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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Infektionskrankheiten

und Wissenschaft nennen, wenn man meint, die Behandlung der Tuberkulösen
ans nichts weiter als die subkutanen Injektionen zu gründen. Der kranke
Mensch verlangt, selbst wenn ein untrügliches Spezifikum gegeben wäre, noch
mehr Rücksicht und ärztliche Behandlung. Wer in der ärztlichen Kunst nichts
weiter sieht als einen schematischen Mechanismus, der sollte dem Krankenbette
fern bleibe". Die Folgen eines so barbarischen Verfahrens können nicht aus¬
bleiben und sind nicht ausgeblieben. Wenn nicht Wissenschaft und Kunst,
Wissen und Humanität, Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt Hand in Hand gehen,
so hat die ärztliche Kunst keine segensreiche Zukunft zu erwarten." Das sind
goldne Worte, die verdienen, von Ärzten und Laien gleichmäßig gewürdigt und
beherzigt zu werden: von den Ärzten im Interesse ihrer wissenschaftlichen und
sittlichen Ausbildung, der Humaner Ausübung ihres Berufs und der sozialen
Hebung ihres Standes; von den Laien zunächst zu ihrem eignen Vorteil und
dem der Gesamtheit in der Gesundheitspflege, sodann zum Zweck gerechterer
Würdigung der Aufgaben des Arztes, der Schwierigkeiten seines Berufs und
der Anerkennung seiner Leistungen nach der ideellen und materiellen Seite.
Denn gerade auf diesem Gebiete, wo sich die Interessenkreise beider so vielfach
schneiden, gilt der Spruch: ?sooatmr intra, muros se extra und erschwert in
hohem Maße nicht nur die Herstellung eines harmonischen, auf gegenseitigem
Verständnis und Vertrauen beruhenden Verhältnisses, sondern auch ein dem
Gesamtwohl förderliches Zusammenwirken auf dem doch so dankbaren Felde
der öffentlichen Gesundheitspflege. Wen dabei der größere Teil der Schuld
trifft, will ich hier nicht untersuchen; so viel steht fest, daß sich die immer
stärker hervortretende Spannung zwischen der offiziellen Medizin und dem
Publikum sehr rasch vermindern würde, wenn die Ärzte mehr Rücksicht nähmen
mif die wirklichem Bedürfnisse der Kranken, deren erstes ist. die Gesundheit
wieder zu erlangen oder, wie das Volk sagt, "kurirt" zu werden, und wenn
sich die Laien ein wenig mehr Mühe geben wollten, in den Geist und die
Methoden wissenschaftlicher Forschung einzudringen und die Beziehungen des
gesunden und kranken Leibes zur Außenwelt kennen zu lernen. Und weil ich
überzeugt bin, daß gerade die hier von mir besprochne Krankheit, die Diph¬
therie, dazu geeignet ist, weitern Kreisen einen Einblick zu gewähren in die
Arbeitswerkstatt und die Ideenwelt hervorragender Ärzte, so will ich hier die
wissenschaftlichen, theoretischen und experimentellen Grundlagen, die zur Ent¬
deckung des neuen Diphtherieheilmittels geführt haben, zu entwickeln versuchen.

Es ist ein im Volke weit verbreiteter Satz: die Natur hilft sich ^ in
Krankheiten -- selbst. Etwas ähnliches galt früher einmal auch bei den Ärzten,
als sie noch sagten: Der Arzt soll Diener der Natur sein. Freilich decken sich
beide Aussprüche nicht ganz. Der volkstümliche Satz schiebt der Natur selbst
d- h. dem erkrankten Organismus, die Rolle des Heilmeisters zu; der ärztliche
schließt noch immer ein thätiges Eingreifen des Arztes in die Krnnkheitsprozesse
ein, indem er ihm nur gebietet, den Winken und Fingerzeigen der Natur zu


Die Infektionskrankheiten

und Wissenschaft nennen, wenn man meint, die Behandlung der Tuberkulösen
ans nichts weiter als die subkutanen Injektionen zu gründen. Der kranke
Mensch verlangt, selbst wenn ein untrügliches Spezifikum gegeben wäre, noch
mehr Rücksicht und ärztliche Behandlung. Wer in der ärztlichen Kunst nichts
weiter sieht als einen schematischen Mechanismus, der sollte dem Krankenbette
fern bleibe». Die Folgen eines so barbarischen Verfahrens können nicht aus¬
bleiben und sind nicht ausgeblieben. Wenn nicht Wissenschaft und Kunst,
Wissen und Humanität, Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt Hand in Hand gehen,
so hat die ärztliche Kunst keine segensreiche Zukunft zu erwarten." Das sind
goldne Worte, die verdienen, von Ärzten und Laien gleichmäßig gewürdigt und
beherzigt zu werden: von den Ärzten im Interesse ihrer wissenschaftlichen und
sittlichen Ausbildung, der Humaner Ausübung ihres Berufs und der sozialen
Hebung ihres Standes; von den Laien zunächst zu ihrem eignen Vorteil und
dem der Gesamtheit in der Gesundheitspflege, sodann zum Zweck gerechterer
Würdigung der Aufgaben des Arztes, der Schwierigkeiten seines Berufs und
der Anerkennung seiner Leistungen nach der ideellen und materiellen Seite.
Denn gerade auf diesem Gebiete, wo sich die Interessenkreise beider so vielfach
schneiden, gilt der Spruch: ?sooatmr intra, muros se extra und erschwert in
hohem Maße nicht nur die Herstellung eines harmonischen, auf gegenseitigem
Verständnis und Vertrauen beruhenden Verhältnisses, sondern auch ein dem
Gesamtwohl förderliches Zusammenwirken auf dem doch so dankbaren Felde
der öffentlichen Gesundheitspflege. Wen dabei der größere Teil der Schuld
trifft, will ich hier nicht untersuchen; so viel steht fest, daß sich die immer
stärker hervortretende Spannung zwischen der offiziellen Medizin und dem
Publikum sehr rasch vermindern würde, wenn die Ärzte mehr Rücksicht nähmen
mif die wirklichem Bedürfnisse der Kranken, deren erstes ist. die Gesundheit
wieder zu erlangen oder, wie das Volk sagt, „kurirt" zu werden, und wenn
sich die Laien ein wenig mehr Mühe geben wollten, in den Geist und die
Methoden wissenschaftlicher Forschung einzudringen und die Beziehungen des
gesunden und kranken Leibes zur Außenwelt kennen zu lernen. Und weil ich
überzeugt bin, daß gerade die hier von mir besprochne Krankheit, die Diph¬
therie, dazu geeignet ist, weitern Kreisen einen Einblick zu gewähren in die
Arbeitswerkstatt und die Ideenwelt hervorragender Ärzte, so will ich hier die
wissenschaftlichen, theoretischen und experimentellen Grundlagen, die zur Ent¬
deckung des neuen Diphtherieheilmittels geführt haben, zu entwickeln versuchen.

