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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Sudermaniis neueste Dramen

daß er sie vor den ersten mißverstandnen Regungen eines unerfahrnen Herzens
bewahrt hat. Die Heldin Sudermanns, Frau Elisabeth Wiedemann, steht ihrem
Gatten ganz anders gegenüber, und es ist zwar nicht zweifelhaft, daß sie ihm
gleichfalls zu danken hat, aber zweifelhaft, ob sie ihm wirklich danken will
und kann.

Der Winkel, in dem die Handlung des Sudermannschen Schauspiels vor
sich geht, ist das Haus des Rektors Wiedemann in einer kleinen norddeutschen
-- sagen wir gleich ostpreußischen -- Kreisstadt. Rektor Wiedemann hat sich
als Philolog nicht auszeichnen können, hat die Lehrberechtigung sür die höhern
Klassen nicht erlangt und am Ende froh sein müssen, in dem Rektorat einer
Volksschule mit Proghmnasium Unterkunft und Unterhalt zu finden. Aber er
ist in jungen Jahren Hauslehrer des Freiherrn von Nvcknitz auf Witzlingen,
eines stattlichen Vollblntjunkers, gewesen und hat mit dem Haus und dem Gut
dieses Landedelmanns eine Art Verbindung behalten. So ist es möglich ge¬
worden, daß er, ein Witwer mit drei Kindern, von denen die älteste erwachsene
Tochter blind ist, sich den zahlreichen Anbetern einer schönen jungen Dame
zugesellen konnte, die eine Waise, als Gast und Freundin der jungen Baronin
Bettina von Röcknitz in derem Schlosse lebte. Fräulein Elisabeth erscheint
dem Schulmann und allen andern als ein königliches, stolzes Mädchen, die
Ansprüche auf ein großes Glück im Leben hätte. Dennoch begegnet der wackere
Rektor in einer denkwürdigen Nacht dem schönen Fräulein im Schloßpark von
Witzlingen, findet sie verzweifelnd, rat- und hilflos, nahezu entschlossen, nicht
bloß dieses Haus, sondern womöglich die Welt zu verlassen- Er deutet sich
die entsetzliche Lage der von ihm Bewunderten dahin, daß Elisabeth das schuld¬
lose Opfer irgendeines Gewissenlosen aus ihrer Umgebung geworden sei, lind
gewinnt unter diesen Umständen den Mut, der Bedrängten den Schutz seines
bescheidnen Herdes und seine Hand anzutragen: Elisabeth wird die zweite Frau
des Rektors. Wie der Borhang aufgeht, lebt sie bereits zwei oder drei Jahre
hindurch in dem Rektorhause, in der Übung ihrer Pflichten hat sie Sonnen¬
schein ins Haus getragen, hat die kleine Landwirtschaft, die mit dem Rektorat
verbunden ist, zu einer Musterwirtschaft emporgebracht, Behagen und bescheidnen
Wohlstand gefördert und das Herz ihrer Stiefkinder gewonnen. Sie ist das
Wunder des Nestes, in dem sie lebt, jedermann beneidet, aber keiner begreift
den Rektor, wie ers hat wagen können, diesen fremden Goldvogel zu den
Lebensaufgaben und Lebensstimmungen einer Haushenne zu verurteilen. Alle
fühlen, daß die Verhältnisse des Winkels, des Rektorhauses wie des Städtchens,
der ungewöhnlichen schönen Frau nicht zu Gesicht stehen, alle erraten, daß
hier gleichsam stolze, üppige Glieder in ein viel zu knappes und ärmliches
Gewand eingepreßt sind. Der Rektor selbst, eine Seele von einem Menschen,
dessen reiner Gutmütigkeit es freilich an aller Schärfe des Blutes gebricht,
hegt mitten in dem wohligen Glück und Behagen starke Zweifel, ob Frau
Elisabeth selbst sich glücklich fühle. Nicht für sich, aber sür die edle, groß-


Grenzboten I 1396 K
Sudermaniis neueste Dramen

daß er sie vor den ersten mißverstandnen Regungen eines unerfahrnen Herzens
bewahrt hat. Die Heldin Sudermanns, Frau Elisabeth Wiedemann, steht ihrem
Gatten ganz anders gegenüber, und es ist zwar nicht zweifelhaft, daß sie ihm
gleichfalls zu danken hat, aber zweifelhaft, ob sie ihm wirklich danken will
und kann.

