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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Das Recht der Persönlichkeit

speares lebte eine Königin Elisabeth/' ist man jetzt mit Carlhle zu sagen
geneigt, aber was hat die doch gewiß gewaltige Persönlichkeit Shakespeares
im elisnbethischen Zeitalter bedeutet? Nicht soviel wie die eines beliebigen
Londoner Aldermans, der seiner Stellung einigermaßen gewachsen war. Und
Shakespeare wird sich auch jedenfalls nicht über diesen Alderman. wenn
er ihn kannte, erhoben haben. Bismarck hat eine ganz bedeutende Macht
gehabt, aber es gab zur Zeit seiner Reichskanzlerschaft in jedem deutschen
Bezirke Persönlichkeiten, die für ihren Kreis mehr bedeuteten als er. Ich kenne
in meiner Heimat einen Tischlermeister, der weder nach der Seite der Intel¬
ligenz und Bildung noch sonst irgendwie seine Mitbürger viel überragt, er hat
es nicht einmal zum Stadtverordneten gebracht, aber er ist eine Persönlichkeit,
und noch heute möchte ich sagen: Wenn ich nicht ich wäre, möchte ich wohl
Meister S. sein, so fest steht der Manu auf seinen Füßen, so rund und ab¬
geschlossen wirkt er als Mensch. Es ist dabei gleichgiltig, was ich als Per¬
sönlichkeit bedeute -- welche Persönlichkeit, die nicht in Selbstvergötterung
aufgeht, sähe sich nicht oft genug in meiner Lage? Erzählt man doch nicht
umsonst immer noch die Geschichte von Alexander und Diogenes, und auch
aus Napoleons Leben wird eine Diogenesanekdote berichtet. Ein junger Mann,
der in Kunst und Wissenschaft lebt, ist nur zu geneigt, einer kleinen Anzahl
geistig Auserwählter die große Masse der Stumpfen und Flachen gegenüber¬
zustellen; die Wahrheit aber ist, daß aus dieser Masse überall Persönlichkeiten
wie Säulen aufragen, die zwar für die tiefste Poesie z. B. nicht immer das
richtige Verständnis haben, aber doch mit dem Leben, mit seinem Ernst im
allgemeinen besser fertig zu werden verstehen als wir "geistig Auserwählten,"
die wir unter andern Mörike für einen größern Lhriter halten als Geibel. Das
ist nie anders gewesen und wird auch nie anders sein; es giebt Aristokraten im
niedern Volke und Plebejer in den höchsten Kreisen, und wenn wir hundert
Jahre im sozialistischen Zukunftsstaate gelebt Hütten, auch dann würden die
Persönlichkeiten noch genau so wie jetzt vereinzelt überall hervortreten, von
Dutzendmenschen umgeben. Um das zu begreifen, brauche ich nicht einmal die
Darwinschen Theorien. Der Adelsmensch Ibsens, die blonde Bestie Nietzsches
und, um vom Genie hier abzusehen, eine solidere Art nicht gewöhnlicher
Menschen als diese beiden, die ich einfach als "Mann" bezeichnen möchte,
sind da und sind inutMs irwtanäi" immer dagewesen, aber es ist eine süße
Täuschung, wenn man meint, daß mau sie gewissermaßen züchten könne,
und daß ihnen, wenn sie da seien, ohne weiteres die Herrschaft der Mensch¬
heit zufalle. Es hat Zeilen gegeben, wo Rassen und Stände herrschten, und
diesen Rassen und Ständen sind herrschende Persönlichkeiten entwachsen, aber
nie habe" Persönlichkeiten als solche, und vollends gar in enger Ver¬
engung, über die Menge geherrscht, und nie sind sie ans gewisse Rassen
und Stände beschränkt gewesen. Persönlichkeit bedeutet stets Vereinzelung,