Es ist ein im Volke weit verbreiteter Satz: die Natur hilft sich ^ in
Krankheiten — selbst. Etwas ähnliches galt früher einmal auch bei den Ärzten,
als sie noch sagten: Der Arzt soll Diener der Natur sein. Freilich decken sich
beide Aussprüche nicht ganz. Der volkstümliche Satz schiebt der Natur selbst
d- h. dem erkrankten Organismus, die Rolle des Heilmeisters zu; der ärztliche
schließt noch immer ein thätiges Eingreifen des Arztes in die Krnnkheitsprozesse
ein, indem er ihm nur gebietet, den Winken und Fingerzeigen der Natur zu


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[0031] Die Infektionskrankheiten und Wissenschaft nennen, wenn man meint, die Behandlung der Tuberkulösen ans nichts weiter als die subkutanen Injektionen zu gründen. Der kranke Mensch verlangt, selbst wenn ein untrügliches Spezifikum gegeben wäre, noch mehr Rücksicht und ärztliche Behandlung. Wer in der ärztlichen Kunst nichts weiter sieht als einen schematischen Mechanismus, der sollte dem Krankenbette fern bleibe». Die Folgen eines so barbarischen Verfahrens können nicht aus¬ bleiben und sind nicht ausgeblieben. Wenn nicht Wissenschaft und Kunst, Wissen und Humanität, Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt Hand in Hand gehen, so hat die ärztliche Kunst keine segensreiche Zukunft zu erwarten." Das sind goldne Worte, die verdienen, von Ärzten und Laien gleichmäßig gewürdigt und beherzigt zu werden: von den Ärzten im Interesse ihrer wissenschaftlichen und sittlichen Ausbildung, der Humaner Ausübung ihres Berufs und der sozialen Hebung ihres Standes; von den Laien zunächst zu ihrem eignen Vorteil und dem der Gesamtheit in der Gesundheitspflege, sodann zum Zweck gerechterer Würdigung der Aufgaben des Arztes, der Schwierigkeiten seines Berufs und der Anerkennung seiner Leistungen nach der ideellen und materiellen Seite. Denn gerade auf diesem Gebiete, wo sich die Interessenkreise beider so vielfach schneiden, gilt der Spruch: ?sooatmr intra, muros se extra und erschwert in hohem Maße nicht nur die Herstellung eines harmonischen, auf gegenseitigem Verständnis und Vertrauen beruhenden Verhältnisses, sondern auch ein dem Gesamtwohl förderliches Zusammenwirken auf dem doch so dankbaren Felde der öffentlichen Gesundheitspflege. Wen dabei der größere Teil der Schuld trifft, will ich hier nicht untersuchen; so viel steht fest, daß sich die immer stärker hervortretende Spannung zwischen der offiziellen Medizin und dem Publikum sehr rasch vermindern würde, wenn die Ärzte mehr Rücksicht nähmen mif die wirklichem Bedürfnisse der Kranken, deren erstes ist. die Gesundheit wieder zu erlangen oder, wie das Volk sagt, „kurirt" zu werden, und wenn sich die Laien ein wenig mehr Mühe geben wollten, in den Geist und die Methoden wissenschaftlicher Forschung einzudringen und die Beziehungen des gesunden und kranken Leibes zur Außenwelt kennen zu lernen. Und weil ich überzeugt bin, daß gerade die hier von mir besprochne Krankheit, die Diph¬ therie, dazu geeignet ist, weitern Kreisen einen Einblick zu gewähren in die Arbeitswerkstatt und die Ideenwelt hervorragender Ärzte, so will ich hier die wissenschaftlichen, theoretischen und experimentellen Grundlagen, die zur Ent¬ deckung des neuen Diphtherieheilmittels geführt haben, zu entwickeln versuchen. Es ist ein im Volke weit verbreiteter Satz: die Natur hilft sich ^ in Krankheiten — selbst. Etwas ähnliches galt früher einmal auch bei den Ärzten, als sie noch sagten: Der Arzt soll Diener der Natur sein. Freilich decken sich beide Aussprüche nicht ganz. Der volkstümliche Satz schiebt der Natur selbst d- h. dem erkrankten Organismus, die Rolle des Heilmeisters zu; der ärztliche schließt noch immer ein thätiges Eingreifen des Arztes in die Krnnkheitsprozesse ein, indem er ihm nur gebietet, den Winken und Fingerzeigen der Natur zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/31>, abgerufen am 01.09.2024.