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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Hof und Bürgertum in der Geistesgeschichte Berlins

Art gepflegt. So hat sich namentlich in ihren Mauern die neue heimische
Kultur vorbereiten können, die in der zweiten Hülste des achtzehnten Jahr¬
hunderts die fürstliche ablösen sollte; man denke nur an Gottsched und Gellert,
an Lessing und Kant. In Hamburg fanden in der zweiten Hülste des sieb¬
zehnten Jahrhunderts holländische Maler gute Kundschaft, eine zweite Heimat
und Nachfolge, Denner und Schlüter, sonst freilich nicht in einem Atem zu
nennen, stammen beide aus Hamburg; oder um bei der modernen Kunst jener
Zeit zu bleiben: in Hamburg hat sich die erste deutsche Oper entwickelt, die
den Namen verdient, und Händel gelernt, in Königsberg schuf Heinrich Albert,
volkstümlichen Klängen sich nähernd, die Musik zu den bürgerlichen Dichtungen
des Königsberger Kreises, und in der Leipziger Thomasschulkantorei erwuchs
der fremden höfischen Kunst eine deutschere Schwester, die an Kraft und Tiefe
das gesamte damalige Musikleben auf deutschem und außerdeutschen Boden
übertrifft. Freilich auch Bachs Musik war doch noch eine Standeskunst,
bürgerlich, halb gelehrt, trotz manches volkstümlichen Zugs nicht eigentlich volks¬
tümlich, und darum hat auch sie nicht unmittelbar weiter leben können. Die
erste wahrhaft deutsche Kunst, das erste rein deutsche Geistesleben seit den
Tagen Dürers und Luthers quillt um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts:
Mensch sein, natürlicher Mensch, frei von überlieferten gesellschaftlichen und
geistigen Schranken, nur aus sich heraus, aber als Eines und als Ganzes leben
und denken, das war das neue Ziel, von allen Seiten her vorbereitet und
zunächst in der Dichtung mit Hilfe des Volksliedes errungen.'

Wie dieses neue, individuellere, demokratischere, deutschere, wie unser Zeit-
alter das alte in unsrer Reichshauptstadt abgelöst hat, versuchen die folgenden
Zeilen in flüchtigen Umrissen zu zeigen. Den Stoff zu einem ausführlichen
Bilde hat Ludwig Geiger mit großem Fleiße in seinem Buche: Berlin.
Geschichte des geistigen Lebens der preußischen Hauptstadt 1688
bis 1840 (Berlin, Gebrüder Paket, 1894/95> zusammengetragen. Er hat keine
Einleitung dazu geschrieben; wer es gelesen hat oder lesen wird, läßt sich
vielleicht das folgende als nachträgliche oder vorläufige Einleitung dazu gefallen.

Das tiefste geistige Interesse überhaupt, das religiöse, hat dem sechzehnten
und siebzehnten Jahrhundert seinen Stempel besonders aufgeprägt. Die reli¬
giöse und kirchliche Entwicklung Berlins seit der Mitte des siebzehnten Jahr¬
hunderts ist mit den beiden Thatsachen des reformirten Hofes und einer lebens¬
kräftigen protestantischen Bürgerschaft gegeben.

Dieser Zustand mußte ausheilen des Hofes zu versöhnenden, womöglich
vereinigenden Versuchen führen oder doch Toleranz anraten, und in der That
sind das die beiden Bahnen gewesen, in denen das preußische Königstum in
der Hauptsache gewandelt ist, je nachdem der Herrscher persönlich eifriger in
Glaubenssachen oder lässiger war. Toleranz, das auf dem Kasseler Gespräch
1661 zunächst bezeichnete Ziel, wurde auch zuerst erreicht, Paul Gerhard, der


Hof und Bürgertum in der Geistesgeschichte Berlins

Art gepflegt. So hat sich namentlich in ihren Mauern die neue heimische
Kultur vorbereiten können, die in der zweiten Hülste des achtzehnten Jahr¬
hunderts die fürstliche ablösen sollte; man denke nur an Gottsched und Gellert,
an Lessing und Kant. In Hamburg fanden in der zweiten Hülste des sieb¬
zehnten Jahrhunderts holländische Maler gute Kundschaft, eine zweite Heimat
und Nachfolge, Denner und Schlüter, sonst freilich nicht in einem Atem zu
nennen, stammen beide aus Hamburg; oder um bei der modernen Kunst jener
Zeit zu bleiben: in Hamburg hat sich die erste deutsche Oper entwickelt, die
den Namen verdient, und Händel gelernt, in Königsberg schuf Heinrich Albert,
volkstümlichen Klängen sich nähernd, die Musik zu den bürgerlichen Dichtungen
des Königsberger Kreises, und in der Leipziger Thomasschulkantorei erwuchs
der fremden höfischen Kunst eine deutschere Schwester, die an Kraft und Tiefe
das gesamte damalige Musikleben auf deutschem und außerdeutschen Boden
übertrifft. Freilich auch Bachs Musik war doch noch eine Standeskunst,
bürgerlich, halb gelehrt, trotz manches volkstümlichen Zugs nicht eigentlich volks¬
tümlich, und darum hat auch sie nicht unmittelbar weiter leben können. Die
erste wahrhaft deutsche Kunst, das erste rein deutsche Geistesleben seit den
Tagen Dürers und Luthers quillt um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts:
Mensch sein, natürlicher Mensch, frei von überlieferten gesellschaftlichen und
geistigen Schranken, nur aus sich heraus, aber als Eines und als Ganzes leben
und denken, das war das neue Ziel, von allen Seiten her vorbereitet und
zunächst in der Dichtung mit Hilfe des Volksliedes errungen.'