Der Winkel, in dem die Handlung des Sudermannschen Schauspiels vor
sich geht, ist das Haus des Rektors Wiedemann in einer kleinen norddeutschen
— sagen wir gleich ostpreußischen — Kreisstadt. Rektor Wiedemann hat sich
als Philolog nicht auszeichnen können, hat die Lehrberechtigung sür die höhern
Klassen nicht erlangt und am Ende froh sein müssen, in dem Rektorat einer
Volksschule mit Proghmnasium Unterkunft und Unterhalt zu finden. Aber er
ist in jungen Jahren Hauslehrer des Freiherrn von Nvcknitz auf Witzlingen,
eines stattlichen Vollblntjunkers, gewesen und hat mit dem Haus und dem Gut
dieses Landedelmanns eine Art Verbindung behalten. So ist es möglich ge¬
worden, daß er, ein Witwer mit drei Kindern, von denen die älteste erwachsene
Tochter blind ist, sich den zahlreichen Anbetern einer schönen jungen Dame
zugesellen konnte, die eine Waise, als Gast und Freundin der jungen Baronin
Bettina von Röcknitz in derem Schlosse lebte. Fräulein Elisabeth erscheint
dem Schulmann und allen andern als ein königliches, stolzes Mädchen, die
Ansprüche auf ein großes Glück im Leben hätte. Dennoch begegnet der wackere
Rektor in einer denkwürdigen Nacht dem schönen Fräulein im Schloßpark von
Witzlingen, findet sie verzweifelnd, rat- und hilflos, nahezu entschlossen, nicht
bloß dieses Haus, sondern womöglich die Welt zu verlassen- Er deutet sich
die entsetzliche Lage der von ihm Bewunderten dahin, daß Elisabeth das schuld¬
lose Opfer irgendeines Gewissenlosen aus ihrer Umgebung geworden sei, lind
gewinnt unter diesen Umständen den Mut, der Bedrängten den Schutz seines
bescheidnen Herdes und seine Hand anzutragen: Elisabeth wird die zweite Frau
des Rektors. Wie der Borhang aufgeht, lebt sie bereits zwei oder drei Jahre
hindurch in dem Rektorhause, in der Übung ihrer Pflichten hat sie Sonnen¬
schein ins Haus getragen, hat die kleine Landwirtschaft, die mit dem Rektorat
verbunden ist, zu einer Musterwirtschaft emporgebracht, Behagen und bescheidnen
Wohlstand gefördert und das Herz ihrer Stiefkinder gewonnen. Sie ist das
Wunder des Nestes, in dem sie lebt, jedermann beneidet, aber keiner begreift
den Rektor, wie ers hat wagen können, diesen fremden Goldvogel zu den
Lebensaufgaben und Lebensstimmungen einer Haushenne zu verurteilen. Alle
fühlen, daß die Verhältnisse des Winkels, des Rektorhauses wie des Städtchens,
der ungewöhnlichen schönen Frau nicht zu Gesicht stehen, alle erraten, daß
hier gleichsam stolze, üppige Glieder in ein viel zu knappes und ärmliches
Gewand eingepreßt sind. Der Rektor selbst, eine Seele von einem Menschen,
dessen reiner Gutmütigkeit es freilich an aller Schärfe des Blutes gebricht,
hegt mitten in dem wohligen Glück und Behagen starke Zweifel, ob Frau
Elisabeth selbst sich glücklich fühle. Nicht für sich, aber sür die edle, groß-


