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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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von den Berliner Theatern

thenter diese angeblich duftige Blüte jungdeutscher Poesie mehr mis hundertmal
spielte, und Männlein und Weiblein sich an der Liebelei gar nicht satt sehen konnten,
sah sich anderwärts die Polizei hie und da zu einem Veto bewogen. Der Vor¬
urteilslose könnte beide Parteien, die Preisenden wie die in ihrem Schamgefühl
Verletzten, gleicherweise fragein Wozu der Lärm? Gewiß, das Drama hat gewisse
"intime" Reize; die Stimmung des Pfarrhauses ist fein getroffen, der Gegensatz
zwischen beiden Geistlichen, dem Duldsamen und dem entsagenden Fanatiker, scharf
herausgearbeitet, die Licbestäudelei der beiden jungen Leute, trotz ihrer mehr
oder minder bewußten Sinnlichkeit, mit einer gewissen Zartheit behandelt; das
Werk erhebt sich sicher über manches, was die Armseligkeit der letzten Jahre hervor¬
gebracht hat, es giebt uns Menschen. Aber ihr Thun und ihr Schicksal wirkt nicht
tief und nachhaltig; das Ganze ist mehr Episode, mehr Stimmung, als ein ge¬
schlossenes, in sich fest gefügtes Drama; schon heute können die Bühnen das Stück
nicht mehr aufführen, ohne vor leeren Bänken zu spielen. Darum hätten anch die
Vorkämpfer für "Ordnung und Sitte" minder laut zu sein brauchen. Bringen
doch die Zeitungsreporter fast täglich Geschichtchen wie die, die da im Pfarrhause
geschehen; das Alltägliche aber ist flüchtig und wird vergessen.

Halbes "Lebenswerte" bedeutet leider nichts besseres als die "Jugend." Merk¬
würdig: keiner der "Modernen" hat seither einen Fortschritt bekundet; Hauvtinami
sind keine Weber, Sudermnnn ist keine Ehre mehr gelungen. Haben sie sich mit ihren
ersten Wurfen ausgegeben? Oder. unterlassen sie es, nach Größe im Stoff, nach
Größe in der Komposition zu trachten? Der zuletzt angedeutete Mnugel hat in erster
Linie die "Lebeusweudc" zu Falle gebracht. Denn die "Moderne," wie sie Herr
Halbe vertritt, verachtet das überkvmmne dramatische Gesetz. Wozu die Steigerung,
wozu das Walten von Schuld und Sühne, wozu am Schluß das tabula, ävovt?
Macht es das Leben so? Nein! Wir wollen aber Leben geben. Nun, sehen wir
uns einmal an, wie das in der "Lebenswerte" gemacht wird.

Wir sind in Berlin, in einer anständigen mittlern Wohnung. Da sanft eine
ledige Olga Hensel und, zur Zeit besuchsweise, ihre Nichte Bertha Ein Student,
Ebert, wohnt zur Aftermiete. Die drei vertragen sich muss beste.

Ebert ist zwar ein verbummelter, versoffner Mensch, der sich nicht anders
zeigt als dreiviertel delirirend; das hindert aber Nieder Fräulein Hensel noch ihre
Nichte, den widerwärtigen .Kerl sehr nett zu finden; ja Fräulein Bertha läßt sich
sogar gern ein Küßchen von ihm gefallen. Überhaupt ein hübsches Pflänzchen,
diese Bertha: "höhere Tochter" (der Pupa höherer Beamter) aus der richtigen
"Provinz," nämlich ans Graudenz, aber altklug, lüstern, frech. Arme Provinz,
armes Graudenz! Sollte aber nicht Herr Halbe um die Mittagszeit, wenn die
Schulen ans sind, die höhern Töchter Berlins studirt und dabei ein Stückchen seiner
Bertha kennen gelernt haben?

Noch zwei Männer kreuzen die Pfade der Olga. Der eine ist der Geheimnis¬
volle , mit der Vergangenheit, ans Amerika. Er hat einst mit Olga gespielt und
sie geliebt. Während er fort war, ist ein andrer gekommen und Olgas Verlobter
geworden; aber ein schreckliches Unglück hat ihn hinweggerissen. Nun ist Hehre,
der Jugeudgcspiele, wieder dn, ohne jedoch Olga tiefere Neigung einzuflößen. Dazu
bedarf es eines andern, eines Mannes der Kraft und der That. Das ist der
Techniker Weyland.*) Ein Jugendgenosse Eberts, kommt er von ungefähr in Frau-



