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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

gegen ein Bündnis der deutschen Katholiken mit Frankreich so wenig tiermögen,
wie die an die Arbeiterklasse gerichteten Ermahnungen zur Genügsamkeit und
die Abmahnungen von Gewaltthaten vermögen, nachdem katholische Männer,
die sich mit solchen Gegenstände" beschäftigen, Jahrzehnte hindurch den Haß
gegen das Kapital gepredigt und der Ansicht, die Arbeiter müßten suchen, ihre
Lage durch Sparsamkeit und durch Steigerung ihrer Intelligenz zu bessern,
die Behauptung entgegengestellt haben: es sei ein Hohn, Leute, die das zum
Leben notwendige nicht haben, zur Sparsamkeit zu ernähren, und ehe man
für die Arbeiterkinder Schulen errichte, solle man vorher, damit sie nicht ver¬
hungern, Snppenanstnlten begründen. IWenn ich mich recht erinnere, waren
es ebenfalls die Historisch-Politischen Blätter, die in den sechziger Jahren der¬
gleichen predigten,^ ... Nicht darin sehe ich das Unglück, daß ein katholischer
Priester eine eigne, von der Majorität seiner Amtsgenossen abweichende Über¬
zeugung öffentlich ausspricht, sondern daß ein solches Aussprechen der eignen
Überzeugung Ärgernis erregt. Ist es doch so weit gekommen, daß es kaum
noch einen Gegenstand der Wissenschaft, der Politik, des bürgerlichen, ja sogar
des persönlichen und Familienlebens mehr giebt, über den ein Katholik eine
von der herrschenden Presse unabhängige Meinung aussprechen könnte, ohne
daß er des Abfalls vom Glauben beschuldigt würde. Diesen Zustand habe
ich seit Jahren als unheilvoll beklagt. Sollte es wirklich gelingen, jeden
denkenden Kopf, jede unabhängige Überzeugung, jeden selbständigen Charakter
aus dem Katholizismus hinauszudrängen, dann bliebe von diesem freilich nichts
mehr übrig als ein ungeheurer Automat, der nur noch durch die Ähnlichkeit der
äußern Erscheinung an die ehemalige katholische Kirche erinnern würde. Drum
halte ich unter allen dringenden Bedürfnissen der jetzigen Zeit für das drin¬
gendste, dieser allergrößten Gefahr vorzubeugen, und das katholische Volk nach
und nach wieder daran zu gewöhnen, daß es selbständig denkende, überzeuguugs-
treue und charakterfeste Männer nicht als den Ruin, sondern als die Lebens¬
kraft der Kirche betrachte usw."

Nach Absendung dieses höchst überflüssigen Ergusses mußte ich wieder
einmal, wie öfter in den letzten Jahren, täglich auf der Lauer liegen, um
meinen Briefboten (es war ein Schulknabe, der die Postsachen in einer ver¬
schlossenen Blechtasche holte) heimlich abzufangen; denn wenn mich die Mutter
einen großen Brief auspacken sah, dessen Inhalt ich ihr nicht mitteilen konnte,
geriet sie in große Angst. Oft, wenn sie einen amtlichen Brief in meiner
Hand sah oder in meinem Gesicht einen bedenklichen Zug entdeckte, sagte sie:
Schreibt, lieber Herr, schreibt, daß Ihr bei der Pfarre bleibt! Ich hatte ihr
dieses Sprüchlein mitgeteilt, das der Volkswitz in der Zeit, wo die Konkordien-
formel umging, den sächsischen Pfarrfrauen in den Mund gelegt hat. Diesmal
kam aber kein Brief, sondern der fürstbischöfliche Kommissarius, Propst Hübner
ans Zobten am Bober, der zwar ein vortrefflicher Mann und höchst ange-


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

gegen ein Bündnis der deutschen Katholiken mit Frankreich so wenig tiermögen,
wie die an die Arbeiterklasse gerichteten Ermahnungen zur Genügsamkeit und
die Abmahnungen von Gewaltthaten vermögen, nachdem katholische Männer,
die sich mit solchen Gegenstände» beschäftigen, Jahrzehnte hindurch den Haß
gegen das Kapital gepredigt und der Ansicht, die Arbeiter müßten suchen, ihre
Lage durch Sparsamkeit und durch Steigerung ihrer Intelligenz zu bessern,
die Behauptung entgegengestellt haben: es sei ein Hohn, Leute, die das zum
Leben notwendige nicht haben, zur Sparsamkeit zu ernähren, und ehe man
für die Arbeiterkinder Schulen errichte, solle man vorher, damit sie nicht ver¬
hungern, Snppenanstnlten begründen. IWenn ich mich recht erinnere, waren
es ebenfalls die Historisch-Politischen Blätter, die in den sechziger Jahren der¬
gleichen predigten,^ ... Nicht darin sehe ich das Unglück, daß ein katholischer
Priester eine eigne, von der Majorität seiner Amtsgenossen abweichende Über¬
zeugung öffentlich ausspricht, sondern daß ein solches Aussprechen der eignen
Überzeugung Ärgernis erregt. Ist es doch so weit gekommen, daß es kaum
noch einen Gegenstand der Wissenschaft, der Politik, des bürgerlichen, ja sogar
des persönlichen und Familienlebens mehr giebt, über den ein Katholik eine
von der herrschenden Presse unabhängige Meinung aussprechen könnte, ohne
daß er des Abfalls vom Glauben beschuldigt würde. Diesen Zustand habe
ich seit Jahren als unheilvoll beklagt. Sollte es wirklich gelingen, jeden
denkenden Kopf, jede unabhängige Überzeugung, jeden selbständigen Charakter
aus dem Katholizismus hinauszudrängen, dann bliebe von diesem freilich nichts
mehr übrig als ein ungeheurer Automat, der nur noch durch die Ähnlichkeit der
äußern Erscheinung an die ehemalige katholische Kirche erinnern würde. Drum
halte ich unter allen dringenden Bedürfnissen der jetzigen Zeit für das drin¬
gendste, dieser allergrößten Gefahr vorzubeugen, und das katholische Volk nach
und nach wieder daran zu gewöhnen, daß es selbständig denkende, überzeuguugs-
treue und charakterfeste Männer nicht als den Ruin, sondern als die Lebens¬
kraft der Kirche betrachte usw."

