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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam

Wie sich ein mehr oder weniger gebildeter Muslim heutzutage dem
Christentum und der europäischen Kultur gegenüberstellt, zeigen am besten
zwei Bücher aus der jüngsten Zeit. Im Jahre 1893 erschien wieder einmal
eines jener zahllosen Touristenbücher, in denen die Zustände des Orients,
diesmal Ägyptens, in Bezug auf Wissenschaft, Kultur und Religion vom
Standpunkt eines Mannes, der für fremde Anschauungen nicht den geringsten
Sinn hat, sehr hart beurteilt werden; ich meine das Buch des Duc d'Harcourt,
I/lZMxw se los ZZMxtiöns. Eine Inhaltsangabe des Werkes bitte ich mir
zu erlassen. Viel interessanter und für meine Zwecke von Bedeutung ist die
Gegenschrift eines ägyptischen Muslim, betitelt: LsL l'^Mön.?, rvxonM g.
N. 1e Duo et'Ugreanrt pM I^show-^iriin, oonseillör g. ig, cour ä'^xpel an
pairs. I.o Lairs, 1894. Auch diese Schrift ist kein Meisterstück; aber sie ist
von Bedeutung, weil sie zeigt, wie ein gebildeter Muslim die europäischen
Zustände betrachtet. Kassen Bei, der in Montpellier studirt hat, verallgemeinert
allerdings, da er ganz Europa uach seiner Kenntnis französischen Wesens be¬
urteilt, noch viel stärker als sein Gegner, dem er solch falsches Verallgemeinern
vorwirft. Es zeigt sich bei ihm, wie unmöglich es für einen Orientalen ist,
sich in eine ihm fremde Kultur einzuarbeiten; die ist ihm wesentlich etwas
rein äußerliches. Wie ganz andre Erfahrungen machen wir in dieser Beziehung
gerade mit Armeniern, die sich an unsern Universitäten einfinden! Die scheuen
in der Regel vor keiner Geistesarbeit zurück.

Auch bei Kassems Buch übergehe ich die ersten Kapitel, in denen der Ver¬
fasser mit seinem Gegner leichtes Spiel hat. Mit Rechts kann Kassen darauf
hinweisen, daß die muslimische Gesellschaft vorläufig den Sozialismus nicht
zu fürchten hat. In stärkern Gegensatz zu unsern Anschauungen gerät Kassen
erst vom sechsten bis zum neunten Kapitel, wo er die Frauenfrage behandelt. Da
wirkt es geradezu erheiternd, wenn er die Polygamie, die übrigens aus wirt¬
schaftliche" -- nicht aus sittlichen -- Gründen im Orient selten ist, wieder
mit dem alten Schlagwort verteidigt, sie sei immer noch besser, als daß die
meisten Europäer neben ihrer Frau noch eine Mätresse hielten! Den freien
Umgang der beiden Geschlechter in unsrer Gesellschaft, besonders auf Bällen
und dergleichen, kann er bloß unter dem Gesichtspunkt betrachten, daß der eine
Europäer dem andern seine Frau zum Flirtage, woraus häufig Verführung
und Ehebruch folge, überlasse! Ich will auf die Einzelheiten, die beweisen,
daß der Verfasser von der Mehrzahl der Ehen in Europa keine Ahnung hat,
sowie auf seine Lobpreisungen der muslimischen ehelichen Verhältnisse nicht
weiter eingehen. Es stimmt mit seinem Standpunkt überein, daß Kassen auch
das Eheleben Muhammeds als durchaus normal betrachtet und die vielen
vom Propheten eingegangnen Ehen durch die Politik entschuldigt. ?fut-on
86 llZursr sßriöusöinvnt-, heißt es dann weiter, va'un Komme <züi s'sse äonne
ig. tÄvNö as rvtorinsr ig. roli^ion, los inozur8, les lois an morale kntivr, se


Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam

Wie sich ein mehr oder weniger gebildeter Muslim heutzutage dem
Christentum und der europäischen Kultur gegenüberstellt, zeigen am besten
zwei Bücher aus der jüngsten Zeit. Im Jahre 1893 erschien wieder einmal
eines jener zahllosen Touristenbücher, in denen die Zustände des Orients,
diesmal Ägyptens, in Bezug auf Wissenschaft, Kultur und Religion vom
Standpunkt eines Mannes, der für fremde Anschauungen nicht den geringsten
Sinn hat, sehr hart beurteilt werden; ich meine das Buch des Duc d'Harcourt,
I/lZMxw se los ZZMxtiöns. Eine Inhaltsangabe des Werkes bitte ich mir
zu erlassen. Viel interessanter und für meine Zwecke von Bedeutung ist die
Gegenschrift eines ägyptischen Muslim, betitelt: LsL l'^Mön.?, rvxonM g.
N. 1e Duo et'Ugreanrt pM I^show-^iriin, oonseillör g. ig, cour ä'^xpel an
pairs. I.o Lairs, 1894. Auch diese Schrift ist kein Meisterstück; aber sie ist
von Bedeutung, weil sie zeigt, wie ein gebildeter Muslim die europäischen
Zustände betrachtet. Kassen Bei, der in Montpellier studirt hat, verallgemeinert
allerdings, da er ganz Europa uach seiner Kenntnis französischen Wesens be¬
urteilt, noch viel stärker als sein Gegner, dem er solch falsches Verallgemeinern
vorwirft. Es zeigt sich bei ihm, wie unmöglich es für einen Orientalen ist,
sich in eine ihm fremde Kultur einzuarbeiten; die ist ihm wesentlich etwas
rein äußerliches. Wie ganz andre Erfahrungen machen wir in dieser Beziehung
gerade mit Armeniern, die sich an unsern Universitäten einfinden! Die scheuen
in der Regel vor keiner Geistesarbeit zurück.

