen Gesellschaftsstaat zu gründen, mit einer Ausführlichkeit unterhalten, von der wir das meiste ihnen gern er¬ lassen würden. Dann fährt Coleridge in besagter Postkutsche nach Bristol, um dort einen Vortrag zu halten. Unterwegs stellt er Betrachtungen an, die an die englischen Humoristen erinnern, aber doch auch nur matt und schläfrig, ohne eigentliche Spitze vorgetragen werden. Der Unterhaltung mit einer Reise¬ gefährtin, einer sehr anziehenden Schauspielerin, über Theater und allerlei Lebensfragen würden wir allenfalls größere Teilnahme schenken, wenn wir etwas früher erführen, daß er und sie ein Paar werden sollten, und daß darauf und auf die Vereitelung des Weltverbesserungsplanes die ganze Geschichte hinaufginge. Aber es dauert noch ziemlich lange, bis wir dahinterkommen. Einstweilen steigt Coleridge im Hause einer alten Tante seines Freundes Southey ab. Am Theetisch fragt dann die einfache und praktisch kluge Dame den jungeu Herrn, was ihn hergeführt habe. Er will einen Vortrag halten über den Untergang des weströmischen Reichs. „Ach, meint sie bedauernd, ist denn das untergegangen?" Und als er ihr etwas betroffen sagt, daß das kein Unglücksfall sei, sondern ein bereits vor Jahrhunderten eingetretnes, nunmehr unabänder¬ liches geschichtliches Ereignis, fragt sie weiter: „Ja, hat man das denn jetzt erst erfahren, sodaß Sie darüber einen Vortrag halten müssen?" „Nein, erklärt er verblüfft, aber man hat doch inzwischen manches anders gehört und er¬ mittelt, als es früher erschienen ist, und so —" „Ja, sagt die Alte, das kann ich mir wohl denken, aber ich wundre mich, daß gerade ein so junger Mann, wie Sie, zuerst diese neuen Nachrichten erhalten hat." So geht es weiter. Das ist allerliebst und der erste Lichtblick in der Erzählung, die von nun an in der That sehr hübsch verläuft. Die beiden Genossen kommen, um den Freund, der so lange ausbleibt, aufzusuchen. Sie kehren bei der Tante ein, und in ihrer reizend behaglichen Behausung beim Weihnachtsfest unter dem Mistelzweig verloben sich die drei Studenten mit drei anmutigen Schwestern, deren älteste jene Schauspielerin, Coleridges Reisegefährtin und demnächstige Gattin ist. Wer für Züge des englischen Familienlebens empfänglich ist, der wird sich durch alles dies für die früher ausgestandne Langeweile reichlich ent¬ schädigt fühlen. Er mag sich dann wohl sagen, daß auch sie etwas mit zum englischen Wesen, also zum Kolorit des Kunstwerks, gehört, das der Verfasser als „historische Novelle" einführt und seinen Absichten nach in einer Vor¬ bemerkung erläutert. Wir befinden uns einem höhern, stark reflektirten Kunst- Produkt gegenüber und werden trotz alles Genusses, den es uns bereitet hat, doch den Zweifel nicht los. ob ein englischer Roman (und warum wollte es der Verfasser nicht so nennen?) mit Figuren des vorigen Jahrhunderts wirk¬ lich ein dankbarer Gegenstand sei für einen Schriftsteller, dem die Kunst der Darstellung in solchem Maße zu Gebote steht. Angehängt sind dieser größern noch vier kleine Geschichten, von denen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/181>, abgerufen am 22.07.2024.