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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Das Recht der Persönlichkeit

wie das das Wort Individualität ja auch ausdrückt. Aber mau hat sich
neuerdings daran gewöhnt, die Herrschaft der Aristokratie im Mittelalter und
bis zur französischen Revolution als eine Herrschaft der Persönlichkeit zu be¬
trachten, und stimmt förmlich Klagelieder an, daß die französische Aristokratie
und die alte Gesellschaft, die so herrlich zu leben wußte, durch die Revolution
untergegangen sei. Das würde vielleicht dafür sprechen, daß wir heute in
eiuer romantisch-reaktionären, aristokratischen Periode lebten, wenn nicht eben
die, die jene Klagelieder anstimmen, meist Herabkömmlinge wären. Denkt man
sich die alte Aristokratie einfach einmal ohne Besitz, so bleibt von ihrer per¬
sönlichen Herrlichkeit blutwenig übrig, und aus der Geschichte wissen wir auch
recht gut, daß sowohl der alte deutsche Ritter wie der französische Seigneur
die Persönlichkeit nicht häufiger in die Wiege mitbekam als der Bürger; ist
doch, um einen naturwissenschaftlichen Beweis zu geben, auch ein großer Teil
des Adels, vielleicht der größte, unfreien Ursprungs, und genügten doch wenige
Jahrhunderte, aus der meist aus. Unfreien zusammeugelaufnen städtischen Be¬
völkerung einen für die Kultur uicht weniger wichtigen, ja wohl wichtigern
Stand zu machen, als es die Ritterschaft und die Geistlichkeit waren. Nein,
die Persönlichkeit entspringt, wie ihr Gipfel, der Genius, Gott sei Dank, jedem
Boden, und eben darum, weil sich ihr Auftreten nie berechnen läßt, weil ihre
Entwicklung besondre Wege liebt, weil ihre Stellung stets eine Ausnahme-
stellung ist, läßt sich auch keine soziale Theorie mit ihr und noch weniger ein
Recht der Persönlichkeit konstruiren. Sie hat das Recht, dazusein und sich
geltend zu machen wie alles, was lebt, aber man kann die gesellschaftlichen
Verhältniße nicht auf sie zuschneiden, und verantwortlich für das, was sie
thut, bleibt sie immer, und zwar noch in höherm Grade als die, die das Glück
oder Unglück haben, keine Persönlichkeit zu sein; denn wem viel gegeben ist,
von dem wird auch viel gefordert.

Wohin käme man, wenn man ein besondres Recht der Persönlichkeit wirk¬
lich schüfe, wenn man sagte: du bist uicht wie die andern Menschen, also
brauchst dn dich auch um die für sie geltenden Gesetze nicht zu kümmern?
Giebt es Persönlichkeiten, die die Blüte und den Fortschritt der Menschheit
darstellen, so giebt es unzweifelhaft doch mich nicht minder starke, die die Ent¬
artung und den Rückschritt bedeuten, und wenn man einmal die Persönlichkeit
an und für sich zum Maßstab macht, so muß man diese Entarteten so gut
gelten lassen wie die andern. Richard III. und Cesare Borgia sind gewiß Per¬
sönlichkeiten, und Cartouche und Schinderhannes, soweit ich deren Lebenslauf
kenne, auch, aber sie kommen doch höchstens nur für den Tragiker in Betracht,
dem es darum zu thun ist, die höchste Kraft im Ringen mit dem Schicksal und
die Entbindung des sittlichen Gesetzes auch in verzweifelten Fällen zu zeigen.
Wie man aber jetzt so weit geht, jeden Verbrecher als Opfer der Gesellschaft
und als irgendwie Geisteskranken zu betrachten, so könnte man mit dem Rechte


Das Recht der Persönlichkeit

wie das das Wort Individualität ja auch ausdrückt. Aber mau hat sich
neuerdings daran gewöhnt, die Herrschaft der Aristokratie im Mittelalter und
bis zur französischen Revolution als eine Herrschaft der Persönlichkeit zu be¬
trachten, und stimmt förmlich Klagelieder an, daß die französische Aristokratie
und die alte Gesellschaft, die so herrlich zu leben wußte, durch die Revolution
untergegangen sei. Das würde vielleicht dafür sprechen, daß wir heute in
eiuer romantisch-reaktionären, aristokratischen Periode lebten, wenn nicht eben
die, die jene Klagelieder anstimmen, meist Herabkömmlinge wären. Denkt man
sich die alte Aristokratie einfach einmal ohne Besitz, so bleibt von ihrer per¬
sönlichen Herrlichkeit blutwenig übrig, und aus der Geschichte wissen wir auch
recht gut, daß sowohl der alte deutsche Ritter wie der französische Seigneur
die Persönlichkeit nicht häufiger in die Wiege mitbekam als der Bürger; ist
doch, um einen naturwissenschaftlichen Beweis zu geben, auch ein großer Teil
des Adels, vielleicht der größte, unfreien Ursprungs, und genügten doch wenige
Jahrhunderte, aus der meist aus. Unfreien zusammeugelaufnen städtischen Be¬
völkerung einen für die Kultur uicht weniger wichtigen, ja wohl wichtigern
Stand zu machen, als es die Ritterschaft und die Geistlichkeit waren. Nein,
die Persönlichkeit entspringt, wie ihr Gipfel, der Genius, Gott sei Dank, jedem
Boden, und eben darum, weil sich ihr Auftreten nie berechnen läßt, weil ihre
Entwicklung besondre Wege liebt, weil ihre Stellung stets eine Ausnahme-
stellung ist, läßt sich auch keine soziale Theorie mit ihr und noch weniger ein
Recht der Persönlichkeit konstruiren. Sie hat das Recht, dazusein und sich
geltend zu machen wie alles, was lebt, aber man kann die gesellschaftlichen
Verhältniße nicht auf sie zuschneiden, und verantwortlich für das, was sie
thut, bleibt sie immer, und zwar noch in höherm Grade als die, die das Glück
oder Unglück haben, keine Persönlichkeit zu sein; denn wem viel gegeben ist,
von dem wird auch viel gefordert.

