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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die erste Liede

Nein, ich weis; gar nichts mehr! rief er aufgeregt. Nur eins, nur eins,
daß -

Daß der arme Wurm doch immerhin meine erste Liebe war? unterbrach sie
ihn lachend. Gerade deswegen hätten Sie ihn doch ein wenig schonen müssen.
Schon ans Mitleid mit meiner Dummheit und Schwäche. Und nun muß ich Sie
verabschieden, denn dort kommt meine Waschfrau über die Straße. Sie will zu
mir, ich sehe es an ihrem Gesicht, und da sie mich armen Leuten und nach ihren
vielen Kindern riecht, wie Sie selbst einmal gesagt haben, so dürfe" Sie nicht mit
ihr zusammentreffen. Gehen Sie und seien Sie ein andermal braver!

Als der Graf nach wenigen Minuten über die Straße ging, atmete er
tief auf.

Sie ist klüger als ich, murmelte er, wenigstens zwanzigmal vernünftiger. Das
hätte eine schöne Geschichte geben können!

Er blieb stehen und schlug sich heftig auf die linke Brust. Stille, du da
drinnen! Ich will mich freuen, daß ich so davongekommen bin. Hast dn mich ver¬
standen? Ich null mich freuen!

Aber er ging doch langsam, wie ein ganz alter Mann, seinem Hanse zu und
sah gar uicht freudig aus.

Am folgenden Tage verreiste er ans längere Zeit, und da eines Frau von
Zehleneck nach Dänemark ging, was sie immer that, wenn sie etwas unangenehmes
erlebt hatte, so mochten die Weisen des Städtchens Recht haben, wenn sie behaupteten,
in der Gesellschaft bei Komtesse Jsidore sei etwas sehr merkwürdiges geschehen. Und
dabei kamen sie erst allmählich dahinter, daß Herr Neumann plöhlich von Fresen-
hagen verschwunden war und nichts mehr von sich hören ließ. sein Gut stand
zum Verkauf, und ein reicher Herr aus Bremen erwarb es, ehe die Leute ganz
genau wußten, was eigentlich mit Neumann geschehen war. Sie erfuhren es auch
niemals ganz gennn; nur später, viel später tauchte das Gerücht auf, er sei in
Nebraskn oder noch weiter im Westen Amerikas von einer eifersüchtigen Fran er¬
schossen worden. Aber es war nur ein Gerücht, das niemals seine Bestätigung
gefunden hat, und es ist leicht möglich, daß Herr Neumann noch heute seine
Mischung vou Petroleum und Whisky weiter verschenkt. Jedenfalls sprach man
nur sehr flüchtig vou ihn,, da gerade in dein Frühling, in dem er verschwand, eine
Typhusepidemie in der Stadt ausbrach, die viel von sich reden machte und alle
andern Ereignisse gleichgiltig machte. Besonders in der ärmer" Bevölkerung forderte
die Krankheit ihre Opfer, und die Wohlhabenden packten ihre Koffer und reisten
in aller Stille ab.

Auch an die Baronin gelangte die dringende Aufforderung einer Verwandten,
schnell zu ihr ans ihr Gut'zu kommen , aber Ada telegrnphirte ein kurzes Nein.
Sie hatte die kranken Kinder ihrer Waschfrau zu sich ins Haus genommen. Der
eine kleine Junge, der nach ihrem verstorbnen Manne Rolf hieß, war in Lebens¬
gefahr. Aber sie pflegte ihn wieder gesund, ebenso die andern Kinder; an dein
Tage aber, wo sie wieder allein war und gerade darüber nachdachte, ob sie
nicht uuter die Schriftsteller gehen und das Buch ihres Mannes vollenden sollte,
ergriff sie ein Schwindel. Sie mußte zu Bette gehen, und obgleich sie sich die
beschriebnen Blätter unters Kopfkissen legte, um sie gleich beim Besserwerden zur
Hand zu haben, kam sie doch nicht mehr dazu, sie zu lesen. Sie verlor bald die
Besinnung und starb mich wenigen Tagen, ohne Kampf und ohne Schmerze". Nur
einmal, kurz vor ihrem Tode, griff sie mit einem Ausruf des Schreckens nach den:
kleinen Manuskript unter ihre", Kissen Sie glaubte wohl, es sei nicht mehr da --


