Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.August Lointe und der Positivismus gänger aufbauen, ist wenigstens mit Rücksicht auf das, was er persönlich dem Was nun vom einzelnen großen Manne gilt, daß er ohne sein "Milieu" Grenzboten II 1896 15
August Lointe und der Positivismus gänger aufbauen, ist wenigstens mit Rücksicht auf das, was er persönlich dem Was nun vom einzelnen großen Manne gilt, daß er ohne sein „Milieu" Grenzboten II 1896 15
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0121" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222425"/> <fw type="header" place="top"> August Lointe und der Positivismus</fw><lb/> <p xml:id="ID_362" prev="#ID_361"> gänger aufbauen, ist wenigstens mit Rücksicht auf das, was er persönlich dem<lb/> Wissensschatze seiner Zeit hinzufügt, von dem Verhalten seiner Zeitgenossen ihm<lb/> gegenüber unabhängig. sein persönliches Schaffen ist in keiner Weise an die<lb/> Mitwirkung andrer gebunden. Dagegen ist ein König ohne Unterthanen, ein<lb/> Staatsmann ohne Volk, ein Feldherr ohne Armee ein Unding, fast eine Kari¬<lb/> katur jwährend Unterthanen ohne Könige und Völker ohne bedeutende Staats¬<lb/> männer gar nichts seltnes sind, Armeen aber ohne Feldherrn zwar übel dran<lb/> sind, aber sich doch auch manchmal zu helfen wissen und allenfalls aus sich<lb/> selbst einen Feldherrn hervorbringen^. Nicht, daß ihre persönlichen Eigen¬<lb/> schaften nicht auch von großer Bedeutung wären; was sie aber thatsächlich<lb/> leisten und überhaupt zu leisten vermögen, hängt nicht sowohl von dem ab,<lb/> was sie an sich selber sind, als vielmehr wesentlich von dem, was sie in der<lb/> Vorstellung der Angehörigen jener Verbände sind, an deren Spitze sie stehen."<lb/> In einer Anmerkung weist er dann noch darauf hin, wie die Vorstellung, die<lb/> das Volk von den Herrschenden hegt, nicht selten die Entwicklung hemmt. Die<lb/> soziale wie die Naturentwicklung seien beide aristokratisch, d. h. auf die Herr¬<lb/> schaft der höhern Lebensformen über die niedern gerichtet. Aber während sich<lb/> in der Natur dieser Drang meistens durchsetze, komme es im sozialen Leben<lb/> nicht selten vor, „daß Klassen, die längst aufgehört haben, die wertvollsten zu<lb/> sein, weiter herrschen, und daß sich ihnen thatsächlich überlegne noch länger<lb/> ihrer Leitung unterwerfen. Die oben erwähnte Thatsache erklärt nun zum<lb/> großen Teile, wenn auch nicht ausschließlich, diese wunderbare Erscheinung.<lb/> Lange noch, nachdem eine Klasse aufgehört hat, die vornehmste und so ihrer<lb/> Natur nach herrschaftsberechtigte zu sein, dauert die traditionelle Vorstellung<lb/> von ihrer Herrschaftsberechtigung in den breiten Massen des Volks fort:<lb/> Scheinwcrte gelten für reale Werte und halten so oft jahrhundertelang eine<lb/> Verschiebung in der sozialen Machtverteilung auf, die andernfalls kaum hätte<lb/> ausbleiben können."</p><lb/> <p xml:id="ID_363" next="#ID_364"> Was nun vom einzelnen großen Manne gilt, daß er ohne sein „Milieu"<lb/> weder wirken noch verstanden werden kann, das gilt überhaupt von jedem<lb/> einzelnen, und es gehört zu den Hauptverdiensten der Comtischen Methodik,<lb/> besonders den Individualisten unter den Nationalökonomien gegenüber nach¬<lb/> drücklich darauf hingewiesen zu haben, daß es sich mit den Gesellschaftskörpern<lb/> als Organismen so verhält wie mit allen Organismen, daß nämlich das or¬<lb/> ganische Ganze keineswegs gleich der Summe seiner Teile, sondern etwas andres<lb/> ist, wie es ja Goethe so unübertrefflich schön ausgedrückt hat (Du hast die<lb/> Teile in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band). Woraus dann serner<lb/> folgt, daß in der Gesellschaft das Einzelne nicht verstanden werden kann ohne<lb/> das Ganze. Doch geht Comte zu weit, wenn er behauptet, der einzelne Mensch<lb/> sei gar nicht wirklich vorhanden, nur die Menschheit sei etwas wirkliches.<lb/> Mit größeren Recht könnte man behaupten, daß nicht die Menschheit, sondern</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1896 15</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0121]
