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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam

pciische Missionare wirken und Schulen blühen, ist dieser Unterschied augen¬
fällig; nicht nur machen sich die verschiednen christlichen Sekten in Bezug auf
die Schulen in einer Weise Konkurrenz, die bloß der allgemeinen Bildung zu
gute kommt, sondern selbst die Muslimen haben sich diesem wohlthätigen
Einfluß nicht entziehen können. Übrigens ist auch von der Regierung für
Schulunterricht einiges gethan worden. Auch in Handel und Gewerbe treten
die Christen hervor, sie zeigen häufig mehr Unternehmungsgeist als ihre mus¬
limischen Mitbürger; ob sie sich durch größere Ehrlichkeit vor ihnen aus¬
zeichnen, muß freilich dahingestellt bleiben. Man wird auch nicht verlangen
können, daß die Christen, die zu Wohlstand gelangt sind, die geistigen und sitt¬
lichen Fähigkeiten haben, ihren Reichtum gut anzuwenden. Bei vielen Christen
ist jedoch Genügsamkeit und Sparsamkeit ebenso zu finden, wie bei den Türken.
Das gilt namentlich auch von den Armeniern; häufig verlassen sie zeitweilig
ihr unfruchtbares Verglcmd, um sich in der asiatischen und europäischen Türkei
einiges Geld zu erwerben. Selbst der armenische Lastträger, der um geringe
Vergütung zu arbeiten gewohnt ist, kann übrigens in der Regel lesen und
schreiben; des Abends sieht man ihn mit einer armenischen Zeitung beschäftigt.
Überhaupt aber werden sich die orientalischen Christen schon bei der zuneh¬
menden Berührung mit abendländischen Glaubensgenossen, der Katholik dnrch
die Verbindung mit Rom, der Anhänger der orthodoxen griechischen Kirche
dnrch die Verbindung mit Griechenland und Rußland, immer stärker des Zu¬
sammenhangs mit der europäischen Christenheit bewußt. Ebenso wissen die
Protestanten, unter denen amerikanische, englische und deutsche Missionare
wirken, viel besser Bescheid, wie es außerhalb der Türkei zugeht, als die Mus¬
limen. Und doch sind diese die herrschende Nasse, die Träger des Staats. Es
kann nicht ausbleiben, daß sie darum vielfach ihren Grimm gegen die auf¬
strebenden, ihnen wirtschaftlich so oft überlegnen Christen nur schlecht verhehlen
können. Natürlich ist der Haß und Neid gegen die im Lande angesessenen
Europäer im Grunde ebenso stark; da diese jedoch aber durch ihre Konsuln
beschützt werden, kann er sich gegen sie nicht Luft machen und ladet sich mehr
auf die eingebornen Christen ab. Diese sind dagegen geneigt, wo es nur
immer angeht, die Hilfe der europäischen Konsulate in Anspruch zu nehmen.

Es ist somit kein erfreuliches Bild, das die sozialen Verhältnisse der
asiatischen Provinzen des türkischen Reichs zeigen: mit den gewöhnlichen
Mitteln wird die Regierung kaum Meister über ihre Unterthanen. In einem
lehrreichen französischen Werke über Algier (Nocmrs, vouwmss se wstitMons
ciös wcliAMks as l'^Igvris xg,r Ils I^ieutsnÄnt-Loloneä Villot, 3 sei. Z?alis, 1888)
ist auch von der Türkenherrschaft in Algier die Rede; da wird geschildert, wie
trefflich es die Türken verstanden haben, ihre Herrschaft auszuüben, ohne für
die beherrschten Völker irgend etwas nützliches zu schaffen, dadurch, daß sie
die Zwietracht der Eingebornen benutzten und bald diese, bald jene Partei


Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam

pciische Missionare wirken und Schulen blühen, ist dieser Unterschied augen¬
fällig; nicht nur machen sich die verschiednen christlichen Sekten in Bezug auf
die Schulen in einer Weise Konkurrenz, die bloß der allgemeinen Bildung zu
gute kommt, sondern selbst die Muslimen haben sich diesem wohlthätigen
Einfluß nicht entziehen können. Übrigens ist auch von der Regierung für
Schulunterricht einiges gethan worden. Auch in Handel und Gewerbe treten
die Christen hervor, sie zeigen häufig mehr Unternehmungsgeist als ihre mus¬
limischen Mitbürger; ob sie sich durch größere Ehrlichkeit vor ihnen aus¬
zeichnen, muß freilich dahingestellt bleiben. Man wird auch nicht verlangen
können, daß die Christen, die zu Wohlstand gelangt sind, die geistigen und sitt¬
lichen Fähigkeiten haben, ihren Reichtum gut anzuwenden. Bei vielen Christen
ist jedoch Genügsamkeit und Sparsamkeit ebenso zu finden, wie bei den Türken.
Das gilt namentlich auch von den Armeniern; häufig verlassen sie zeitweilig
ihr unfruchtbares Verglcmd, um sich in der asiatischen und europäischen Türkei
einiges Geld zu erwerben. Selbst der armenische Lastträger, der um geringe
Vergütung zu arbeiten gewohnt ist, kann übrigens in der Regel lesen und
schreiben; des Abends sieht man ihn mit einer armenischen Zeitung beschäftigt.
Überhaupt aber werden sich die orientalischen Christen schon bei der zuneh¬
menden Berührung mit abendländischen Glaubensgenossen, der Katholik dnrch
die Verbindung mit Rom, der Anhänger der orthodoxen griechischen Kirche
dnrch die Verbindung mit Griechenland und Rußland, immer stärker des Zu¬
sammenhangs mit der europäischen Christenheit bewußt. Ebenso wissen die
Protestanten, unter denen amerikanische, englische und deutsche Missionare
wirken, viel besser Bescheid, wie es außerhalb der Türkei zugeht, als die Mus¬
limen. Und doch sind diese die herrschende Nasse, die Träger des Staats. Es
kann nicht ausbleiben, daß sie darum vielfach ihren Grimm gegen die auf¬
strebenden, ihnen wirtschaftlich so oft überlegnen Christen nur schlecht verhehlen
können. Natürlich ist der Haß und Neid gegen die im Lande angesessenen
Europäer im Grunde ebenso stark; da diese jedoch aber durch ihre Konsuln
beschützt werden, kann er sich gegen sie nicht Luft machen und ladet sich mehr
auf die eingebornen Christen ab. Diese sind dagegen geneigt, wo es nur
immer angeht, die Hilfe der europäischen Konsulate in Anspruch zu nehmen.

