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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Englands Macht

lich unvorbereitet dastehe. Am Schlüsse ruft er aus: "Können wir angesichts
der gegebnen Schilderung unsrer militärischen Lage, deren Nichtigkeit ich gegen
jedermann aufrecht erhalte, von irgendeinem Einfluß Englands im Rate
Europas sprechen? Haltet ihr es nicht für äußerste und offenbare Narrheit,
wenn ein Minister -- wenn es überhaupt einen solchen giebt -- von Wider¬
stand gegen Rußlands Vorschreiten im Südosten Europas durch Militärmacht
träumt? Ein Minister, der bei dieser militärischen Lage des Landes eine aus¬
wärtige Politik treiben wollte, wie sie anscheinend einige befürworten, wäre
ein Wahnsinniger!"

Seit dieser Rede Churchills sind bald zehn Jahre verflossen. Abgesehen
von dem schönen Tauschvertrage, der England die Insel Sansibar und das
große Witulcmd, uns aber die Insel Helgoland eintrug, die nach und nach
von den Meereswellen weggespült werden wird, hat das britische Reich nichts
erreicht; wo es auch auszutreten suchte, ist es über Depeschen und thörichte
Entrüstungsmeetings nicht hinausgekommen und hat den Dingen ihren Lauf
lassen müssen. Die Schäden, die Churchill rügt, lassen sich auch in zehn
Jahren nicht bessern. Als Beweis dient die fieberhafte Thätigkeit, mit der
jetzt wieder Schiffe gebaut, Uniformen angefertigt werden usw. So stoßweise
darf in einem Staatswesen, das kriegsbereit sein will, überhaupt nicht ver¬
fahren werden. Jeden Tag fertig zu sein, dazu gehört eine stetige nicht nach¬
lassende Thätigkeit. Von Moltke erzählt man, er habe während der Mobil¬
machung 1870 Romane gelesen. Das mag eine Anekdote sein. In Wahr¬
heit konnte er sich das erlauben, denn seine Arbeit war fertig, und alles
war bereit.

Daß die englische Landmacht in den letzten Jahren keine oder so gut wie
keine Fortschritte gemacht hat, beweist uns auch ein eben erschienenes Buch: Das
englische Heer einschließlich der Kolonialtruppeu in seiner heutigen Gestaltung.
Von le Juge, Hauptmann ü. 1-i fünf des Kadettenkorps, Militärlehrer bei der
Hauptkadetteuanstalt (Leipzig, Zuckschwerdt n. Co., 1896). Der Verfasser hat
außer eignen Beobachtungen alles benutzt, was an englischen Originalangaben,
englischen, deutscheu und französischen Zeitschriften nnr zu erreichen war. Er
lobt, was zu loben ist, muß aber doch sagen, daß das englische Volk hente
mehr als je das Verlangen zu hegen scheine, den wahren Wert seiner Wehr¬
kraft zu Lande, neben dem unbestrittenen (?) der Flotte, einer gründlichen
Prüfung zu unterziehen und zu untersuchen, wo und wie sie erhöht, die
Organisation der Armee verbessert und die Kraft der gesamten Landes¬
verteidigung gehoben werden könne. Er giebt auch zu, daß das die Kreide¬
felsen Old Englands umspielende Meer heutzutage nicht mehr als Schutz der
heimischen Küste gegen kriegerische Unternehmungen großer andrer Militär¬
staaten angesehen werden könne. Um so weniger, füge ich hinzu, als es nie
ein Schutz gewesen ist.


Englands Macht

lich unvorbereitet dastehe. Am Schlüsse ruft er aus: „Können wir angesichts
der gegebnen Schilderung unsrer militärischen Lage, deren Nichtigkeit ich gegen
jedermann aufrecht erhalte, von irgendeinem Einfluß Englands im Rate
Europas sprechen? Haltet ihr es nicht für äußerste und offenbare Narrheit,
wenn ein Minister — wenn es überhaupt einen solchen giebt — von Wider¬
stand gegen Rußlands Vorschreiten im Südosten Europas durch Militärmacht
träumt? Ein Minister, der bei dieser militärischen Lage des Landes eine aus¬
wärtige Politik treiben wollte, wie sie anscheinend einige befürworten, wäre
ein Wahnsinniger!"

Seit dieser Rede Churchills sind bald zehn Jahre verflossen. Abgesehen
von dem schönen Tauschvertrage, der England die Insel Sansibar und das
große Witulcmd, uns aber die Insel Helgoland eintrug, die nach und nach
von den Meereswellen weggespült werden wird, hat das britische Reich nichts
erreicht; wo es auch auszutreten suchte, ist es über Depeschen und thörichte
Entrüstungsmeetings nicht hinausgekommen und hat den Dingen ihren Lauf
lassen müssen. Die Schäden, die Churchill rügt, lassen sich auch in zehn
Jahren nicht bessern. Als Beweis dient die fieberhafte Thätigkeit, mit der
jetzt wieder Schiffe gebaut, Uniformen angefertigt werden usw. So stoßweise
darf in einem Staatswesen, das kriegsbereit sein will, überhaupt nicht ver¬
fahren werden. Jeden Tag fertig zu sein, dazu gehört eine stetige nicht nach¬
lassende Thätigkeit. Von Moltke erzählt man, er habe während der Mobil¬
machung 1870 Romane gelesen. Das mag eine Anekdote sein. In Wahr¬
heit konnte er sich das erlauben, denn seine Arbeit war fertig, und alles
war bereit.

