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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Neue Romane

zu ernst. Denn was ist das Leben ohne Liebesglanz, und nun vollends ein
zweibändiger Roman ohne ihn! Im Anfang erfahren wir freilich von einer
nicht erwiderten Liebe dieses nordischen Mannes, der als Maler in München
lebt und dort in seinem Atelier plötzlich hübschen Besuch empfängt. Aber das
hochbcanlagte junge Mädchen, das sich mit Mutter und Schwester eine Zeit
lang zum Studium der Sammlungen dort aufhält, ist nicht mehr frei. Und
nun beginnt erst die Aufgabe des Buches, das dadurch gebrochne Leben Tino
Morales bis zum geistigen Verfall und zum körperlichen Ende zu schildern.
Nebenfiguren, die unsre Teilnahme erwecken könnten, treten nicht auf. Der
Vorgang wird also ganz einheitlich, ohne jede Ablenkung unsers Interesses,
naturgeschichtlich treu, möchte man sagen, behandelt. Das seelische Leben des
Menschen, seine Kunst -- er ist nicht nur Maler, sondern zugleich für Poesie
und Musik begabt --, lauter innere Vorgänge ohne äußere Handlung, abge¬
sehen davon, daß der Unglückliche öfter seinen Ort wechselt und dann einen
immer einsamem wählt. Die Sprache ist schön. Aber je weiter wir kommen,
desto ängstlicher fragen wir: wohin führt das? Und schließlich: mußte man
denn dieses ganze Leben begleiten, wenn es so in nichts enden sollte? Oder
sollte etwa die Erzählung nur der Nahmen sein für das Kunsttheoretische?
eine Art Sternbald? Dann geben wir zunächst gern zu, daß die Aufgabe hier
wesentlich tiefer und ernster gefaßt ist, als in den meisten derartigen Maler¬
romanen. Aber noch besser, meinen wir, wäre es gewesen, wenn wir die
Theorie ohne die Erzählung bekommen hätten. Also der "Roman" ist es,
was wir an dieser Leistung des Verfassers am ehesten hätten entbehren können.

Es ist begreiflich, daß bei der ungeheuern Menge von Erscheinungen in
der dichtenden Erzählungslitteratur die Gattung nach neuen Formen sucht.
Gelegentlich kehrt sie denn auch zu ältern zurück und manchmal zu solchen,
die man längst für vergessen halten sollte, weil sie sich in unsrer Zeit und
in unserm Leben doch recht fremdartig aufnehmen. Und dabei ist es dann
zuweilen, als ob sich die Gegensätze forderten. So wenn aus dem lebenslustigen,
übermodernen, zerstreuungssüchtigen Wien in vornehmster Ausstattung, einge¬
führt durch den feinsten Kreis litterarischer Gönner, etwas dargebracht wird,
was sich ansieht wie ein breitspuriger, rechtschaffner englischer Familienroman
ältern 'Datums, ohne alle Reizmittel der Schilderung, an die man längst als
an etwas selbstverständliches gewöhnt ist. Wir haben beinahe schon die Hälfte
der Seiten hinter uus und hin und wieder auch, offen gestanden, einige über¬
schlagen. Denn die Postkutsche zwischen Oxford und Bristol am Ende des
vorigen Jahrhunderts, in das wir versetzt werden, fährt doch gar zu langsam.
Aber Geduld! Es ist etwas sür den Feinschmecker, und der Appetit wächst
vielleicht während des Genießens. Die Weltverbesserer von I. V. Wid-
mann heißt das Buch (Wien, Litterarische Gesellschaft. 1896). Die Welt¬
verbesserer sind drei Oxforder Studenten: Coleridge, Southeh und Lowell, die


Neue Romane

zu ernst. Denn was ist das Leben ohne Liebesglanz, und nun vollends ein
zweibändiger Roman ohne ihn! Im Anfang erfahren wir freilich von einer
nicht erwiderten Liebe dieses nordischen Mannes, der als Maler in München
lebt und dort in seinem Atelier plötzlich hübschen Besuch empfängt. Aber das
hochbcanlagte junge Mädchen, das sich mit Mutter und Schwester eine Zeit
lang zum Studium der Sammlungen dort aufhält, ist nicht mehr frei. Und
nun beginnt erst die Aufgabe des Buches, das dadurch gebrochne Leben Tino
Morales bis zum geistigen Verfall und zum körperlichen Ende zu schildern.
Nebenfiguren, die unsre Teilnahme erwecken könnten, treten nicht auf. Der
Vorgang wird also ganz einheitlich, ohne jede Ablenkung unsers Interesses,
naturgeschichtlich treu, möchte man sagen, behandelt. Das seelische Leben des
Menschen, seine Kunst — er ist nicht nur Maler, sondern zugleich für Poesie
und Musik begabt —, lauter innere Vorgänge ohne äußere Handlung, abge¬
sehen davon, daß der Unglückliche öfter seinen Ort wechselt und dann einen
immer einsamem wählt. Die Sprache ist schön. Aber je weiter wir kommen,
desto ängstlicher fragen wir: wohin führt das? Und schließlich: mußte man
denn dieses ganze Leben begleiten, wenn es so in nichts enden sollte? Oder
sollte etwa die Erzählung nur der Nahmen sein für das Kunsttheoretische?
eine Art Sternbald? Dann geben wir zunächst gern zu, daß die Aufgabe hier
wesentlich tiefer und ernster gefaßt ist, als in den meisten derartigen Maler¬
romanen. Aber noch besser, meinen wir, wäre es gewesen, wenn wir die
Theorie ohne die Erzählung bekommen hätten. Also der „Roman" ist es,
was wir an dieser Leistung des Verfassers am ehesten hätten entbehren können.

Es ist begreiflich, daß bei der ungeheuern Menge von Erscheinungen in
der dichtenden Erzählungslitteratur die Gattung nach neuen Formen sucht.
Gelegentlich kehrt sie denn auch zu ältern zurück und manchmal zu solchen,
die man längst für vergessen halten sollte, weil sie sich in unsrer Zeit und
in unserm Leben doch recht fremdartig aufnehmen. Und dabei ist es dann
zuweilen, als ob sich die Gegensätze forderten. So wenn aus dem lebenslustigen,
übermodernen, zerstreuungssüchtigen Wien in vornehmster Ausstattung, einge¬
führt durch den feinsten Kreis litterarischer Gönner, etwas dargebracht wird,
was sich ansieht wie ein breitspuriger, rechtschaffner englischer Familienroman
ältern 'Datums, ohne alle Reizmittel der Schilderung, an die man längst als
an etwas selbstverständliches gewöhnt ist. Wir haben beinahe schon die Hälfte
der Seiten hinter uus und hin und wieder auch, offen gestanden, einige über¬
schlagen. Denn die Postkutsche zwischen Oxford und Bristol am Ende des
vorigen Jahrhunderts, in das wir versetzt werden, fährt doch gar zu langsam.
Aber Geduld! Es ist etwas sür den Feinschmecker, und der Appetit wächst
vielleicht während des Genießens. Die Weltverbesserer von I. V. Wid-
mann heißt das Buch (Wien, Litterarische Gesellschaft. 1896). Die Welt¬
verbesserer sind drei Oxforder Studenten: Coleridge, Southeh und Lowell, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/180>, abgerufen am 03.07.2024.