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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Englands Macht

Nach le Zuge beträgt das stehende Heer Englands im Kriegsfalle
222151 Mann. Davon gehen für Ägypten, Indien und die übrigen Kolonien
114341 Mann ab, sodaß für die Heimat 107 810 Mann verfügbar bleiben.
Nimmt man an, daß die Verteidigung der Heimat den Milizen, der Frei¬
willigen und der Ieomcmry, die bekanntlich nicht ohne ihre Zustimmung außer¬
halb Englands zu dienen brauchen, überlasten bleibt, so wären für einen Krieg
im Auslande diese 107810 Mann nebst Armee- und Milizreserve, zusammen
114260, im ganzen 222070 Mann verfügbar. Davon gehen aber bei einer
Mobilmachung mindestens 10 Prozent ab, es blieben also 199863 Mann,
le Inge sagt, daß man in England sogar 15 Prozent bei einer Mobilmachung
abrechnen müsse, daß ferner im Falle eines Krieges mit dem Auslande auch
die auswärtigen Stationen verstärkt werden müßten, daß dazu aber, wenn
man nun wirklich die nötigen Mannschaften als vorhanden annehmen wolle,
hinsichtlich deren Ausrüstung "nicht weniger als alles" fehle. Bisher sei
dafür auch nicht das kleinste Stück vorgesehen, noch irgendein Organisations¬
plan ins Auge gefaßt worden. Es fehlt also an Truppen, fehlt an Aus¬
rüstung, es sehlt an den so notwendigen Trains -- Train besteht überhaupt
erst seit 1870 in England --, und endlich ist die Disziplin, wie ja bis in die
letzte Zeit vielfach durch die Zeitungen bekannt geworden ist, höchst mangel¬
haft. Trunkenheit und Desertion übersteigen das Maß dessen, was in dieser
Beziehung bei andern Heeren vorkommt. Eine Zusammenfassung der Heeres¬
teile in höhere Verbände, wie Brigaden, Divisionen und Armeekorps, besteht
bis auf den heutigen Tag im Frieden nicht. Diese Verbände werden erst bei
der Mobilmachung gebildet. Die Truppe kennt also im Kriegsfalle ihre Kom¬
mandeure nicht, der Kommandeur kennt die Truppe nicht, nicht einmal seinen
eignen Stab. Was das heißt, haben die süddeutschen kleinen Staaten im
Mainfeldzuge 1866 zur Genüge erfahren. Die englischen Manöver erstrecken
sich kaum auf das, was wir Divisionsmanöver nennen. Daher wohne" stets
so viel englische Offiziere den deutschen Herbstübungen und denen andrer
europäischen Großstaaten bei. Die französische Zeitschrift novus co oorols
miliwirs vom Januar 1896 hebt diesen Umstand ausdrücklich hervor und er¬
klärt ihn nur damit, daß die englischen Offiziere eben zu Hause nichts in der
Führung großer Verbände lernen können, le Inges Buch bestätigt also im
großen und ganzen, was Churchill schon vor zehn Jahren gesagt hat.

Erst in den letzten Jahren hat man in England begonnen, ein Gefühl
für die Minderwertigkeit der eignen Wehrkräfte zu bekommen. Aber dieses
Gefühl ist noch nicht zu der Stärke gediehen, daß die allgemeine Wehrpflicht
eingeführt würde. Und doch kann kein Staat auf die Dauer bestehen, wenn
er nicht das Schwert in die eigne Hand nimmt, um seiue Grenzen zu ver¬
teidigen. Noch weniger aber kann ein Staat, dessen Wehrverfasfuug zu Lande
und zur See ans dem Werbesystem beruht, so anmaßende Forderungen stellen,


Englands Macht

Nach le Zuge beträgt das stehende Heer Englands im Kriegsfalle
222151 Mann. Davon gehen für Ägypten, Indien und die übrigen Kolonien
114341 Mann ab, sodaß für die Heimat 107 810 Mann verfügbar bleiben.
Nimmt man an, daß die Verteidigung der Heimat den Milizen, der Frei¬
willigen und der Ieomcmry, die bekanntlich nicht ohne ihre Zustimmung außer¬
halb Englands zu dienen brauchen, überlasten bleibt, so wären für einen Krieg
im Auslande diese 107810 Mann nebst Armee- und Milizreserve, zusammen
114260, im ganzen 222070 Mann verfügbar. Davon gehen aber bei einer
Mobilmachung mindestens 10 Prozent ab, es blieben also 199863 Mann,
le Inge sagt, daß man in England sogar 15 Prozent bei einer Mobilmachung
abrechnen müsse, daß ferner im Falle eines Krieges mit dem Auslande auch
die auswärtigen Stationen verstärkt werden müßten, daß dazu aber, wenn
man nun wirklich die nötigen Mannschaften als vorhanden annehmen wolle,
hinsichtlich deren Ausrüstung „nicht weniger als alles" fehle. Bisher sei
dafür auch nicht das kleinste Stück vorgesehen, noch irgendein Organisations¬
plan ins Auge gefaßt worden. Es fehlt also an Truppen, fehlt an Aus¬
rüstung, es sehlt an den so notwendigen Trains — Train besteht überhaupt
erst seit 1870 in England —, und endlich ist die Disziplin, wie ja bis in die
letzte Zeit vielfach durch die Zeitungen bekannt geworden ist, höchst mangel¬
haft. Trunkenheit und Desertion übersteigen das Maß dessen, was in dieser
Beziehung bei andern Heeren vorkommt. Eine Zusammenfassung der Heeres¬
teile in höhere Verbände, wie Brigaden, Divisionen und Armeekorps, besteht
bis auf den heutigen Tag im Frieden nicht. Diese Verbände werden erst bei
der Mobilmachung gebildet. Die Truppe kennt also im Kriegsfalle ihre Kom¬
mandeure nicht, der Kommandeur kennt die Truppe nicht, nicht einmal seinen
eignen Stab. Was das heißt, haben die süddeutschen kleinen Staaten im
Mainfeldzuge 1866 zur Genüge erfahren. Die englischen Manöver erstrecken
sich kaum auf das, was wir Divisionsmanöver nennen. Daher wohne» stets
so viel englische Offiziere den deutschen Herbstübungen und denen andrer
europäischen Großstaaten bei. Die französische Zeitschrift novus co oorols
miliwirs vom Januar 1896 hebt diesen Umstand ausdrücklich hervor und er¬
klärt ihn nur damit, daß die englischen Offiziere eben zu Hause nichts in der
Führung großer Verbände lernen können, le Inges Buch bestätigt also im
großen und ganzen, was Churchill schon vor zehn Jahren gesagt hat.