Nach Absendung dieses höchst überflüssigen Ergusses mußte ich wieder
einmal, wie öfter in den letzten Jahren, täglich auf der Lauer liegen, um
meinen Briefboten (es war ein Schulknabe, der die Postsachen in einer ver¬
schlossenen Blechtasche holte) heimlich abzufangen; denn wenn mich die Mutter
einen großen Brief auspacken sah, dessen Inhalt ich ihr nicht mitteilen konnte,
geriet sie in große Angst. Oft, wenn sie einen amtlichen Brief in meiner
Hand sah oder in meinem Gesicht einen bedenklichen Zug entdeckte, sagte sie:
Schreibt, lieber Herr, schreibt, daß Ihr bei der Pfarre bleibt! Ich hatte ihr
dieses Sprüchlein mitgeteilt, das der Volkswitz in der Zeit, wo die Konkordien-
formel umging, den sächsischen Pfarrfrauen in den Mund gelegt hat. Diesmal
kam aber kein Brief, sondern der fürstbischöfliche Kommissarius, Propst Hübner
ans Zobten am Bober, der zwar ein vortrefflicher Mann und höchst ange-


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[0338] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome gegen ein Bündnis der deutschen Katholiken mit Frankreich so wenig tiermögen, wie die an die Arbeiterklasse gerichteten Ermahnungen zur Genügsamkeit und die Abmahnungen von Gewaltthaten vermögen, nachdem katholische Männer, die sich mit solchen Gegenstände» beschäftigen, Jahrzehnte hindurch den Haß gegen das Kapital gepredigt und der Ansicht, die Arbeiter müßten suchen, ihre Lage durch Sparsamkeit und durch Steigerung ihrer Intelligenz zu bessern, die Behauptung entgegengestellt haben: es sei ein Hohn, Leute, die das zum Leben notwendige nicht haben, zur Sparsamkeit zu ernähren, und ehe man für die Arbeiterkinder Schulen errichte, solle man vorher, damit sie nicht ver¬ hungern, Snppenanstnlten begründen. IWenn ich mich recht erinnere, waren es ebenfalls die Historisch-Politischen Blätter, die in den sechziger Jahren der¬ gleichen predigten,^ ... Nicht darin sehe ich das Unglück, daß ein katholischer Priester eine eigne, von der Majorität seiner Amtsgenossen abweichende Über¬ zeugung öffentlich ausspricht, sondern daß ein solches Aussprechen der eignen Überzeugung Ärgernis erregt. Ist es doch so weit gekommen, daß es kaum noch einen Gegenstand der Wissenschaft, der Politik, des bürgerlichen, ja sogar des persönlichen und Familienlebens mehr giebt, über den ein Katholik eine von der herrschenden Presse unabhängige Meinung aussprechen könnte, ohne daß er des Abfalls vom Glauben beschuldigt würde. Diesen Zustand habe ich seit Jahren als unheilvoll beklagt. Sollte es wirklich gelingen, jeden denkenden Kopf, jede unabhängige Überzeugung, jeden selbständigen Charakter aus dem Katholizismus hinauszudrängen, dann bliebe von diesem freilich nichts mehr übrig als ein ungeheurer Automat, der nur noch durch die Ähnlichkeit der äußern Erscheinung an die ehemalige katholische Kirche erinnern würde. Drum halte ich unter allen dringenden Bedürfnissen der jetzigen Zeit für das drin¬ gendste, dieser allergrößten Gefahr vorzubeugen, und das katholische Volk nach und nach wieder daran zu gewöhnen, daß es selbständig denkende, überzeuguugs- treue und charakterfeste Männer nicht als den Ruin, sondern als die Lebens¬ kraft der Kirche betrachte usw." Nach Absendung dieses höchst überflüssigen Ergusses mußte ich wieder einmal, wie öfter in den letzten Jahren, täglich auf der Lauer liegen, um meinen Briefboten (es war ein Schulknabe, der die Postsachen in einer ver¬ schlossenen Blechtasche holte) heimlich abzufangen; denn wenn mich die Mutter einen großen Brief auspacken sah, dessen Inhalt ich ihr nicht mitteilen konnte, geriet sie in große Angst. Oft, wenn sie einen amtlichen Brief in meiner Hand sah oder in meinem Gesicht einen bedenklichen Zug entdeckte, sagte sie: Schreibt, lieber Herr, schreibt, daß Ihr bei der Pfarre bleibt! Ich hatte ihr dieses Sprüchlein mitgeteilt, das der Volkswitz in der Zeit, wo die Konkordien- formel umging, den sächsischen Pfarrfrauen in den Mund gelegt hat. Diesmal kam aber kein Brief, sondern der fürstbischöfliche Kommissarius, Propst Hübner ans Zobten am Bober, der zwar ein vortrefflicher Mann und höchst ange-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/338>, abgerufen am 24.11.2024.