August Lointe und der Positivismus
gänger aufbauen, ist wenigstens mit Rücksicht auf das, was er persönlich dem
Wissensschatze seiner Zeit hinzufügt, von dem Verhalten seiner Zeitgenossen ihm
gegenüber unabhängig. sein persönliches Schaffen ist in keiner Weise an die
Mitwirkung andrer gebunden. Dagegen ist ein König ohne Unterthanen, ein
Staatsmann ohne Volk, ein Feldherr ohne Armee ein Unding, fast eine Kari¬
katur jwährend Unterthanen ohne Könige und Völker ohne bedeutende Staats¬
männer gar nichts seltnes sind, Armeen aber ohne Feldherrn zwar übel dran
sind, aber sich doch auch manchmal zu helfen wissen und allenfalls aus sich
selbst einen Feldherrn hervorbringen^. Nicht, daß ihre persönlichen Eigen¬
schaften nicht auch von großer Bedeutung wären; was sie aber thatsächlich
leisten und überhaupt zu leisten vermögen, hängt nicht sowohl von dem ab,
was sie an sich selber sind, als vielmehr wesentlich von dem, was sie in der
Vorstellung der Angehörigen jener Verbände sind, an deren Spitze sie stehen."
In einer Anmerkung weist er dann noch darauf hin, wie die Vorstellung, die
das Volk von den Herrschenden hegt, nicht selten die Entwicklung hemmt. Die
soziale wie die Naturentwicklung seien beide aristokratisch, d. h. auf die Herr¬
schaft der höhern Lebensformen über die niedern gerichtet. Aber während sich
in der Natur dieser Drang meistens durchsetze, komme es im sozialen Leben
nicht selten vor, „daß Klassen, die längst aufgehört haben, die wertvollsten zu
sein, weiter herrschen, und daß sich ihnen thatsächlich überlegne noch länger
ihrer Leitung unterwerfen. Die oben erwähnte Thatsache erklärt nun zum
großen Teile, wenn auch nicht ausschließlich, diese wunderbare Erscheinung.
Lange noch, nachdem eine Klasse aufgehört hat, die vornehmste und so ihrer
Natur nach herrschaftsberechtigte zu sein, dauert die traditionelle Vorstellung
von ihrer Herrschaftsberechtigung in den breiten Massen des Volks fort:
Scheinwcrte gelten für reale Werte und halten so oft jahrhundertelang eine
Verschiebung in der sozialen Machtverteilung auf, die andernfalls kaum hätte
ausbleiben können."
Was nun vom einzelnen großen Manne gilt, daß er ohne sein „Milieu"
weder wirken noch verstanden werden kann, das gilt überhaupt von jedem
einzelnen, und es gehört zu den Hauptverdiensten der Comtischen Methodik,
besonders den Individualisten unter den Nationalökonomien gegenüber nach¬
drücklich darauf hingewiesen zu haben, daß es sich mit den Gesellschaftskörpern
als Organismen so verhält wie mit allen Organismen, daß nämlich das or¬
ganische Ganze keineswegs gleich der Summe seiner Teile, sondern etwas andres
ist, wie es ja Goethe so unübertrefflich schön ausgedrückt hat (Du hast die
Teile in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band). Woraus dann serner
folgt, daß in der Gesellschaft das Einzelne nicht verstanden werden kann ohne
das Ganze. Doch geht Comte zu weit, wenn er behauptet, der einzelne Mensch
sei gar nicht wirklich vorhanden, nur die Menschheit sei etwas wirkliches.
Mit größeren Recht könnte man behaupten, daß nicht die Menschheit, sondern
Grenzboten II 1896 15
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