Auch bei Kassems Buch übergehe ich die ersten Kapitel, in denen der Ver¬
fasser mit seinem Gegner leichtes Spiel hat. Mit Rechts kann Kassen darauf
hinweisen, daß die muslimische Gesellschaft vorläufig den Sozialismus nicht
zu fürchten hat. In stärkern Gegensatz zu unsern Anschauungen gerät Kassen
erst vom sechsten bis zum neunten Kapitel, wo er die Frauenfrage behandelt. Da
wirkt es geradezu erheiternd, wenn er die Polygamie, die übrigens aus wirt¬
schaftliche» — nicht aus sittlichen — Gründen im Orient selten ist, wieder
mit dem alten Schlagwort verteidigt, sie sei immer noch besser, als daß die
meisten Europäer neben ihrer Frau noch eine Mätresse hielten! Den freien
Umgang der beiden Geschlechter in unsrer Gesellschaft, besonders auf Bällen
und dergleichen, kann er bloß unter dem Gesichtspunkt betrachten, daß der eine
Europäer dem andern seine Frau zum Flirtage, woraus häufig Verführung
und Ehebruch folge, überlasse! Ich will auf die Einzelheiten, die beweisen,
daß der Verfasser von der Mehrzahl der Ehen in Europa keine Ahnung hat,
sowie auf seine Lobpreisungen der muslimischen ehelichen Verhältnisse nicht
weiter eingehen. Es stimmt mit seinem Standpunkt überein, daß Kassen auch
das Eheleben Muhammeds als durchaus normal betrachtet und die vielen
vom Propheten eingegangnen Ehen durch die Politik entschuldigt. ?fut-on
86 llZursr sßriöusöinvnt-, heißt es dann weiter, va'un Komme <züi s'sse äonne
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[0607] Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam Wie sich ein mehr oder weniger gebildeter Muslim heutzutage dem Christentum und der europäischen Kultur gegenüberstellt, zeigen am besten zwei Bücher aus der jüngsten Zeit. Im Jahre 1893 erschien wieder einmal eines jener zahllosen Touristenbücher, in denen die Zustände des Orients, diesmal Ägyptens, in Bezug auf Wissenschaft, Kultur und Religion vom Standpunkt eines Mannes, der für fremde Anschauungen nicht den geringsten Sinn hat, sehr hart beurteilt werden; ich meine das Buch des Duc d'Harcourt, I/lZMxw se los ZZMxtiöns. Eine Inhaltsangabe des Werkes bitte ich mir zu erlassen. Viel interessanter und für meine Zwecke von Bedeutung ist die Gegenschrift eines ägyptischen Muslim, betitelt: LsL l'^Mön.?, rvxonM g. N. 1e Duo et'Ugreanrt pM I^show-^iriin, oonseillör g. ig, cour ä'^xpel an pairs. I.o Lairs, 1894. Auch diese Schrift ist kein Meisterstück; aber sie ist von Bedeutung, weil sie zeigt, wie ein gebildeter Muslim die europäischen Zustände betrachtet. Kassen Bei, der in Montpellier studirt hat, verallgemeinert allerdings, da er ganz Europa uach seiner Kenntnis französischen Wesens be¬ urteilt, noch viel stärker als sein Gegner, dem er solch falsches Verallgemeinern vorwirft. Es zeigt sich bei ihm, wie unmöglich es für einen Orientalen ist, sich in eine ihm fremde Kultur einzuarbeiten; die ist ihm wesentlich etwas rein äußerliches. Wie ganz andre Erfahrungen machen wir in dieser Beziehung gerade mit Armeniern, die sich an unsern Universitäten einfinden! Die scheuen in der Regel vor keiner Geistesarbeit zurück. Auch bei Kassems Buch übergehe ich die ersten Kapitel, in denen der Ver¬ fasser mit seinem Gegner leichtes Spiel hat. Mit Rechts kann Kassen darauf hinweisen, daß die muslimische Gesellschaft vorläufig den Sozialismus nicht zu fürchten hat. In stärkern Gegensatz zu unsern Anschauungen gerät Kassen erst vom sechsten bis zum neunten Kapitel, wo er die Frauenfrage behandelt. Da wirkt es geradezu erheiternd, wenn er die Polygamie, die übrigens aus wirt¬ schaftliche» — nicht aus sittlichen — Gründen im Orient selten ist, wieder mit dem alten Schlagwort verteidigt, sie sei immer noch besser, als daß die meisten Europäer neben ihrer Frau noch eine Mätresse hielten! Den freien Umgang der beiden Geschlechter in unsrer Gesellschaft, besonders auf Bällen und dergleichen, kann er bloß unter dem Gesichtspunkt betrachten, daß der eine Europäer dem andern seine Frau zum Flirtage, woraus häufig Verführung und Ehebruch folge, überlasse! Ich will auf die Einzelheiten, die beweisen, daß der Verfasser von der Mehrzahl der Ehen in Europa keine Ahnung hat, sowie auf seine Lobpreisungen der muslimischen ehelichen Verhältnisse nicht weiter eingehen. Es stimmt mit seinem Standpunkt überein, daß Kassen auch das Eheleben Muhammeds als durchaus normal betrachtet und die vielen vom Propheten eingegangnen Ehen durch die Politik entschuldigt. ?fut-on 86 llZursr sßriöusöinvnt-, heißt es dann weiter, va'un Komme <züi s'sse äonne ig. tÄvNö as rvtorinsr ig. roli^ion, los inozur8, les lois an morale kntivr, se

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/607>, abgerufen am 26.11.2024.