*) WiV mtciessant, wie aus dem Leben, dnß smvohl Heyne mis mich Weylniid sich ",it
dem y schreibt!
von den Berliner Theatern

thenter diese angeblich duftige Blüte jungdeutscher Poesie mehr mis hundertmal
spielte, und Männlein und Weiblein sich an der Liebelei gar nicht satt sehen konnten,
sah sich anderwärts die Polizei hie und da zu einem Veto bewogen. Der Vor¬
urteilslose könnte beide Parteien, die Preisenden wie die in ihrem Schamgefühl
Verletzten, gleicherweise fragein Wozu der Lärm? Gewiß, das Drama hat gewisse
„intime" Reize; die Stimmung des Pfarrhauses ist fein getroffen, der Gegensatz
zwischen beiden Geistlichen, dem Duldsamen und dem entsagenden Fanatiker, scharf
herausgearbeitet, die Licbestäudelei der beiden jungen Leute, trotz ihrer mehr
oder minder bewußten Sinnlichkeit, mit einer gewissen Zartheit behandelt; das
Werk erhebt sich sicher über manches, was die Armseligkeit der letzten Jahre hervor¬
gebracht hat, es giebt uns Menschen. Aber ihr Thun und ihr Schicksal wirkt nicht
tief und nachhaltig; das Ganze ist mehr Episode, mehr Stimmung, als ein ge¬
schlossenes, in sich fest gefügtes Drama; schon heute können die Bühnen das Stück
nicht mehr aufführen, ohne vor leeren Bänken zu spielen. Darum hätten anch die
Vorkämpfer für „Ordnung und Sitte" minder laut zu sein brauchen. Bringen
doch die Zeitungsreporter fast täglich Geschichtchen wie die, die da im Pfarrhause
geschehen; das Alltägliche aber ist flüchtig und wird vergessen.

Halbes „Lebenswerte" bedeutet leider nichts besseres als die „Jugend." Merk¬
würdig: keiner der „Modernen" hat seither einen Fortschritt bekundet; Hauvtinami
sind keine Weber, Sudermnnn ist keine Ehre mehr gelungen. Haben sie sich mit ihren
ersten Wurfen ausgegeben? Oder. unterlassen sie es, nach Größe im Stoff, nach
Größe in der Komposition zu trachten? Der zuletzt angedeutete Mnugel hat in erster
Linie die „Lebeusweudc" zu Falle gebracht. Denn die „Moderne," wie sie Herr
Halbe vertritt, verachtet das überkvmmne dramatische Gesetz. Wozu die Steigerung,
wozu das Walten von Schuld und Sühne, wozu am Schluß das tabula, ävovt?
Macht es das Leben so? Nein! Wir wollen aber Leben geben. Nun, sehen wir
uns einmal an, wie das in der „Lebenswerte" gemacht wird.

Wir sind in Berlin, in einer anständigen mittlern Wohnung. Da sanft eine
ledige Olga Hensel und, zur Zeit besuchsweise, ihre Nichte Bertha Ein Student,
Ebert, wohnt zur Aftermiete. Die drei vertragen sich muss beste.

Ebert ist zwar ein verbummelter, versoffner Mensch, der sich nicht anders
zeigt als dreiviertel delirirend; das hindert aber Nieder Fräulein Hensel noch ihre
Nichte, den widerwärtigen .Kerl sehr nett zu finden; ja Fräulein Bertha läßt sich
sogar gern ein Küßchen von ihm gefallen. Überhaupt ein hübsches Pflänzchen,
diese Bertha: „höhere Tochter" (der Pupa höherer Beamter) aus der richtigen
„Provinz," nämlich ans Graudenz, aber altklug, lüstern, frech. Arme Provinz,
armes Graudenz! Sollte aber nicht Herr Halbe um die Mittagszeit, wenn die
Schulen ans sind, die höhern Töchter Berlins studirt und dabei ein Stückchen seiner
Bertha kennen gelernt haben?

Noch zwei Männer kreuzen die Pfade der Olga. Der eine ist der Geheimnis¬
volle , mit der Vergangenheit, ans Amerika. Er hat einst mit Olga gespielt und
sie geliebt. Während er fort war, ist ein andrer gekommen und Olgas Verlobter
geworden; aber ein schreckliches Unglück hat ihn hinweggerissen. Nun ist Hehre,
der Jugeudgcspiele, wieder dn, ohne jedoch Olga tiefere Neigung einzuflößen. Dazu
bedarf es eines andern, eines Mannes der Kraft und der That. Das ist der
Techniker Weyland.*) Ein Jugendgenosse Eberts, kommt er von ungefähr in Frau-