Wie dieses neue, individuellere, demokratischere, deutschere, wie unser Zeit-
alter das alte in unsrer Reichshauptstadt abgelöst hat, versuchen die folgenden
Zeilen in flüchtigen Umrissen zu zeigen. Den Stoff zu einem ausführlichen
Bilde hat Ludwig Geiger mit großem Fleiße in seinem Buche: Berlin.
Geschichte des geistigen Lebens der preußischen Hauptstadt 1688
bis 1840 (Berlin, Gebrüder Paket, 1894/95> zusammengetragen. Er hat keine
Einleitung dazu geschrieben; wer es gelesen hat oder lesen wird, läßt sich
vielleicht das folgende als nachträgliche oder vorläufige Einleitung dazu gefallen.

Das tiefste geistige Interesse überhaupt, das religiöse, hat dem sechzehnten
und siebzehnten Jahrhundert seinen Stempel besonders aufgeprägt. Die reli¬
giöse und kirchliche Entwicklung Berlins seit der Mitte des siebzehnten Jahr¬
hunderts ist mit den beiden Thatsachen des reformirten Hofes und einer lebens¬
kräftigen protestantischen Bürgerschaft gegeben.

Dieser Zustand mußte ausheilen des Hofes zu versöhnenden, womöglich
vereinigenden Versuchen führen oder doch Toleranz anraten, und in der That
sind das die beiden Bahnen gewesen, in denen das preußische Königstum in
der Hauptsache gewandelt ist, je nachdem der Herrscher persönlich eifriger in
Glaubenssachen oder lässiger war. Toleranz, das auf dem Kasseler Gespräch
1661 zunächst bezeichnete Ziel, wurde auch zuerst erreicht, Paul Gerhard, der


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[0082] Hof und Bürgertum in der Geistesgeschichte Berlins Art gepflegt. So hat sich namentlich in ihren Mauern die neue heimische Kultur vorbereiten können, die in der zweiten Hülste des achtzehnten Jahr¬ hunderts die fürstliche ablösen sollte; man denke nur an Gottsched und Gellert, an Lessing und Kant. In Hamburg fanden in der zweiten Hülste des sieb¬ zehnten Jahrhunderts holländische Maler gute Kundschaft, eine zweite Heimat und Nachfolge, Denner und Schlüter, sonst freilich nicht in einem Atem zu nennen, stammen beide aus Hamburg; oder um bei der modernen Kunst jener Zeit zu bleiben: in Hamburg hat sich die erste deutsche Oper entwickelt, die den Namen verdient, und Händel gelernt, in Königsberg schuf Heinrich Albert, volkstümlichen Klängen sich nähernd, die Musik zu den bürgerlichen Dichtungen des Königsberger Kreises, und in der Leipziger Thomasschulkantorei erwuchs der fremden höfischen Kunst eine deutschere Schwester, die an Kraft und Tiefe das gesamte damalige Musikleben auf deutschem und außerdeutschen Boden übertrifft. Freilich auch Bachs Musik war doch noch eine Standeskunst, bürgerlich, halb gelehrt, trotz manches volkstümlichen Zugs nicht eigentlich volks¬ tümlich, und darum hat auch sie nicht unmittelbar weiter leben können. Die erste wahrhaft deutsche Kunst, das erste rein deutsche Geistesleben seit den Tagen Dürers und Luthers quillt um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts: Mensch sein, natürlicher Mensch, frei von überlieferten gesellschaftlichen und geistigen Schranken, nur aus sich heraus, aber als Eines und als Ganzes leben und denken, das war das neue Ziel, von allen Seiten her vorbereitet und zunächst in der Dichtung mit Hilfe des Volksliedes errungen.' Wie dieses neue, individuellere, demokratischere, deutschere, wie unser Zeit- alter das alte in unsrer Reichshauptstadt abgelöst hat, versuchen die folgenden Zeilen in flüchtigen Umrissen zu zeigen. Den Stoff zu einem ausführlichen Bilde hat Ludwig Geiger mit großem Fleiße in seinem Buche: Berlin. Geschichte des geistigen Lebens der preußischen Hauptstadt 1688 bis 1840 (Berlin, Gebrüder Paket, 1894/95> zusammengetragen. Er hat keine Einleitung dazu geschrieben; wer es gelesen hat oder lesen wird, läßt sich vielleicht das folgende als nachträgliche oder vorläufige Einleitung dazu gefallen. Das tiefste geistige Interesse überhaupt, das religiöse, hat dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert seinen Stempel besonders aufgeprägt. Die reli¬ giöse und kirchliche Entwicklung Berlins seit der Mitte des siebzehnten Jahr¬ hunderts ist mit den beiden Thatsachen des reformirten Hofes und einer lebens¬ kräftigen protestantischen Bürgerschaft gegeben. Dieser Zustand mußte ausheilen des Hofes zu versöhnenden, womöglich vereinigenden Versuchen führen oder doch Toleranz anraten, und in der That sind das die beiden Bahnen gewesen, in denen das preußische Königstum in der Hauptsache gewandelt ist, je nachdem der Herrscher persönlich eifriger in Glaubenssachen oder lässiger war. Toleranz, das auf dem Kasseler Gespräch 1661 zunächst bezeichnete Ziel, wurde auch zuerst erreicht, Paul Gerhard, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/82>, abgerufen am 01.09.2024.