Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Sudermanns neueste Dramen

allerdings, daß die Mitwirkung und der Einfluß der realen Bühne, die Rück¬
sicht auf die Neigungen der Darsteller und des Parkets bei dem Wettbewerb
um die großen Tantiemen die Unabhängigkeit eines Schaffenden stärker ge¬
fährden, als es der Gedanke an die künftigen Leser bei den Werken der epischen
Phantasie thut. Vor allem aber, während sich der Erzähler nicht zu scheuen
braucht, was er sieht, fühlt und meint, frei zu gestalten und herauszusagen,
sieht sich ein Dramatiker von so besondrer Lebensanschauung und so bewußter
Gegensätzlichkeit zu so vielen Grundlagen und noch immer herrschenden Mächten
unsers Lebens in dem Übeln Falle, mit bewußter und unbewußter Zwei-
züngigkeit zu arbeiten und in Konflikten mit Fragezeichen zu schließen, wo wir
berechtigt wären, eine klare, bestimmte Antwort zu fordern und der Dichter
vielleicht eine solche Antwort bereit hat, für die er die Gründlinge des Par¬
terres nur nicht reif genug hält.

Eine Wiener Theatersäge berichtet, daß zu der Zeit, wo auf dem k. k. Hof¬
burgtheater König Lear und Cordelia in Shakespeares Tragödie auf Zensur¬
befehl leben bleiben mußten, die hervorragenden Darsteller des alten Königs
und seiner Tochter beide Figuren mit allen Zügen und Zeichen des bald be¬
vorstehenden Todes darzustellen und trotz der erzwungnen Versöhnung doch
den tragischen Ausgang anzudeuten pflegten. Ein Gran von dieser Kunst ist
offenbar in H. Sudcrmnnns neueste dramatische Anläufe, in die vieraktige
Komödie: Die Schmetterlingsschlacht und das dreiaktige Schauspiel: Das
Glück im Winkel übergegangen. Die Komödie wie das Schauspiel enden
die eine mit einer Folge kleiner, das andre mit einem gewaltigen Fragezeichen.
Und Leute, die die Miene von Wissenden annehmen, flüstern uus zu, daß wir
doch nicht so armselige Tröpfe sein und mit den gerührten Zuschauern an den
glücklichen Ausgang des einen wie des andern Stückes glauben sollen. Sie
sagen uns mehr oder minder unumwunden, daß in der "Schmetterlingsschlacht"
die große Szene, in der der frivole Keßler und die junge Witwe Elsa das
Rendezvous mit Champagner haben und die arme kleine Rosi betrunken macheu,
den eigentlichen theatralischen Höhepunkt und die konzentrirte Atmosphäre des
Stückes zugleich darstellt, und jedermann weiß, daß alles, was auf derartige
Szenen im Leben zu folgen pflegt, anders verläuft und anders aussieht, als
der um der Philister willen drangeklebte vierte Akt des sittenschildernden Stückes.