Die erste Liede

Nein, ich weis; gar nichts mehr! rief er aufgeregt. Nur eins, nur eins,
daß -

Daß der arme Wurm doch immerhin meine erste Liebe war? unterbrach sie
ihn lachend. Gerade deswegen hätten Sie ihn doch ein wenig schonen müssen.
Schon ans Mitleid mit meiner Dummheit und Schwäche. Und nun muß ich Sie
verabschieden, denn dort kommt meine Waschfrau über die Straße. Sie will zu
mir, ich sehe es an ihrem Gesicht, und da sie mich armen Leuten und nach ihren
vielen Kindern riecht, wie Sie selbst einmal gesagt haben, so dürfe» Sie nicht mit
ihr zusammentreffen. Gehen Sie und seien Sie ein andermal braver!

Als der Graf nach wenigen Minuten über die Straße ging, atmete er
tief auf.

Sie ist klüger als ich, murmelte er, wenigstens zwanzigmal vernünftiger. Das
hätte eine schöne Geschichte geben können!

Er blieb stehen und schlug sich heftig auf die linke Brust. Stille, du da
drinnen! Ich will mich freuen, daß ich so davongekommen bin. Hast dn mich ver¬
standen? Ich null mich freuen!

Aber er ging doch langsam, wie ein ganz alter Mann, seinem Hanse zu und
sah gar uicht freudig aus.

Am folgenden Tage verreiste er ans längere Zeit, und da eines Frau von
Zehleneck nach Dänemark ging, was sie immer that, wenn sie etwas unangenehmes
erlebt hatte, so mochten die Weisen des Städtchens Recht haben, wenn sie behaupteten,
in der Gesellschaft bei Komtesse Jsidore sei etwas sehr merkwürdiges geschehen. Und
dabei kamen sie erst allmählich dahinter, daß Herr Neumann plöhlich von Fresen-
hagen verschwunden war und nichts mehr von sich hören ließ. sein Gut stand
zum Verkauf, und ein reicher Herr aus Bremen erwarb es, ehe die Leute ganz
genau wußten, was eigentlich mit Neumann geschehen war. Sie erfuhren es auch
niemals ganz gennn; nur später, viel später tauchte das Gerücht auf, er sei in
Nebraskn oder noch weiter im Westen Amerikas von einer eifersüchtigen Fran er¬
schossen worden. Aber es war nur ein Gerücht, das niemals seine Bestätigung
gefunden hat, und es ist leicht möglich, daß Herr Neumann noch heute seine
Mischung vou Petroleum und Whisky weiter verschenkt. Jedenfalls sprach man
nur sehr flüchtig vou ihn,, da gerade in dein Frühling, in dem er verschwand, eine
Typhusepidemie in der Stadt ausbrach, die viel von sich reden machte und alle
andern Ereignisse gleichgiltig machte. Besonders in der ärmer» Bevölkerung forderte
die Krankheit ihre Opfer, und die Wohlhabenden packten ihre Koffer und reisten
in aller Stille ab.

Auch an die Baronin gelangte die dringende Aufforderung einer Verwandten,
schnell zu ihr ans ihr Gut'zu kommen , aber Ada telegrnphirte ein kurzes Nein.
Sie hatte die kranken Kinder ihrer Waschfrau zu sich ins Haus genommen. Der
eine kleine Junge, der nach ihrem verstorbnen Manne Rolf hieß, war in Lebens¬
gefahr. Aber sie pflegte ihn wieder gesund, ebenso die andern Kinder; an dein
Tage aber, wo sie wieder allein war und gerade darüber nachdachte, ob sie
nicht uuter die Schriftsteller gehen und das Buch ihres Mannes vollenden sollte,
ergriff sie ein Schwindel. Sie mußte zu Bette gehen, und obgleich sie sich die
beschriebnen Blätter unters Kopfkissen legte, um sie gleich beim Besserwerden zur
Hand zu haben, kam sie doch nicht mehr dazu, sie zu lesen. Sie verlor bald die
Besinnung und starb mich wenigen Tagen, ohne Kampf und ohne Schmerze». Nur
einmal, kurz vor ihrem Tode, griff sie mit einem Ausruf des Schreckens nach den:
kleinen Manuskript unter ihre», Kissen Sie glaubte wohl, es sei nicht mehr da —