Daß die englische Landmacht in den letzten Jahren keine oder so gut wie
keine Fortschritte gemacht hat, beweist uns auch ein eben erschienenes Buch: Das
englische Heer einschließlich der Kolonialtruppeu in seiner heutigen Gestaltung.
Von le Juge, Hauptmann ü. 1-i fünf des Kadettenkorps, Militärlehrer bei der
Hauptkadetteuanstalt (Leipzig, Zuckschwerdt n. Co., 1896). Der Verfasser hat
außer eignen Beobachtungen alles benutzt, was an englischen Originalangaben,
englischen, deutscheu und französischen Zeitschriften nnr zu erreichen war. Er
lobt, was zu loben ist, muß aber doch sagen, daß das englische Volk hente
mehr als je das Verlangen zu hegen scheine, den wahren Wert seiner Wehr¬
kraft zu Lande, neben dem unbestrittenen (?) der Flotte, einer gründlichen
Prüfung zu unterziehen und zu untersuchen, wo und wie sie erhöht, die
Organisation der Armee verbessert und die Kraft der gesamten Landes¬
verteidigung gehoben werden könne. Er giebt auch zu, daß das die Kreide¬
felsen Old Englands umspielende Meer heutzutage nicht mehr als Schutz der
heimischen Küste gegen kriegerische Unternehmungen großer andrer Militär¬
staaten angesehen werden könne. Um so weniger, füge ich hinzu, als es nie
ein Schutz gewesen ist.


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[0559] Englands Macht lich unvorbereitet dastehe. Am Schlüsse ruft er aus: „Können wir angesichts der gegebnen Schilderung unsrer militärischen Lage, deren Nichtigkeit ich gegen jedermann aufrecht erhalte, von irgendeinem Einfluß Englands im Rate Europas sprechen? Haltet ihr es nicht für äußerste und offenbare Narrheit, wenn ein Minister — wenn es überhaupt einen solchen giebt — von Wider¬ stand gegen Rußlands Vorschreiten im Südosten Europas durch Militärmacht träumt? Ein Minister, der bei dieser militärischen Lage des Landes eine aus¬ wärtige Politik treiben wollte, wie sie anscheinend einige befürworten, wäre ein Wahnsinniger!" Seit dieser Rede Churchills sind bald zehn Jahre verflossen. Abgesehen von dem schönen Tauschvertrage, der England die Insel Sansibar und das große Witulcmd, uns aber die Insel Helgoland eintrug, die nach und nach von den Meereswellen weggespült werden wird, hat das britische Reich nichts erreicht; wo es auch auszutreten suchte, ist es über Depeschen und thörichte Entrüstungsmeetings nicht hinausgekommen und hat den Dingen ihren Lauf lassen müssen. Die Schäden, die Churchill rügt, lassen sich auch in zehn Jahren nicht bessern. Als Beweis dient die fieberhafte Thätigkeit, mit der jetzt wieder Schiffe gebaut, Uniformen angefertigt werden usw. So stoßweise darf in einem Staatswesen, das kriegsbereit sein will, überhaupt nicht ver¬ fahren werden. Jeden Tag fertig zu sein, dazu gehört eine stetige nicht nach¬ lassende Thätigkeit. Von Moltke erzählt man, er habe während der Mobil¬ machung 1870 Romane gelesen. Das mag eine Anekdote sein. In Wahr¬ heit konnte er sich das erlauben, denn seine Arbeit war fertig, und alles war bereit. Daß die englische Landmacht in den letzten Jahren keine oder so gut wie keine Fortschritte gemacht hat, beweist uns auch ein eben erschienenes Buch: Das englische Heer einschließlich der Kolonialtruppeu in seiner heutigen Gestaltung. Von le Juge, Hauptmann ü. 1-i fünf des Kadettenkorps, Militärlehrer bei der Hauptkadetteuanstalt (Leipzig, Zuckschwerdt n. Co., 1896). Der Verfasser hat außer eignen Beobachtungen alles benutzt, was an englischen Originalangaben, englischen, deutscheu und französischen Zeitschriften nnr zu erreichen war. Er lobt, was zu loben ist, muß aber doch sagen, daß das englische Volk hente mehr als je das Verlangen zu hegen scheine, den wahren Wert seiner Wehr¬ kraft zu Lande, neben dem unbestrittenen (?) der Flotte, einer gründlichen Prüfung zu unterziehen und zu untersuchen, wo und wie sie erhöht, die Organisation der Armee verbessert und die Kraft der gesamten Landes¬ verteidigung gehoben werden könne. Er giebt auch zu, daß das die Kreide¬ felsen Old Englands umspielende Meer heutzutage nicht mehr als Schutz der heimischen Küste gegen kriegerische Unternehmungen großer andrer Militär¬ staaten angesehen werden könne. Um so weniger, füge ich hinzu, als es nie ein Schutz gewesen ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/559>, abgerufen am 27.11.2024.