Das Recht der Persönlichkeit

speares lebte eine Königin Elisabeth/' ist man jetzt mit Carlhle zu sagen
geneigt, aber was hat die doch gewiß gewaltige Persönlichkeit Shakespeares
im elisnbethischen Zeitalter bedeutet? Nicht soviel wie die eines beliebigen
Londoner Aldermans, der seiner Stellung einigermaßen gewachsen war. Und
Shakespeare wird sich auch jedenfalls nicht über diesen Alderman. wenn
er ihn kannte, erhoben haben. Bismarck hat eine ganz bedeutende Macht
gehabt, aber es gab zur Zeit seiner Reichskanzlerschaft in jedem deutschen
Bezirke Persönlichkeiten, die für ihren Kreis mehr bedeuteten als er. Ich kenne
in meiner Heimat einen Tischlermeister, der weder nach der Seite der Intel¬
ligenz und Bildung noch sonst irgendwie seine Mitbürger viel überragt, er hat
es nicht einmal zum Stadtverordneten gebracht, aber er ist eine Persönlichkeit,
und noch heute möchte ich sagen: Wenn ich nicht ich wäre, möchte ich wohl
Meister S. sein, so fest steht der Manu auf seinen Füßen, so rund und ab¬
geschlossen wirkt er als Mensch. Es ist dabei gleichgiltig, was ich als Per¬
sönlichkeit bedeute — welche Persönlichkeit, die nicht in Selbstvergötterung
aufgeht, sähe sich nicht oft genug in meiner Lage? Erzählt man doch nicht
umsonst immer noch die Geschichte von Alexander und Diogenes, und auch
aus Napoleons Leben wird eine Diogenesanekdote berichtet. Ein junger Mann,
der in Kunst und Wissenschaft lebt, ist nur zu geneigt, einer kleinen Anzahl
geistig Auserwählter die große Masse der Stumpfen und Flachen gegenüber¬
zustellen; die Wahrheit aber ist, daß aus dieser Masse überall Persönlichkeiten
wie Säulen aufragen, die zwar für die tiefste Poesie z. B. nicht immer das
richtige Verständnis haben, aber doch mit dem Leben, mit seinem Ernst im
allgemeinen besser fertig zu werden verstehen als wir „geistig Auserwählten,"
die wir unter andern Mörike für einen größern Lhriter halten als Geibel. Das
ist nie anders gewesen und wird auch nie anders sein; es giebt Aristokraten im
niedern Volke und Plebejer in den höchsten Kreisen, und wenn wir hundert
Jahre im sozialistischen Zukunftsstaate gelebt Hütten, auch dann würden die
Persönlichkeiten noch genau so wie jetzt vereinzelt überall hervortreten, von
Dutzendmenschen umgeben. Um das zu begreifen, brauche ich nicht einmal die
Darwinschen Theorien. Der Adelsmensch Ibsens, die blonde Bestie Nietzsches
und, um vom Genie hier abzusehen, eine solidere Art nicht gewöhnlicher
Menschen als diese beiden, die ich einfach als „Mann" bezeichnen möchte,
sind da und sind inutMs irwtanäi» immer dagewesen, aber es ist eine süße
Täuschung, wenn man meint, daß mau sie gewissermaßen züchten könne,
und daß ihnen, wenn sie da seien, ohne weiteres die Herrschaft der Mensch¬
heit zufalle. Es hat Zeilen gegeben, wo Rassen und Stände herrschten, und
diesen Rassen und Ständen sind herrschende Persönlichkeiten entwachsen, aber
nie habe» Persönlichkeiten als solche, und vollends gar in enger Ver¬
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und Stände beschränkt gewesen. Persönlichkeit bedeutet stets Vereinzelung,


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[0371] Das Recht der Persönlichkeit speares lebte eine Königin Elisabeth/' ist man jetzt mit Carlhle zu sagen geneigt, aber was hat die doch gewiß gewaltige Persönlichkeit Shakespeares im elisnbethischen Zeitalter bedeutet? Nicht soviel wie die eines beliebigen Londoner Aldermans, der seiner Stellung einigermaßen gewachsen war. Und Shakespeare wird sich auch jedenfalls nicht über diesen Alderman. wenn er ihn kannte, erhoben haben. Bismarck hat eine ganz bedeutende Macht gehabt, aber es gab zur Zeit seiner Reichskanzlerschaft in jedem deutschen Bezirke Persönlichkeiten, die für ihren Kreis mehr bedeuteten als er. Ich kenne in meiner Heimat einen Tischlermeister, der weder nach der Seite der Intel¬ ligenz und Bildung noch sonst irgendwie seine Mitbürger viel überragt, er hat es nicht einmal zum Stadtverordneten gebracht, aber er ist eine Persönlichkeit, und noch heute möchte ich sagen: Wenn ich nicht ich wäre, möchte ich wohl Meister S. sein, so fest steht der Manu auf seinen Füßen, so rund und ab¬ geschlossen wirkt er als Mensch. Es ist dabei gleichgiltig, was ich als Per¬ sönlichkeit bedeute — welche Persönlichkeit, die nicht in Selbstvergötterung aufgeht, sähe sich nicht oft genug in meiner Lage? Erzählt man doch nicht umsonst immer noch die Geschichte von Alexander und Diogenes, und auch aus Napoleons Leben wird eine Diogenesanekdote berichtet. Ein junger Mann, der in Kunst und Wissenschaft lebt, ist nur zu geneigt, einer kleinen Anzahl geistig Auserwählter die große Masse der Stumpfen und Flachen gegenüber¬ zustellen; die Wahrheit aber ist, daß aus dieser Masse überall Persönlichkeiten wie Säulen aufragen, die zwar für die tiefste Poesie z. B. nicht immer das richtige Verständnis haben, aber doch mit dem Leben, mit seinem Ernst im allgemeinen besser fertig zu werden verstehen als wir „geistig Auserwählten," die wir unter andern Mörike für einen größern Lhriter halten als Geibel. Das ist nie anders gewesen und wird auch nie anders sein; es giebt Aristokraten im niedern Volke und Plebejer in den höchsten Kreisen, und wenn wir hundert Jahre im sozialistischen Zukunftsstaate gelebt Hütten, auch dann würden die Persönlichkeiten noch genau so wie jetzt vereinzelt überall hervortreten, von Dutzendmenschen umgeben. Um das zu begreifen, brauche ich nicht einmal die Darwinschen Theorien. Der Adelsmensch Ibsens, die blonde Bestie Nietzsches und, um vom Genie hier abzusehen, eine solidere Art nicht gewöhnlicher Menschen als diese beiden, die ich einfach als „Mann" bezeichnen möchte, sind da und sind inutMs irwtanäi» immer dagewesen, aber es ist eine süße Täuschung, wenn man meint, daß mau sie gewissermaßen züchten könne, und daß ihnen, wenn sie da seien, ohne weiteres die Herrschaft der Mensch¬ heit zufalle. Es hat Zeilen gegeben, wo Rassen und Stände herrschten, und diesen Rassen und Ständen sind herrschende Persönlichkeiten entwachsen, aber nie habe» Persönlichkeiten als solche, und vollends gar in enger Ver¬ engung, über die Menge geherrscht, und nie sind sie ans gewisse Rassen und Stände beschränkt gewesen. Persönlichkeit bedeutet stets Vereinzelung,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/371>, abgerufen am 01.09.2024.