Erst in den letzten Jahren hat man in England begonnen, ein Gefühl
für die Minderwertigkeit der eignen Wehrkräfte zu bekommen. Aber dieses
Gefühl ist noch nicht zu der Stärke gediehen, daß die allgemeine Wehrpflicht
eingeführt würde. Und doch kann kein Staat auf die Dauer bestehen, wenn
er nicht das Schwert in die eigne Hand nimmt, um seiue Grenzen zu ver¬
teidigen. Noch weniger aber kann ein Staat, dessen Wehrverfasfuug zu Lande
und zur See ans dem Werbesystem beruht, so anmaßende Forderungen stellen,


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[0560] Englands Macht Nach le Zuge beträgt das stehende Heer Englands im Kriegsfalle 222151 Mann. Davon gehen für Ägypten, Indien und die übrigen Kolonien 114341 Mann ab, sodaß für die Heimat 107 810 Mann verfügbar bleiben. Nimmt man an, daß die Verteidigung der Heimat den Milizen, der Frei¬ willigen und der Ieomcmry, die bekanntlich nicht ohne ihre Zustimmung außer¬ halb Englands zu dienen brauchen, überlasten bleibt, so wären für einen Krieg im Auslande diese 107810 Mann nebst Armee- und Milizreserve, zusammen 114260, im ganzen 222070 Mann verfügbar. Davon gehen aber bei einer Mobilmachung mindestens 10 Prozent ab, es blieben also 199863 Mann, le Inge sagt, daß man in England sogar 15 Prozent bei einer Mobilmachung abrechnen müsse, daß ferner im Falle eines Krieges mit dem Auslande auch die auswärtigen Stationen verstärkt werden müßten, daß dazu aber, wenn man nun wirklich die nötigen Mannschaften als vorhanden annehmen wolle, hinsichtlich deren Ausrüstung „nicht weniger als alles" fehle. Bisher sei dafür auch nicht das kleinste Stück vorgesehen, noch irgendein Organisations¬ plan ins Auge gefaßt worden. Es fehlt also an Truppen, fehlt an Aus¬ rüstung, es sehlt an den so notwendigen Trains — Train besteht überhaupt erst seit 1870 in England —, und endlich ist die Disziplin, wie ja bis in die letzte Zeit vielfach durch die Zeitungen bekannt geworden ist, höchst mangel¬ haft. Trunkenheit und Desertion übersteigen das Maß dessen, was in dieser Beziehung bei andern Heeren vorkommt. Eine Zusammenfassung der Heeres¬ teile in höhere Verbände, wie Brigaden, Divisionen und Armeekorps, besteht bis auf den heutigen Tag im Frieden nicht. Diese Verbände werden erst bei der Mobilmachung gebildet. Die Truppe kennt also im Kriegsfalle ihre Kom¬ mandeure nicht, der Kommandeur kennt die Truppe nicht, nicht einmal seinen eignen Stab. Was das heißt, haben die süddeutschen kleinen Staaten im Mainfeldzuge 1866 zur Genüge erfahren. Die englischen Manöver erstrecken sich kaum auf das, was wir Divisionsmanöver nennen. Daher wohne» stets so viel englische Offiziere den deutschen Herbstübungen und denen andrer europäischen Großstaaten bei. Die französische Zeitschrift novus co oorols miliwirs vom Januar 1896 hebt diesen Umstand ausdrücklich hervor und er¬ klärt ihn nur damit, daß die englischen Offiziere eben zu Hause nichts in der Führung großer Verbände lernen können, le Inges Buch bestätigt also im großen und ganzen, was Churchill schon vor zehn Jahren gesagt hat. Erst in den letzten Jahren hat man in England begonnen, ein Gefühl für die Minderwertigkeit der eignen Wehrkräfte zu bekommen. Aber dieses Gefühl ist noch nicht zu der Stärke gediehen, daß die allgemeine Wehrpflicht eingeführt würde. Und doch kann kein Staat auf die Dauer bestehen, wenn er nicht das Schwert in die eigne Hand nimmt, um seiue Grenzen zu ver¬ teidigen. Noch weniger aber kann ein Staat, dessen Wehrverfasfuug zu Lande und zur See ans dem Werbesystem beruht, so anmaßende Forderungen stellen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/560>, abgerufen am 01.09.2024.