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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Daniel "Lhodowiecki

stehend, gehend oder reitend mit Bleistift und Skizzenbuch zu erHaschen; davon
berichtet er in seiner Selbstbiographie in schlichten, herzlichen Worten: "Ich
zeichnete nebenher. War ich in Gesellschaft, so setzte ich mich so, daß ich die
Gesellschaft, oder eine Gruppe daraus, oder auch nur eine einzige Figur über¬
sehen konnte, und zeichnete sie so geschwind, oder auch mit so vielem Fleiß,
als es die Zeit oder die Stätigkeit der Personen erlaubte: bat niemals um
Erlaubnis, sondern suchte es so verstohlen wie möglich zu machen, denn wenn
ein Frauenzimmer (und auch zuweilen Mannespersonen) weiß, daß mans zeichnen
will, so will es sich angenehm stellen und verdirbt alles, die Stellung wird
gezwungen. Ich ließ es mich nicht verdrießen, wenn man mir auch, wenn ich
halb fertig war, davonlief; es war doch so viel gewonnen. Was habe ich da
zuweilen für herrliche Gruppen mit Licht und Schatten, mit allen den Vor¬
zügen, die die Natur, wenn sie sich selber überlassen ist, vor allen den so ge¬
rühmten Idealen hat, in mein Taschenbuch eingetragen! Auch des Abends bei
Licht habe ich das oft gethan; kein besseres Studium, um große Partien, Licht
und Schatten hervorzubringen. Ich habe nach Gemälden wenig, nach Gips
etwas, viel mehr nach der Natur gezeichnet. Bei ihr fand ich die meiste Be¬
friedigung, den meisten Nutzen; sie ist meine einzige Lehrerin, meine einzige
Führerin, meine Wohlthäterin. Wo ich sie finde, werfe ich ihr einen Kuß,
wenn es auch nur in Gedanken ist. zu: dem reizenden Mädchen, dem präch¬
tigen Pferde, der herrlichen Eiche, dem Strauche, dem Bauernhause, dem Pa¬
laste, der Abendsonne und dem Mondlicht -- alles ist mir willkommen und
mein Herz und Griffel hüpfen ihm entgegen. Aber wie sehr werde ich be¬
trübt, wenn mit aller Mühe und Sorgfalt ich das nicht zu erreichen vermag,
was sie mir vorzeigt. Dann entschuldige ich mich mit dem so richtigen Aus¬
spruche: All unser Wollen, all unser Streben ist Stückwerk. Und das Bild,
das ich mit meinem in sich selbst gekehrten Auge ein der innern Kugel meiner
Hirnschale sehe, ist ganz anders als das, was meine schwache Hand durch den
unvollkommnen Griffel aufs Papier bringt." Diese Ehrlichkeit des Empfindens,
das demütige Suchen in der Natur und sein unermüdlicher Fleiß haben ihn
an die Spitze der deutschen Zeichenkunst seiner Zeit gerückt und ihr als Führer
den Weg vorwärts zeigen lassen, haben ihm geholfen, daß er, wie sein neuer
Biograph") sagt, seinen Beruf erfüllte, dem Realismus in seiner Kunst zum
Durchbruch zu verhelfen und damit feine Zeitgenossen, die Künstler wie das
Publikum aus dem Bann überlebter Formen zu befreien. Indem er sich zum
Darsteller seines Zeitalters, wie es wirklich war, und also zum treuen Inter¬
preten der mannichfaltigsten Charaktere machte, gab er der Kunst einen neuen
Inhalt von unendlicher Keimfähigkeit. Was andre deutsche Maler und Zeichner



5) Daniel Chodowiecki, Ein Berliner Künstlerleben im achtzehnten Jahrhundert.
Von Wolf gang von Lettin gen. Berlin, G, Grotesche Verlagsbuchhandlung, 1395.
Daniel «Lhodowiecki

stehend, gehend oder reitend mit Bleistift und Skizzenbuch zu erHaschen; davon
berichtet er in seiner Selbstbiographie in schlichten, herzlichen Worten: „Ich
zeichnete nebenher. War ich in Gesellschaft, so setzte ich mich so, daß ich die
Gesellschaft, oder eine Gruppe daraus, oder auch nur eine einzige Figur über¬
sehen konnte, und zeichnete sie so geschwind, oder auch mit so vielem Fleiß,
als es die Zeit oder die Stätigkeit der Personen erlaubte: bat niemals um
Erlaubnis, sondern suchte es so verstohlen wie möglich zu machen, denn wenn
ein Frauenzimmer (und auch zuweilen Mannespersonen) weiß, daß mans zeichnen
will, so will es sich angenehm stellen und verdirbt alles, die Stellung wird
gezwungen. Ich ließ es mich nicht verdrießen, wenn man mir auch, wenn ich
halb fertig war, davonlief; es war doch so viel gewonnen. Was habe ich da
zuweilen für herrliche Gruppen mit Licht und Schatten, mit allen den Vor¬
zügen, die die Natur, wenn sie sich selber überlassen ist, vor allen den so ge¬
rühmten Idealen hat, in mein Taschenbuch eingetragen! Auch des Abends bei
Licht habe ich das oft gethan; kein besseres Studium, um große Partien, Licht
und Schatten hervorzubringen. Ich habe nach Gemälden wenig, nach Gips
etwas, viel mehr nach der Natur gezeichnet. Bei ihr fand ich die meiste Be¬
friedigung, den meisten Nutzen; sie ist meine einzige Lehrerin, meine einzige
Führerin, meine Wohlthäterin. Wo ich sie finde, werfe ich ihr einen Kuß,
wenn es auch nur in Gedanken ist. zu: dem reizenden Mädchen, dem präch¬
tigen Pferde, der herrlichen Eiche, dem Strauche, dem Bauernhause, dem Pa¬
laste, der Abendsonne und dem Mondlicht — alles ist mir willkommen und
mein Herz und Griffel hüpfen ihm entgegen. Aber wie sehr werde ich be¬
trübt, wenn mit aller Mühe und Sorgfalt ich das nicht zu erreichen vermag,
was sie mir vorzeigt. Dann entschuldige ich mich mit dem so richtigen Aus¬
spruche: All unser Wollen, all unser Streben ist Stückwerk. Und das Bild,
das ich mit meinem in sich selbst gekehrten Auge ein der innern Kugel meiner
Hirnschale sehe, ist ganz anders als das, was meine schwache Hand durch den
unvollkommnen Griffel aufs Papier bringt." Diese Ehrlichkeit des Empfindens,
das demütige Suchen in der Natur und sein unermüdlicher Fleiß haben ihn
an die Spitze der deutschen Zeichenkunst seiner Zeit gerückt und ihr als Führer
den Weg vorwärts zeigen lassen, haben ihm geholfen, daß er, wie sein neuer
Biograph") sagt, seinen Beruf erfüllte, dem Realismus in seiner Kunst zum
Durchbruch zu verhelfen und damit feine Zeitgenossen, die Künstler wie das
Publikum aus dem Bann überlebter Formen zu befreien. Indem er sich zum
Darsteller seines Zeitalters, wie es wirklich war, und also zum treuen Inter¬
preten der mannichfaltigsten Charaktere machte, gab er der Kunst einen neuen
Inhalt von unendlicher Keimfähigkeit. Was andre deutsche Maler und Zeichner



