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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam

unterstützten, und dadurch, daß sie alle fähigern Eingebornen unterdrückten.
Das war ungeschminktes Turkmenen; eine ähnliche Politik ist im Grunde heute
noch maßgebend. Wie geschickt haben die Türken lange Zeit in Syrien die
Feindschaft zwischen den Drusen und den Maroniten benutzt! im Jahre 1860
sind sie selbst nicht davor zurückgeschreckt, den Drusen das Signal zur Ermordung
der Christen in Damaskus zu geben, ja sich daran zu beteiligen. Daß infolge
der damaligen Einmischung Frankreichs der Libanon einen christlichen Pascha
erhielt, hat in Verbindung mit der Zerbrockluug der europäischen Türkei die
Ansprüche der Christen gesteigert. Von vornherein für unberechtigt kann man
ihre Ansprüche nicht erklären; jedenfalls bezeugen sie, daß es der Türkei trotz
aller Versprechungen und teilweise vvllzognen Reformen nicht gelungen ist, die
christliche Bevölkerung, von einzelnen Personen abgesehen, an sich zu ketten.
Noch immer kennt der Orientale kein Vaterland, sondern er hat bloß An¬
hänglichkeit an seine besondre Nationalität oder seine Religivnsgenossenschaft.
Daher wäre das Bestreben, eine nationale Partei zu schassen, aussichtslos,
besonders solange sich die Fürsorge für das wirtschaftliche Wohlergehen der
Bevölkerung auf das Notwendigste beschränkt. Die spärlichen Eisenbahnen, die
die Türkei bis heute aufweist, sind den Europäern zu verdanken; die wenigen
Straßen, die in der Nähe der Küsten angelegt worden sind, beweisen für ein
Reich von so großer Ausdehnung uicht viel. Unter den Augen europäischer
Konsulate ist in größern Verkehrsmittelpuukteu endlich einmal eine Spur von
Sanitätspolizei zu verspüren. Die Verpachtung der Steuern hat aufgehört;
aber mit der Steuererhebung sind immer noch Übelstände verknüpft, die den
wirtschaftlichen Aufschwung hindern. Während die Sicherheit durch festere
Polizeimaßregeln zugenommen hat, ist andrerseits eine stramme Zensur ein¬
geführt worden, die ohne absolut zuverlässige Beamte bloß lächerlich ist. Der
Glaube, daß die Regierung einst den Bodenreichtum, überhaupt die natürlichen
Hilfsquellen des Landes, deren alleinige Ausbeutung sie sich ängstlich vor¬
zubehalten sucht, ohne fremde Hilfe zu heben imstande sein werde, ist nirgends
stark. Daher rührt die Unzufriedenheit in allen Teilen des türkischen Reichs,
es ist kein Wunder, daß sie sich in Schlägereien Lust macht. Gerade die viel¬
fach bloß angebahnten, aber nicht mit Energie fortgesetzten und halb oder in
falscher Weise ausgeführten Reformen regen die Bevölkerung auf und ver¬
schärfen uicht selten die vorhandnen Gegensätze. Ein moderner Staat könnte
ja die Türkei erst werden, wenn sie dem Grundsatz, daß ihr Recht auf dem
Islam aufgebaut sein müsse, völlig entsagte; damit würde sie aber die Musliueu
tief verletzen. Längst ist z. B. die Zuziehung der Christen zum Militärdienst,
sodaß diese auch hierin dieselben Pflichten und Rechte wie ihre muslimischen
Mitbürger hätten, beschlossene Sache und im Haiti Humajuu von 1856 ver¬
brieft. Die alte Anschauung aber, daß jeder von der Türkei geführte Krieg
ein Dschihad, d. h. ein Glaubenskrieg gegen die Ungläubigen, insbesondre die


Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam

unterstützten, und dadurch, daß sie alle fähigern Eingebornen unterdrückten.
Das war ungeschminktes Turkmenen; eine ähnliche Politik ist im Grunde heute
noch maßgebend. Wie geschickt haben die Türken lange Zeit in Syrien die
Feindschaft zwischen den Drusen und den Maroniten benutzt! im Jahre 1860
sind sie selbst nicht davor zurückgeschreckt, den Drusen das Signal zur Ermordung
der Christen in Damaskus zu geben, ja sich daran zu beteiligen. Daß infolge
der damaligen Einmischung Frankreichs der Libanon einen christlichen Pascha
erhielt, hat in Verbindung mit der Zerbrockluug der europäischen Türkei die
Ansprüche der Christen gesteigert. Von vornherein für unberechtigt kann man
ihre Ansprüche nicht erklären; jedenfalls bezeugen sie, daß es der Türkei trotz
aller Versprechungen und teilweise vvllzognen Reformen nicht gelungen ist, die
christliche Bevölkerung, von einzelnen Personen abgesehen, an sich zu ketten.
Noch immer kennt der Orientale kein Vaterland, sondern er hat bloß An¬
hänglichkeit an seine besondre Nationalität oder seine Religivnsgenossenschaft.
Daher wäre das Bestreben, eine nationale Partei zu schassen, aussichtslos,
besonders solange sich die Fürsorge für das wirtschaftliche Wohlergehen der
Bevölkerung auf das Notwendigste beschränkt. Die spärlichen Eisenbahnen, die
die Türkei bis heute aufweist, sind den Europäern zu verdanken; die wenigen
Straßen, die in der Nähe der Küsten angelegt worden sind, beweisen für ein
Reich von so großer Ausdehnung uicht viel. Unter den Augen europäischer
Konsulate ist in größern Verkehrsmittelpuukteu endlich einmal eine Spur von
Sanitätspolizei zu verspüren. Die Verpachtung der Steuern hat aufgehört;
aber mit der Steuererhebung sind immer noch Übelstände verknüpft, die den
wirtschaftlichen Aufschwung hindern. Während die Sicherheit durch festere
Polizeimaßregeln zugenommen hat, ist andrerseits eine stramme Zensur ein¬
geführt worden, die ohne absolut zuverlässige Beamte bloß lächerlich ist. Der
Glaube, daß die Regierung einst den Bodenreichtum, überhaupt die natürlichen
Hilfsquellen des Landes, deren alleinige Ausbeutung sie sich ängstlich vor¬
zubehalten sucht, ohne fremde Hilfe zu heben imstande sein werde, ist nirgends
stark. Daher rührt die Unzufriedenheit in allen Teilen des türkischen Reichs,
es ist kein Wunder, daß sie sich in Schlägereien Lust macht. Gerade die viel¬
fach bloß angebahnten, aber nicht mit Energie fortgesetzten und halb oder in
falscher Weise ausgeführten Reformen regen die Bevölkerung auf und ver¬
schärfen uicht selten die vorhandnen Gegensätze. Ein moderner Staat könnte
ja die Türkei erst werden, wenn sie dem Grundsatz, daß ihr Recht auf dem
Islam aufgebaut sein müsse, völlig entsagte; damit würde sie aber die Musliueu
tief verletzen. Längst ist z. B. die Zuziehung der Christen zum Militärdienst,
sodaß diese auch hierin dieselben Pflichten und Rechte wie ihre muslimischen
Mitbürger hätten, beschlossene Sache und im Haiti Humajuu von 1856 ver¬
brieft. Die alte Anschauung aber, daß jeder von der Türkei geführte Krieg
ein Dschihad, d. h. ein Glaubenskrieg gegen die Ungläubigen, insbesondre die


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[0604] Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam unterstützten, und dadurch, daß sie alle fähigern Eingebornen unterdrückten. Das war ungeschminktes Turkmenen; eine ähnliche Politik ist im Grunde heute noch maßgebend. Wie geschickt haben die Türken lange Zeit in Syrien die Feindschaft zwischen den Drusen und den Maroniten benutzt! im Jahre 1860 sind sie selbst nicht davor zurückgeschreckt, den Drusen das Signal zur Ermordung der Christen in Damaskus zu geben, ja sich daran zu beteiligen. Daß infolge der damaligen Einmischung Frankreichs der Libanon einen christlichen Pascha erhielt, hat in Verbindung mit der Zerbrockluug der europäischen Türkei die Ansprüche der Christen gesteigert. Von vornherein für unberechtigt kann man ihre Ansprüche nicht erklären; jedenfalls bezeugen sie, daß es der Türkei trotz aller Versprechungen und teilweise vvllzognen Reformen nicht gelungen ist, die christliche Bevölkerung, von einzelnen Personen abgesehen, an sich zu ketten. Noch immer kennt der Orientale kein Vaterland, sondern er hat bloß An¬ hänglichkeit an seine besondre Nationalität oder seine Religivnsgenossenschaft. Daher wäre das Bestreben, eine nationale Partei zu schassen, aussichtslos, besonders solange sich die Fürsorge für das wirtschaftliche Wohlergehen der Bevölkerung auf das Notwendigste beschränkt. Die spärlichen Eisenbahnen, die die Türkei bis heute aufweist, sind den Europäern zu verdanken; die wenigen Straßen, die in der Nähe der Küsten angelegt worden sind, beweisen für ein Reich von so großer Ausdehnung uicht viel. Unter den Augen europäischer Konsulate ist in größern Verkehrsmittelpuukteu endlich einmal eine Spur von Sanitätspolizei zu verspüren. Die Verpachtung der Steuern hat aufgehört; aber mit der Steuererhebung sind immer noch Übelstände verknüpft, die den wirtschaftlichen Aufschwung hindern. Während die Sicherheit durch festere Polizeimaßregeln zugenommen hat, ist andrerseits eine stramme Zensur ein¬ geführt worden, die ohne absolut zuverlässige Beamte bloß lächerlich ist. Der Glaube, daß die Regierung einst den Bodenreichtum, überhaupt die natürlichen Hilfsquellen des Landes, deren alleinige Ausbeutung sie sich ängstlich vor¬ zubehalten sucht, ohne fremde Hilfe zu heben imstande sein werde, ist nirgends stark. Daher rührt die Unzufriedenheit in allen Teilen des türkischen Reichs, es ist kein Wunder, daß sie sich in Schlägereien Lust macht. Gerade die viel¬ fach bloß angebahnten, aber nicht mit Energie fortgesetzten und halb oder in falscher Weise ausgeführten Reformen regen die Bevölkerung auf und ver¬ schärfen uicht selten die vorhandnen Gegensätze. Ein moderner Staat könnte ja die Türkei erst werden, wenn sie dem Grundsatz, daß ihr Recht auf dem Islam aufgebaut sein müsse, völlig entsagte; damit würde sie aber die Musliueu tief verletzen. Längst ist z. B. die Zuziehung der Christen zum Militärdienst, sodaß diese auch hierin dieselben Pflichten und Rechte wie ihre muslimischen Mitbürger hätten, beschlossene Sache und im Haiti Humajuu von 1856 ver¬ brieft. Die alte Anschauung aber, daß jeder von der Türkei geführte Krieg ein Dschihad, d. h. ein Glaubenskrieg gegen die Ungläubigen, insbesondre die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/604>, abgerufen am 01.09.2024.