Grenzboten I 1396 K
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[0049] Sudermaniis neueste Dramen daß er sie vor den ersten mißverstandnen Regungen eines unerfahrnen Herzens bewahrt hat. Die Heldin Sudermanns, Frau Elisabeth Wiedemann, steht ihrem Gatten ganz anders gegenüber, und es ist zwar nicht zweifelhaft, daß sie ihm gleichfalls zu danken hat, aber zweifelhaft, ob sie ihm wirklich danken will und kann. Der Winkel, in dem die Handlung des Sudermannschen Schauspiels vor sich geht, ist das Haus des Rektors Wiedemann in einer kleinen norddeutschen — sagen wir gleich ostpreußischen — Kreisstadt. Rektor Wiedemann hat sich als Philolog nicht auszeichnen können, hat die Lehrberechtigung sür die höhern Klassen nicht erlangt und am Ende froh sein müssen, in dem Rektorat einer Volksschule mit Proghmnasium Unterkunft und Unterhalt zu finden. Aber er ist in jungen Jahren Hauslehrer des Freiherrn von Nvcknitz auf Witzlingen, eines stattlichen Vollblntjunkers, gewesen und hat mit dem Haus und dem Gut dieses Landedelmanns eine Art Verbindung behalten. So ist es möglich ge¬ worden, daß er, ein Witwer mit drei Kindern, von denen die älteste erwachsene Tochter blind ist, sich den zahlreichen Anbetern einer schönen jungen Dame zugesellen konnte, die eine Waise, als Gast und Freundin der jungen Baronin Bettina von Röcknitz in derem Schlosse lebte. Fräulein Elisabeth erscheint dem Schulmann und allen andern als ein königliches, stolzes Mädchen, die Ansprüche auf ein großes Glück im Leben hätte. Dennoch begegnet der wackere Rektor in einer denkwürdigen Nacht dem schönen Fräulein im Schloßpark von Witzlingen, findet sie verzweifelnd, rat- und hilflos, nahezu entschlossen, nicht bloß dieses Haus, sondern womöglich die Welt zu verlassen- Er deutet sich die entsetzliche Lage der von ihm Bewunderten dahin, daß Elisabeth das schuld¬ lose Opfer irgendeines Gewissenlosen aus ihrer Umgebung geworden sei, lind gewinnt unter diesen Umständen den Mut, der Bedrängten den Schutz seines bescheidnen Herdes und seine Hand anzutragen: Elisabeth wird die zweite Frau des Rektors. Wie der Borhang aufgeht, lebt sie bereits zwei oder drei Jahre hindurch in dem Rektorhause, in der Übung ihrer Pflichten hat sie Sonnen¬ schein ins Haus getragen, hat die kleine Landwirtschaft, die mit dem Rektorat verbunden ist, zu einer Musterwirtschaft emporgebracht, Behagen und bescheidnen Wohlstand gefördert und das Herz ihrer Stiefkinder gewonnen. Sie ist das Wunder des Nestes, in dem sie lebt, jedermann beneidet, aber keiner begreift den Rektor, wie ers hat wagen können, diesen fremden Goldvogel zu den Lebensaufgaben und Lebensstimmungen einer Haushenne zu verurteilen. Alle fühlen, daß die Verhältnisse des Winkels, des Rektorhauses wie des Städtchens, der ungewöhnlichen schönen Frau nicht zu Gesicht stehen, alle erraten, daß hier gleichsam stolze, üppige Glieder in ein viel zu knappes und ärmliches Gewand eingepreßt sind. Der Rektor selbst, eine Seele von einem Menschen, dessen reiner Gutmütigkeit es freilich an aller Schärfe des Blutes gebricht, hegt mitten in dem wohligen Glück und Behagen starke Zweifel, ob Frau Elisabeth selbst sich glücklich fühle. Nicht für sich, aber sür die edle, groß- Grenzboten I 1396 K

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/49>, abgerufen am 01.09.2024.