Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.Wandlungen des Ich im Zeitenstrome Unter diesen Umständen wcir in der Diözese Breslciu die vor dein Standes¬ In dem Drange, wenigstens etwas zu thun, sei es anch das allerdümmste, Wandlungen des Ich im Zeitenstrome Unter diesen Umständen wcir in der Diözese Breslciu die vor dein Standes¬ In dem Drange, wenigstens etwas zu thun, sei es anch das allerdümmste, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0335" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221981"/> <fw type="header" place="top"> Wandlungen des Ich im Zeitenstrome</fw><lb/> <p xml:id="ID_1077"> Unter diesen Umständen wcir in der Diözese Breslciu die vor dein Standes¬<lb/> amt geschlossene Ehe nach dem kanonischen Recht zweifellos giltig. Ob das<lb/> die geistlichen Behörden zugestanden haben würden, wenn man sich nicht gerade<lb/> im Kulturkampf befunden hätte, kann ich nicht wissen. Jedenfalls macht es<lb/> der Kriegszustand erklärlich, daß an die Pfarrer eine streng vertrauliche Ver¬<lb/> fügung erging, wonach fortan in der Osterzeit das tridentinische Dekret in jeder<lb/> Gemeinde verkündigt werden sollte, und damit hörte auch der Zustand der<lb/> Unschuld für deu katholischen Teil solcher gemischten Brautpaare auf, die sich<lb/> in der evangelischen Kirche trauen oder, wie man nach Einführung der Zivilehe<lb/> sagen muß, einsegnen lassen. Mich entrüstete diese Perfidie, wofür ich damals<lb/> die taktisch ganz richtige Maßregel ansah, und ich schrieb ungefähr das, was<lb/> ich hier gesagt habe, an die Schlesische Zeitung, die es aber, wie gesagt,<lb/> uicht verwendbar faud. Mehrere Jahre später entbrannte ein heftiger Streit<lb/> über die Angelegenheit, weil das tridentinische Dekret in Berlin und in<lb/> Schweidnitz an die Kirchthür angeschlagen worden war. Der Streit verlief,<lb/> wie solche Streitigkeiten zu verlaufen pflegen: die protestantischen Angreifer<lb/> schössen beharrlich vorbei, und die Katholiken wurden durch den Angriff bloß<lb/> gereizt, aber nicht geschädigt. Unzähligemal wurde in den protestantischen<lb/> Zeitungen der Vorwurf wiederholt, die evangelischen Ehen würden von den<lb/> Katholiken für Koukubinate erklärt, was einfach unwahr ist; die katholische<lb/> Kirche erklärt nicht allein die evangelischen, sondern auch die jüdischen und<lb/> heidnischen Ehen für wirkliche und giltige Ehen; das tridentinische Dekret gilt<lb/> nur für die Katholiken, und auch für diese, wie gesagt, nur dort, wo es ver¬<lb/> kündigt ist; den giltigen Ehen der Häretiker und Schismatiker kommt nach<lb/> Gury sogar der sakramentale Charakter zu. Den richtigen Angriffspunkt: daß<lb/> der Fürstbischof das vorher nicht verkündigte Dekret gerade in jenem Augenblick<lb/> amtlich bekannt zu machen befahl, hat kein einziger der Angreifer getroffen,<lb/> nicht einmal ein Jurist, soviel ich mich entsinnen kann, wie denn überhaupt<lb/> Protestantische Juristen in der Kunst, kirchliche Rechtsverhältnisse mißzuverstehen,<lb/> mit gewöhnlichen protestantischen Zeitungsschreibern wettzneifern scheinen; einen<lb/> recht merkwürdigen Fall dieser Art will ich später noch anführen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1078" next="#ID_1079"> In dem Drange, wenigstens etwas zu thun, sei es anch das allerdümmste,<lb/> erklärte ich meine Beistimmung zur Staatskatholikenadresse. Eine Dummheit<lb/> war das, denn das Staatskatholikentum ist mir vom ersten Augenblick bis<lb/> zum letzten so widerwärtig wie möglich gewesen. Als im Posenschen einer<lb/> Gemeinde der erste Staatspfarrer aufgezwungen wurde, sagte ich zum Herrn<lb/> v- K.: Das ist ja reizend, von der angeblichen Gewissenstyrannei des Klerus<lb/> will man die Katholiken befreien, und nnn fängt man das Befreiungswerk<lb/> damit an, daß Gendarmen in die Gemeinden Geistliche einführen, von denen<lb/> jene nichts wissen mögen! Aber der Unwille über diese thörichte Wirtschaft<lb/> wurde damals bei mir noch überwogen von dem Unwillen über den Druck,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0335]