*) WiV mtciessant, wie aus dem Leben, dnß smvohl Heyne mis mich Weylniid sich »,it
dem y schreibt!
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[0291] von den Berliner Theatern thenter diese angeblich duftige Blüte jungdeutscher Poesie mehr mis hundertmal spielte, und Männlein und Weiblein sich an der Liebelei gar nicht satt sehen konnten, sah sich anderwärts die Polizei hie und da zu einem Veto bewogen. Der Vor¬ urteilslose könnte beide Parteien, die Preisenden wie die in ihrem Schamgefühl Verletzten, gleicherweise fragein Wozu der Lärm? Gewiß, das Drama hat gewisse „intime" Reize; die Stimmung des Pfarrhauses ist fein getroffen, der Gegensatz zwischen beiden Geistlichen, dem Duldsamen und dem entsagenden Fanatiker, scharf herausgearbeitet, die Licbestäudelei der beiden jungen Leute, trotz ihrer mehr oder minder bewußten Sinnlichkeit, mit einer gewissen Zartheit behandelt; das Werk erhebt sich sicher über manches, was die Armseligkeit der letzten Jahre hervor¬ gebracht hat, es giebt uns Menschen. Aber ihr Thun und ihr Schicksal wirkt nicht tief und nachhaltig; das Ganze ist mehr Episode, mehr Stimmung, als ein ge¬ schlossenes, in sich fest gefügtes Drama; schon heute können die Bühnen das Stück nicht mehr aufführen, ohne vor leeren Bänken zu spielen. Darum hätten anch die Vorkämpfer für „Ordnung und Sitte" minder laut zu sein brauchen. Bringen doch die Zeitungsreporter fast täglich Geschichtchen wie die, die da im Pfarrhause geschehen; das Alltägliche aber ist flüchtig und wird vergessen. Halbes „Lebenswerte" bedeutet leider nichts besseres als die „Jugend." Merk¬ würdig: keiner der „Modernen" hat seither einen Fortschritt bekundet; Hauvtinami sind keine Weber, Sudermnnn ist keine Ehre mehr gelungen. Haben sie sich mit ihren ersten Wurfen ausgegeben? Oder. unterlassen sie es, nach Größe im Stoff, nach Größe in der Komposition zu trachten? Der zuletzt angedeutete Mnugel hat in erster Linie die „Lebeusweudc" zu Falle gebracht. Denn die „Moderne," wie sie Herr Halbe vertritt, verachtet das überkvmmne dramatische Gesetz. Wozu die Steigerung, wozu das Walten von Schuld und Sühne, wozu am Schluß das tabula, ävovt? Macht es das Leben so? Nein! Wir wollen aber Leben geben. Nun, sehen wir uns einmal an, wie das in der „Lebenswerte" gemacht wird. Wir sind in Berlin, in einer anständigen mittlern Wohnung. Da sanft eine ledige Olga Hensel und, zur Zeit besuchsweise, ihre Nichte Bertha Ein Student, Ebert, wohnt zur Aftermiete. Die drei vertragen sich muss beste. Ebert ist zwar ein verbummelter, versoffner Mensch, der sich nicht anders zeigt als dreiviertel delirirend; das hindert aber Nieder Fräulein Hensel noch ihre Nichte, den widerwärtigen .Kerl sehr nett zu finden; ja Fräulein Bertha läßt sich sogar gern ein Küßchen von ihm gefallen. Überhaupt ein hübsches Pflänzchen, diese Bertha: „höhere Tochter" (der Pupa höherer Beamter) aus der richtigen „Provinz," nämlich ans Graudenz, aber altklug, lüstern, frech. Arme Provinz, armes Graudenz! Sollte aber nicht Herr Halbe um die Mittagszeit, wenn die Schulen ans sind, die höhern Töchter Berlins studirt und dabei ein Stückchen seiner Bertha kennen gelernt haben? Noch zwei Männer kreuzen die Pfade der Olga. Der eine ist der Geheimnis¬ volle , mit der Vergangenheit, ans Amerika. Er hat einst mit Olga gespielt und sie geliebt. Während er fort war, ist ein andrer gekommen und Olgas Verlobter geworden; aber ein schreckliches Unglück hat ihn hinweggerissen. Nun ist Hehre, der Jugeudgcspiele, wieder dn, ohne jedoch Olga tiefere Neigung einzuflößen. Dazu bedarf es eines andern, eines Mannes der Kraft und der That. Das ist der Techniker Weyland.*) Ein Jugendgenosse Eberts, kommt er von ungefähr in Frau- *) WiV mtciessant, wie aus dem Leben, dnß smvohl Heyne mis mich Weylniid sich »,it dem y schreibt!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/291>, abgerufen am 25.11.2024.