5) Daniel Chodowiecki, Ein Berliner Künstlerleben im achtzehnten Jahrhundert.
Von Wolf gang von Lettin gen. Berlin, G, Grotesche Verlagsbuchhandlung, 1395.
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[0614] Daniel «Lhodowiecki stehend, gehend oder reitend mit Bleistift und Skizzenbuch zu erHaschen; davon berichtet er in seiner Selbstbiographie in schlichten, herzlichen Worten: „Ich zeichnete nebenher. War ich in Gesellschaft, so setzte ich mich so, daß ich die Gesellschaft, oder eine Gruppe daraus, oder auch nur eine einzige Figur über¬ sehen konnte, und zeichnete sie so geschwind, oder auch mit so vielem Fleiß, als es die Zeit oder die Stätigkeit der Personen erlaubte: bat niemals um Erlaubnis, sondern suchte es so verstohlen wie möglich zu machen, denn wenn ein Frauenzimmer (und auch zuweilen Mannespersonen) weiß, daß mans zeichnen will, so will es sich angenehm stellen und verdirbt alles, die Stellung wird gezwungen. Ich ließ es mich nicht verdrießen, wenn man mir auch, wenn ich halb fertig war, davonlief; es war doch so viel gewonnen. Was habe ich da zuweilen für herrliche Gruppen mit Licht und Schatten, mit allen den Vor¬ zügen, die die Natur, wenn sie sich selber überlassen ist, vor allen den so ge¬ rühmten Idealen hat, in mein Taschenbuch eingetragen! Auch des Abends bei Licht habe ich das oft gethan; kein besseres Studium, um große Partien, Licht und Schatten hervorzubringen. Ich habe nach Gemälden wenig, nach Gips etwas, viel mehr nach der Natur gezeichnet. Bei ihr fand ich die meiste Be¬ friedigung, den meisten Nutzen; sie ist meine einzige Lehrerin, meine einzige Führerin, meine Wohlthäterin. Wo ich sie finde, werfe ich ihr einen Kuß, wenn es auch nur in Gedanken ist. zu: dem reizenden Mädchen, dem präch¬ tigen Pferde, der herrlichen Eiche, dem Strauche, dem Bauernhause, dem Pa¬ laste, der Abendsonne und dem Mondlicht — alles ist mir willkommen und mein Herz und Griffel hüpfen ihm entgegen. Aber wie sehr werde ich be¬ trübt, wenn mit aller Mühe und Sorgfalt ich das nicht zu erreichen vermag, was sie mir vorzeigt. Dann entschuldige ich mich mit dem so richtigen Aus¬ spruche: All unser Wollen, all unser Streben ist Stückwerk. Und das Bild, das ich mit meinem in sich selbst gekehrten Auge ein der innern Kugel meiner Hirnschale sehe, ist ganz anders als das, was meine schwache Hand durch den unvollkommnen Griffel aufs Papier bringt." Diese Ehrlichkeit des Empfindens, das demütige Suchen in der Natur und sein unermüdlicher Fleiß haben ihn an die Spitze der deutschen Zeichenkunst seiner Zeit gerückt und ihr als Führer den Weg vorwärts zeigen lassen, haben ihm geholfen, daß er, wie sein neuer Biograph") sagt, seinen Beruf erfüllte, dem Realismus in seiner Kunst zum Durchbruch zu verhelfen und damit feine Zeitgenossen, die Künstler wie das Publikum aus dem Bann überlebter Formen zu befreien. Indem er sich zum Darsteller seines Zeitalters, wie es wirklich war, und also zum treuen Inter¬ preten der mannichfaltigsten Charaktere machte, gab er der Kunst einen neuen Inhalt von unendlicher Keimfähigkeit. Was andre deutsche Maler und Zeichner 5) Daniel Chodowiecki, Ein Berliner Künstlerleben im achtzehnten Jahrhundert. Von Wolf gang von Lettin gen. Berlin, G, Grotesche Verlagsbuchhandlung, 1395.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/614>, abgerufen am 01.09.2024.