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[0639] Die erste Liede Nein, ich weis; gar nichts mehr! rief er aufgeregt. Nur eins, nur eins, daß - Daß der arme Wurm doch immerhin meine erste Liebe war? unterbrach sie ihn lachend. Gerade deswegen hätten Sie ihn doch ein wenig schonen müssen. Schon ans Mitleid mit meiner Dummheit und Schwäche. Und nun muß ich Sie verabschieden, denn dort kommt meine Waschfrau über die Straße. Sie will zu mir, ich sehe es an ihrem Gesicht, und da sie mich armen Leuten und nach ihren vielen Kindern riecht, wie Sie selbst einmal gesagt haben, so dürfe» Sie nicht mit ihr zusammentreffen. Gehen Sie und seien Sie ein andermal braver! Als der Graf nach wenigen Minuten über die Straße ging, atmete er tief auf. Sie ist klüger als ich, murmelte er, wenigstens zwanzigmal vernünftiger. Das hätte eine schöne Geschichte geben können! Er blieb stehen und schlug sich heftig auf die linke Brust. Stille, du da drinnen! Ich will mich freuen, daß ich so davongekommen bin. Hast dn mich ver¬ standen? Ich null mich freuen! Aber er ging doch langsam, wie ein ganz alter Mann, seinem Hanse zu und sah gar uicht freudig aus. Am folgenden Tage verreiste er ans längere Zeit, und da eines Frau von Zehleneck nach Dänemark ging, was sie immer that, wenn sie etwas unangenehmes erlebt hatte, so mochten die Weisen des Städtchens Recht haben, wenn sie behaupteten, in der Gesellschaft bei Komtesse Jsidore sei etwas sehr merkwürdiges geschehen. Und dabei kamen sie erst allmählich dahinter, daß Herr Neumann plöhlich von Fresen- hagen verschwunden war und nichts mehr von sich hören ließ. sein Gut stand zum Verkauf, und ein reicher Herr aus Bremen erwarb es, ehe die Leute ganz genau wußten, was eigentlich mit Neumann geschehen war. Sie erfuhren es auch niemals ganz gennn; nur später, viel später tauchte das Gerücht auf, er sei in Nebraskn oder noch weiter im Westen Amerikas von einer eifersüchtigen Fran er¬ schossen worden. Aber es war nur ein Gerücht, das niemals seine Bestätigung gefunden hat, und es ist leicht möglich, daß Herr Neumann noch heute seine Mischung vou Petroleum und Whisky weiter verschenkt. Jedenfalls sprach man nur sehr flüchtig vou ihn,, da gerade in dein Frühling, in dem er verschwand, eine Typhusepidemie in der Stadt ausbrach, die viel von sich reden machte und alle andern Ereignisse gleichgiltig machte. Besonders in der ärmer» Bevölkerung forderte die Krankheit ihre Opfer, und die Wohlhabenden packten ihre Koffer und reisten in aller Stille ab. Auch an die Baronin gelangte die dringende Aufforderung einer Verwandten, schnell zu ihr ans ihr Gut'zu kommen , aber Ada telegrnphirte ein kurzes Nein. Sie hatte die kranken Kinder ihrer Waschfrau zu sich ins Haus genommen. Der eine kleine Junge, der nach ihrem verstorbnen Manne Rolf hieß, war in Lebens¬ gefahr. Aber sie pflegte ihn wieder gesund, ebenso die andern Kinder; an dein Tage aber, wo sie wieder allein war und gerade darüber nachdachte, ob sie nicht uuter die Schriftsteller gehen und das Buch ihres Mannes vollenden sollte, ergriff sie ein Schwindel. Sie mußte zu Bette gehen, und obgleich sie sich die beschriebnen Blätter unters Kopfkissen legte, um sie gleich beim Besserwerden zur Hand zu haben, kam sie doch nicht mehr dazu, sie zu lesen. Sie verlor bald die Besinnung und starb mich wenigen Tagen, ohne Kampf und ohne Schmerze». Nur einmal, kurz vor ihrem Tode, griff sie mit einem Ausruf des Schreckens nach den: kleinen Manuskript unter ihre», Kissen Sie glaubte wohl, es sei nicht mehr da —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/639>, abgerufen am 25.11.2024.