Sie geben zu verstehen, daß die Schlußszene des dritten Aktes im "Glück im
Winkel" eben auch nur ein theatralischer Notbehelf sei, und daß der Dichter
bestimmt genug zu erkennen gegeben habe, daß Frau Elisabeth, seine Heldin,
darnach lechzt, in den Armen eines Kraftmenschen wie Baron Röcknitz zu leben
und uicht an der Seite des erbärmlichen Schulmeisters dahinzusiechen. Wenn
dem in beiden Fällen nicht so ist, wenn der Dichter wirklich beabsichtigt hat,
den versöhnlichen Ausgang beider Dramen als den möglichen, wirklichen und
innerlich wahren erscheinen zu lassen, so hätte er einerseits den Wünschen nach
frappanter Modernität, den Angewöhnungen neuester Welt- und Sittenschilderung


Sudermanns neueste Dramen

allerdings, daß die Mitwirkung und der Einfluß der realen Bühne, die Rück¬
sicht auf die Neigungen der Darsteller und des Parkets bei dem Wettbewerb
um die großen Tantiemen die Unabhängigkeit eines Schaffenden stärker ge¬
fährden, als es der Gedanke an die künftigen Leser bei den Werken der epischen
Phantasie thut. Vor allem aber, während sich der Erzähler nicht zu scheuen
braucht, was er sieht, fühlt und meint, frei zu gestalten und herauszusagen,
sieht sich ein Dramatiker von so besondrer Lebensanschauung und so bewußter
Gegensätzlichkeit zu so vielen Grundlagen und noch immer herrschenden Mächten
unsers Lebens in dem Übeln Falle, mit bewußter und unbewußter Zwei-
züngigkeit zu arbeiten und in Konflikten mit Fragezeichen zu schließen, wo wir
berechtigt wären, eine klare, bestimmte Antwort zu fordern und der Dichter
vielleicht eine solche Antwort bereit hat, für die er die Gründlinge des Par¬
terres nur nicht reif genug hält.

Eine Wiener Theatersäge berichtet, daß zu der Zeit, wo auf dem k. k. Hof¬
burgtheater König Lear und Cordelia in Shakespeares Tragödie auf Zensur¬
befehl leben bleiben mußten, die hervorragenden Darsteller des alten Königs
und seiner Tochter beide Figuren mit allen Zügen und Zeichen des bald be¬
vorstehenden Todes darzustellen und trotz der erzwungnen Versöhnung doch
den tragischen Ausgang anzudeuten pflegten. Ein Gran von dieser Kunst ist
offenbar in H. Sudcrmnnns neueste dramatische Anläufe, in die vieraktige
Komödie: Die Schmetterlingsschlacht und das dreiaktige Schauspiel: Das
Glück im Winkel übergegangen. Die Komödie wie das Schauspiel enden
die eine mit einer Folge kleiner, das andre mit einem gewaltigen Fragezeichen.
Und Leute, die die Miene von Wissenden annehmen, flüstern uus zu, daß wir
doch nicht so armselige Tröpfe sein und mit den gerührten Zuschauern an den
glücklichen Ausgang des einen wie des andern Stückes glauben sollen. Sie
sagen uns mehr oder minder unumwunden, daß in der „Schmetterlingsschlacht"
die große Szene, in der der frivole Keßler und die junge Witwe Elsa das
Rendezvous mit Champagner haben und die arme kleine Rosi betrunken macheu,
den eigentlichen theatralischen Höhepunkt und die konzentrirte Atmosphäre des
Stückes zugleich darstellt, und jedermann weiß, daß alles, was auf derartige
Szenen im Leben zu folgen pflegt, anders verläuft und anders aussieht, als
der um der Philister willen drangeklebte vierte Akt des sittenschildernden Stückes.