Wohin käme man, wenn man ein besondres Recht der Persönlichkeit wirk¬
lich schüfe, wenn man sagte: du bist uicht wie die andern Menschen, also
brauchst dn dich auch um die für sie geltenden Gesetze nicht zu kümmern?
Giebt es Persönlichkeiten, die die Blüte und den Fortschritt der Menschheit
darstellen, so giebt es unzweifelhaft doch mich nicht minder starke, die die Ent¬
artung und den Rückschritt bedeuten, und wenn man einmal die Persönlichkeit
an und für sich zum Maßstab macht, so muß man diese Entarteten so gut
gelten lassen wie die andern. Richard III. und Cesare Borgia sind gewiß Per¬
sönlichkeiten, und Cartouche und Schinderhannes, soweit ich deren Lebenslauf
kenne, auch, aber sie kommen doch höchstens nur für den Tragiker in Betracht,
dem es darum zu thun ist, die höchste Kraft im Ringen mit dem Schicksal und
die Entbindung des sittlichen Gesetzes auch in verzweifelten Fällen zu zeigen.
Wie man aber jetzt so weit geht, jeden Verbrecher als Opfer der Gesellschaft
und als irgendwie Geisteskranken zu betrachten, so könnte man mit dem Rechte


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[0372] Das Recht der Persönlichkeit wie das das Wort Individualität ja auch ausdrückt. Aber mau hat sich neuerdings daran gewöhnt, die Herrschaft der Aristokratie im Mittelalter und bis zur französischen Revolution als eine Herrschaft der Persönlichkeit zu be¬ trachten, und stimmt förmlich Klagelieder an, daß die französische Aristokratie und die alte Gesellschaft, die so herrlich zu leben wußte, durch die Revolution untergegangen sei. Das würde vielleicht dafür sprechen, daß wir heute in eiuer romantisch-reaktionären, aristokratischen Periode lebten, wenn nicht eben die, die jene Klagelieder anstimmen, meist Herabkömmlinge wären. Denkt man sich die alte Aristokratie einfach einmal ohne Besitz, so bleibt von ihrer per¬ sönlichen Herrlichkeit blutwenig übrig, und aus der Geschichte wissen wir auch recht gut, daß sowohl der alte deutsche Ritter wie der französische Seigneur die Persönlichkeit nicht häufiger in die Wiege mitbekam als der Bürger; ist doch, um einen naturwissenschaftlichen Beweis zu geben, auch ein großer Teil des Adels, vielleicht der größte, unfreien Ursprungs, und genügten doch wenige Jahrhunderte, aus der meist aus. Unfreien zusammeugelaufnen städtischen Be¬ völkerung einen für die Kultur uicht weniger wichtigen, ja wohl wichtigern Stand zu machen, als es die Ritterschaft und die Geistlichkeit waren. Nein, die Persönlichkeit entspringt, wie ihr Gipfel, der Genius, Gott sei Dank, jedem Boden, und eben darum, weil sich ihr Auftreten nie berechnen läßt, weil ihre Entwicklung besondre Wege liebt, weil ihre Stellung stets eine Ausnahme- stellung ist, läßt sich auch keine soziale Theorie mit ihr und noch weniger ein Recht der Persönlichkeit konstruiren. Sie hat das Recht, dazusein und sich geltend zu machen wie alles, was lebt, aber man kann die gesellschaftlichen Verhältniße nicht auf sie zuschneiden, und verantwortlich für das, was sie thut, bleibt sie immer, und zwar noch in höherm Grade als die, die das Glück oder Unglück haben, keine Persönlichkeit zu sein; denn wem viel gegeben ist, von dem wird auch viel gefordert. Wohin käme man, wenn man ein besondres Recht der Persönlichkeit wirk¬ lich schüfe, wenn man sagte: du bist uicht wie die andern Menschen, also brauchst dn dich auch um die für sie geltenden Gesetze nicht zu kümmern? Giebt es Persönlichkeiten, die die Blüte und den Fortschritt der Menschheit darstellen, so giebt es unzweifelhaft doch mich nicht minder starke, die die Ent¬ artung und den Rückschritt bedeuten, und wenn man einmal die Persönlichkeit an und für sich zum Maßstab macht, so muß man diese Entarteten so gut gelten lassen wie die andern. Richard III. und Cesare Borgia sind gewiß Per¬ sönlichkeiten, und Cartouche und Schinderhannes, soweit ich deren Lebenslauf kenne, auch, aber sie kommen doch höchstens nur für den Tragiker in Betracht, dem es darum zu thun ist, die höchste Kraft im Ringen mit dem Schicksal und die Entbindung des sittlichen Gesetzes auch in verzweifelten Fällen zu zeigen. Wie man aber jetzt so weit geht, jeden Verbrecher als Opfer der Gesellschaft und als irgendwie Geisteskranken zu betrachten, so könnte man mit dem Rechte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/372>, abgerufen am 01.09.2024.