Es ist somit kein erfreuliches Bild, das die sozialen Verhältnisse der
asiatischen Provinzen des türkischen Reichs zeigen: mit den gewöhnlichen
Mitteln wird die Regierung kaum Meister über ihre Unterthanen. In einem
lehrreichen französischen Werke über Algier (Nocmrs, vouwmss se wstitMons
ciös wcliAMks as l'^Igvris xg,r Ils I^ieutsnÄnt-Loloneä Villot, 3 sei. Z?alis, 1888)
ist auch von der Türkenherrschaft in Algier die Rede; da wird geschildert, wie
trefflich es die Türken verstanden haben, ihre Herrschaft auszuüben, ohne für
die beherrschten Völker irgend etwas nützliches zu schaffen, dadurch, daß sie
die Zwietracht der Eingebornen benutzten und bald diese, bald jene Partei


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[0603] Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam pciische Missionare wirken und Schulen blühen, ist dieser Unterschied augen¬ fällig; nicht nur machen sich die verschiednen christlichen Sekten in Bezug auf die Schulen in einer Weise Konkurrenz, die bloß der allgemeinen Bildung zu gute kommt, sondern selbst die Muslimen haben sich diesem wohlthätigen Einfluß nicht entziehen können. Übrigens ist auch von der Regierung für Schulunterricht einiges gethan worden. Auch in Handel und Gewerbe treten die Christen hervor, sie zeigen häufig mehr Unternehmungsgeist als ihre mus¬ limischen Mitbürger; ob sie sich durch größere Ehrlichkeit vor ihnen aus¬ zeichnen, muß freilich dahingestellt bleiben. Man wird auch nicht verlangen können, daß die Christen, die zu Wohlstand gelangt sind, die geistigen und sitt¬ lichen Fähigkeiten haben, ihren Reichtum gut anzuwenden. Bei vielen Christen ist jedoch Genügsamkeit und Sparsamkeit ebenso zu finden, wie bei den Türken. Das gilt namentlich auch von den Armeniern; häufig verlassen sie zeitweilig ihr unfruchtbares Verglcmd, um sich in der asiatischen und europäischen Türkei einiges Geld zu erwerben. Selbst der armenische Lastträger, der um geringe Vergütung zu arbeiten gewohnt ist, kann übrigens in der Regel lesen und schreiben; des Abends sieht man ihn mit einer armenischen Zeitung beschäftigt. Überhaupt aber werden sich die orientalischen Christen schon bei der zuneh¬ menden Berührung mit abendländischen Glaubensgenossen, der Katholik dnrch die Verbindung mit Rom, der Anhänger der orthodoxen griechischen Kirche dnrch die Verbindung mit Griechenland und Rußland, immer stärker des Zu¬ sammenhangs mit der europäischen Christenheit bewußt. Ebenso wissen die Protestanten, unter denen amerikanische, englische und deutsche Missionare wirken, viel besser Bescheid, wie es außerhalb der Türkei zugeht, als die Mus¬ limen. Und doch sind diese die herrschende Nasse, die Träger des Staats. Es kann nicht ausbleiben, daß sie darum vielfach ihren Grimm gegen die auf¬ strebenden, ihnen wirtschaftlich so oft überlegnen Christen nur schlecht verhehlen können. Natürlich ist der Haß und Neid gegen die im Lande angesessenen Europäer im Grunde ebenso stark; da diese jedoch aber durch ihre Konsuln beschützt werden, kann er sich gegen sie nicht Luft machen und ladet sich mehr auf die eingebornen Christen ab. Diese sind dagegen geneigt, wo es nur immer angeht, die Hilfe der europäischen Konsulate in Anspruch zu nehmen. Es ist somit kein erfreuliches Bild, das die sozialen Verhältnisse der asiatischen Provinzen des türkischen Reichs zeigen: mit den gewöhnlichen Mitteln wird die Regierung kaum Meister über ihre Unterthanen. In einem lehrreichen französischen Werke über Algier (Nocmrs, vouwmss se wstitMons ciös wcliAMks as l'^Igvris xg,r Ils I^ieutsnÄnt-Loloneä Villot, 3 sei. Z?alis, 1888) ist auch von der Türkenherrschaft in Algier die Rede; da wird geschildert, wie trefflich es die Türken verstanden haben, ihre Herrschaft auszuüben, ohne für die beherrschten Völker irgend etwas nützliches zu schaffen, dadurch, daß sie die Zwietracht der Eingebornen benutzten und bald diese, bald jene Partei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/603>, abgerufen am 01.09.2024.