Sie geben zu verstehen, daß die Schlußszene des dritten Aktes im „Glück im
Winkel" eben auch nur ein theatralischer Notbehelf sei, und daß der Dichter
bestimmt genug zu erkennen gegeben habe, daß Frau Elisabeth, seine Heldin,
darnach lechzt, in den Armen eines Kraftmenschen wie Baron Röcknitz zu leben
und uicht an der Seite des erbärmlichen Schulmeisters dahinzusiechen. Wenn
dem in beiden Fällen nicht so ist, wenn der Dichter wirklich beabsichtigt hat,
den versöhnlichen Ausgang beider Dramen als den möglichen, wirklichen und
innerlich wahren erscheinen zu lassen, so hätte er einerseits den Wünschen nach
frappanter Modernität, den Angewöhnungen neuester Welt- und Sittenschilderung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0046" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221692"/>
          <fw type="header" place="top"> Sudermanns neueste Dramen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_115" prev="#ID_114"> allerdings, daß die Mitwirkung und der Einfluß der realen Bühne, die Rück¬<lb/>
sicht auf die Neigungen der Darsteller und des Parkets bei dem Wettbewerb<lb/>
um die großen Tantiemen die Unabhängigkeit eines Schaffenden stärker ge¬<lb/>
fährden, als es der Gedanke an die künftigen Leser bei den Werken der epischen<lb/>
Phantasie thut. Vor allem aber, während sich der Erzähler nicht zu scheuen<lb/>
braucht, was er sieht, fühlt und meint, frei zu gestalten und herauszusagen,<lb/>
sieht sich ein Dramatiker von so besondrer Lebensanschauung und so bewußter<lb/>
Gegensätzlichkeit zu so vielen Grundlagen und noch immer herrschenden Mächten<lb/>
unsers Lebens in dem Übeln Falle, mit bewußter und unbewußter Zwei-<lb/>
züngigkeit zu arbeiten und in Konflikten mit Fragezeichen zu schließen, wo wir<lb/>
berechtigt wären, eine klare, bestimmte Antwort zu fordern und der Dichter<lb/>
vielleicht eine solche Antwort bereit hat, für die er die Gründlinge des Par¬<lb/>
terres nur nicht reif genug hält.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_116" next="#ID_117"> Eine Wiener Theatersäge berichtet, daß zu der Zeit, wo auf dem k. k. Hof¬<lb/>
burgtheater König Lear und Cordelia in Shakespeares Tragödie auf Zensur¬<lb/>
befehl leben bleiben mußten, die hervorragenden Darsteller des alten Königs<lb/>
und seiner Tochter beide Figuren mit allen Zügen und Zeichen des bald be¬<lb/>
vorstehenden Todes darzustellen und trotz der erzwungnen Versöhnung doch<lb/>
den tragischen Ausgang anzudeuten pflegten. Ein Gran von dieser Kunst ist<lb/>
offenbar in H. Sudcrmnnns neueste dramatische Anläufe, in die vieraktige<lb/>
Komödie: Die Schmetterlingsschlacht und das dreiaktige Schauspiel: Das<lb/>
Glück im Winkel übergegangen. Die Komödie wie das Schauspiel enden<lb/>
die eine mit einer Folge kleiner, das andre mit einem gewaltigen Fragezeichen.<lb/>
Und Leute, die die Miene von Wissenden annehmen, flüstern uus zu, daß wir<lb/>
doch nicht so armselige Tröpfe sein und mit den gerührten Zuschauern an den<lb/>
glücklichen Ausgang des einen wie des andern Stückes glauben sollen. Sie<lb/>
sagen uns mehr oder minder unumwunden, daß in der &#x201E;Schmetterlingsschlacht"<lb/>
die große Szene, in der der frivole Keßler und die junge Witwe Elsa das<lb/>
Rendezvous mit Champagner haben und die arme kleine Rosi betrunken macheu,<lb/>
den eigentlichen theatralischen Höhepunkt und die konzentrirte Atmosphäre des<lb/>
Stückes zugleich darstellt, und jedermann weiß, daß alles, was auf derartige<lb/>
Szenen im Leben zu folgen pflegt, anders verläuft und anders aussieht, als<lb/>
der um der Philister willen drangeklebte vierte Akt des sittenschildernden Stückes.<lb/>
Sie geben zu verstehen, daß die Schlußszene des dritten Aktes im &#x201E;Glück im<lb/>
Winkel" eben auch nur ein theatralischer Notbehelf sei, und daß der Dichter<lb/>
bestimmt genug zu erkennen gegeben habe, daß Frau Elisabeth, seine Heldin,<lb/>