Wandlungen des Ich im Zeitenstrome
Unter diesen Umständen wcir in der Diözese Breslciu die vor dein Standes¬
amt geschlossene Ehe nach dem kanonischen Recht zweifellos giltig. Ob das
die geistlichen Behörden zugestanden haben würden, wenn man sich nicht gerade
im Kulturkampf befunden hätte, kann ich nicht wissen. Jedenfalls macht es
der Kriegszustand erklärlich, daß an die Pfarrer eine streng vertrauliche Ver¬
fügung erging, wonach fortan in der Osterzeit das tridentinische Dekret in jeder
Gemeinde verkündigt werden sollte, und damit hörte auch der Zustand der
Unschuld für deu katholischen Teil solcher gemischten Brautpaare auf, die sich
in der evangelischen Kirche trauen oder, wie man nach Einführung der Zivilehe
sagen muß, einsegnen lassen. Mich entrüstete diese Perfidie, wofür ich damals
die taktisch ganz richtige Maßregel ansah, und ich schrieb ungefähr das, was
ich hier gesagt habe, an die Schlesische Zeitung, die es aber, wie gesagt,
uicht verwendbar faud. Mehrere Jahre später entbrannte ein heftiger Streit
über die Angelegenheit, weil das tridentinische Dekret in Berlin und in
Schweidnitz an die Kirchthür angeschlagen worden war. Der Streit verlief,
wie solche Streitigkeiten zu verlaufen pflegen: die protestantischen Angreifer
schössen beharrlich vorbei, und die Katholiken wurden durch den Angriff bloß
gereizt, aber nicht geschädigt. Unzähligemal wurde in den protestantischen
Zeitungen der Vorwurf wiederholt, die evangelischen Ehen würden von den
Katholiken für Koukubinate erklärt, was einfach unwahr ist; die katholische
Kirche erklärt nicht allein die evangelischen, sondern auch die jüdischen und
heidnischen Ehen für wirkliche und giltige Ehen; das tridentinische Dekret gilt
nur für die Katholiken, und auch für diese, wie gesagt, nur dort, wo es ver¬
kündigt ist; den giltigen Ehen der Häretiker und Schismatiker kommt nach
Gury sogar der sakramentale Charakter zu. Den richtigen Angriffspunkt: daß
der Fürstbischof das vorher nicht verkündigte Dekret gerade in jenem Augenblick
amtlich bekannt zu machen befahl, hat kein einziger der Angreifer getroffen,
nicht einmal ein Jurist, soviel ich mich entsinnen kann, wie denn überhaupt
Protestantische Juristen in der Kunst, kirchliche Rechtsverhältnisse mißzuverstehen,
mit gewöhnlichen protestantischen Zeitungsschreibern wettzneifern scheinen; einen
recht merkwürdigen Fall dieser Art will ich später noch anführen.
In dem Drange, wenigstens etwas zu thun, sei es anch das allerdümmste,
erklärte ich meine Beistimmung zur Staatskatholikenadresse. Eine Dummheit
war das, denn das Staatskatholikentum ist mir vom ersten Augenblick bis
zum letzten so widerwärtig wie möglich gewesen. Als im Posenschen einer
Gemeinde der erste Staatspfarrer aufgezwungen wurde, sagte ich zum Herrn
v- K.: Das ist ja reizend, von der angeblichen Gewissenstyrannei des Klerus
will man die Katholiken befreien, und nnn fängt man das Befreiungswerk
damit an, daß Gendarmen in die Gemeinden Geistliche einführen, von denen
jene nichts wissen mögen! Aber der Unwille über diese thörichte Wirtschaft
wurde damals bei mir noch überwogen von dem Unwillen über den Druck,
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