darnach lechzt, in den Armen eines Kraftmenschen wie Baron Röcknitz zu leben<lb/>
und uicht an der Seite des erbärmlichen Schulmeisters dahinzusiechen. Wenn<lb/>
dem in beiden Fällen nicht so ist, wenn der Dichter wirklich beabsichtigt hat,<lb/>
den versöhnlichen Ausgang beider Dramen als den möglichen, wirklichen und<lb/>
innerlich wahren erscheinen zu lassen, so hätte er einerseits den Wünschen nach<lb/>
frappanter Modernität, den Angewöhnungen neuester Welt- und Sittenschilderung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0046] Sudermanns neueste Dramen allerdings, daß die Mitwirkung und der Einfluß der realen Bühne, die Rück¬ sicht auf die Neigungen der Darsteller und des Parkets bei dem Wettbewerb um die großen Tantiemen die Unabhängigkeit eines Schaffenden stärker ge¬ fährden, als es der Gedanke an die künftigen Leser bei den Werken der epischen Phantasie thut. Vor allem aber, während sich der Erzähler nicht zu scheuen braucht, was er sieht, fühlt und meint, frei zu gestalten und herauszusagen, sieht sich ein Dramatiker von so besondrer Lebensanschauung und so bewußter Gegensätzlichkeit zu so vielen Grundlagen und noch immer herrschenden Mächten unsers Lebens in dem Übeln Falle, mit bewußter und unbewußter Zwei- züngigkeit zu arbeiten und in Konflikten mit Fragezeichen zu schließen, wo wir berechtigt wären, eine klare, bestimmte Antwort zu fordern und der Dichter vielleicht eine solche Antwort bereit hat, für die er die Gründlinge des Par¬ terres nur nicht reif genug hält. Eine Wiener Theatersäge berichtet, daß zu der Zeit, wo auf dem k. k. Hof¬ burgtheater König Lear und Cordelia in Shakespeares Tragödie auf Zensur¬ befehl leben bleiben mußten, die hervorragenden Darsteller des alten Königs und seiner Tochter beide Figuren mit allen Zügen und Zeichen des bald be¬ vorstehenden Todes darzustellen und trotz der erzwungnen Versöhnung doch den tragischen Ausgang anzudeuten pflegten. Ein Gran von dieser Kunst ist offenbar in H. Sudcrmnnns neueste dramatische Anläufe, in die vieraktige Komödie: Die Schmetterlingsschlacht und das dreiaktige Schauspiel: Das Glück im Winkel übergegangen. Die Komödie wie das Schauspiel enden die eine mit einer Folge kleiner, das andre mit einem gewaltigen Fragezeichen. Und Leute, die die Miene von Wissenden annehmen, flüstern uus zu, daß wir doch nicht so armselige Tröpfe sein und mit den gerührten Zuschauern an den glücklichen Ausgang des einen wie des andern Stückes glauben sollen. Sie sagen uns mehr oder minder unumwunden, daß in der „Schmetterlingsschlacht" die große Szene, in der der frivole Keßler und die junge Witwe Elsa das Rendezvous mit Champagner haben und die arme kleine Rosi betrunken macheu, den eigentlichen theatralischen Höhepunkt und die konzentrirte Atmosphäre des Stückes zugleich darstellt, und jedermann weiß, daß alles, was auf derartige Szenen im Leben zu folgen pflegt, anders verläuft und anders aussieht, als der um der Philister willen drangeklebte vierte Akt des sittenschildernden Stückes. Sie geben zu verstehen, daß die Schlußszene des dritten Aktes im „Glück im Winkel" eben auch nur ein theatralischer Notbehelf sei, und daß der Dichter bestimmt genug zu erkennen gegeben habe, daß Frau Elisabeth, seine Heldin, darnach lechzt, in den Armen eines Kraftmenschen wie Baron Röcknitz zu leben und uicht an der Seite des erbärmlichen Schulmeisters dahinzusiechen. Wenn dem in beiden Fällen nicht so ist, wenn der Dichter wirklich beabsichtigt hat, den versöhnlichen Ausgang beider Dramen als den möglichen, wirklichen und innerlich wahren erscheinen zu lassen, so hätte er einerseits den Wünschen nach frappanter Modernität, den Angewöhnungen neuester Welt- und Sittenschilderung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/46
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/46>, abgerufen am 06.10.2024.