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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Englische historische Romane

es sich ausschließlich handelt, entspricht in einzelnen kräftigen Zügen ohne
Frage chronikalischen Überlieferungen und Aufzeichnungen aus der Zeit der
Restauration, führt ein paar Persönlichkeiten und Szenen lebendig vor Augen,
laßt aber die Hauptsache in unglaublicher Weise fallen, John Ritt deutet
kaum einmal an, wie König Jakobs düstres, drohendes Regiment auf das
lustige Altengland in allen Lebenskreisen zurückwirkte, er selbst gerät in das
Getümmel der Schlacht von Sedgemoor, in der Herzog MonmouthS Rebellen-
Heer von den Königlichen geschlagen wurde, aber was er berichtet, giebt kein
Bild des Vorgangs, während die Unthaten der geächteten Dooues und die
Abenteuer, die der Held in seinem ländliche" Besitztum erlebt, mit breiter Be¬
haglichkeit und lebendigen Farben geschildert sind. Die Vorzüge, die selbst
eine solche Art der Darstellung noch haben kann, hat Ad. Stern noch kürzlich
in seinen "Studien zur Litteratur der Gegenwart" (S. 440) dahin charakterisirt:
"Das stoffliche Interesse, der durchgebildete Blick für die Äußerlichkeiten und
Sitten früherer Tage schließen natürlich noch keine Vergeistigung und poetische
Bedeutung in höherm Sinne ein. Aber sie verbieten dem Schriftsteller, der
sich auf diesem Felde auszeichnen will, das leichtfertige Gesudel, die unechte
Färbung, die völlige Nichtkenntnis der dargestellten Welt. Da in England
die Bücher vergangner Zeit selbst noch gelesen werden, so stößt der Erzähler,
der sich an Stoffe aus dem siebzehnten Jahrhundert wagt, auf die Sitten¬
bilder der gleichen Zeit. Man läßt sich die Erinnerung gern in neuer Fassung
gefallen, aber man hat die Erinnerung und stellt aus ihr heraus sehr be-
stimmende Forderungen an den modernen Romanschriftsteller, der kulturhistorische
Bilder geben will." Schade nur, setzen wir hinzu, daß diese Forderungen so
ganz äußerlich bleiben. Der Gesichtskreis des Helden geht über ein altes Erbgut,
ein neues Wappen, eine schöne junge Braut und Frau nicht hinaus, und die
Menschen, die Sir John Ritt sonst schildert, sind in noch engerm Baun be¬
fangen. Das ist nun recht eigentlich Butzeuscheibeukuust, unsre Teilnahme wird
im Grunde genommen sür alltägliche Schicksale und Durchschnittsmenschen in
Anspruch genommen, denen keinerlei poetische Vertiefung geliehen ist. Auf
dem Wege, den Blackmore in "Loma Dooue" einschlägt, kann ohne sonderliche
Mühe die ganze Sammlung der Staatsprozesse und ein Haufe Kriminalakten,
können die Chroniken sämtlicher Grafschaften, Wahl- und Marktflecken von
Altengland belletristisch verwendet werden. Während der historische Roman
früherer Zeiten mehr oder minder dem Weltbilde, dem Epos zustrebte und
schon darum eine andre Fülle und Mannichfaltigkeit einschloß, ist der gegen¬
wärtige dem herrschenden Zug zur Episode gefolgt und greift einen kleinen
Ausschnitt aus dein Kulturleben vergangner Tage -- natürlich unter steter
Berufung ans Treue und Echtheit -- heraus. Der Autor mag es unter
solchen Voraussetzungen anfangen, wie er will, seine Erfindung und Gestaltung
erhält entweder, wenn er Ausnahmemenschen und eigentümliche Verhältnisse


Englische historische Romane

es sich ausschließlich handelt, entspricht in einzelnen kräftigen Zügen ohne
Frage chronikalischen Überlieferungen und Aufzeichnungen aus der Zeit der
Restauration, führt ein paar Persönlichkeiten und Szenen lebendig vor Augen,
laßt aber die Hauptsache in unglaublicher Weise fallen, John Ritt deutet
kaum einmal an, wie König Jakobs düstres, drohendes Regiment auf das
lustige Altengland in allen Lebenskreisen zurückwirkte, er selbst gerät in das
Getümmel der Schlacht von Sedgemoor, in der Herzog MonmouthS Rebellen-
Heer von den Königlichen geschlagen wurde, aber was er berichtet, giebt kein
Bild des Vorgangs, während die Unthaten der geächteten Dooues und die
Abenteuer, die der Held in seinem ländliche» Besitztum erlebt, mit breiter Be¬
haglichkeit und lebendigen Farben geschildert sind. Die Vorzüge, die selbst
eine solche Art der Darstellung noch haben kann, hat Ad. Stern noch kürzlich
in seinen „Studien zur Litteratur der Gegenwart" (S. 440) dahin charakterisirt:
„Das stoffliche Interesse, der durchgebildete Blick für die Äußerlichkeiten und
Sitten früherer Tage schließen natürlich noch keine Vergeistigung und poetische
Bedeutung in höherm Sinne ein. Aber sie verbieten dem Schriftsteller, der
sich auf diesem Felde auszeichnen will, das leichtfertige Gesudel, die unechte
Färbung, die völlige Nichtkenntnis der dargestellten Welt. Da in England
die Bücher vergangner Zeit selbst noch gelesen werden, so stößt der Erzähler,
der sich an Stoffe aus dem siebzehnten Jahrhundert wagt, auf die Sitten¬
bilder der gleichen Zeit. Man läßt sich die Erinnerung gern in neuer Fassung
gefallen, aber man hat die Erinnerung und stellt aus ihr heraus sehr be-
stimmende Forderungen an den modernen Romanschriftsteller, der kulturhistorische
Bilder geben will." Schade nur, setzen wir hinzu, daß diese Forderungen so
ganz äußerlich bleiben. Der Gesichtskreis des Helden geht über ein altes Erbgut,
ein neues Wappen, eine schöne junge Braut und Frau nicht hinaus, und die
Menschen, die Sir John Ritt sonst schildert, sind in noch engerm Baun be¬
fangen. Das ist nun recht eigentlich Butzeuscheibeukuust, unsre Teilnahme wird
im Grunde genommen sür alltägliche Schicksale und Durchschnittsmenschen in
Anspruch genommen, denen keinerlei poetische Vertiefung geliehen ist. Auf
dem Wege, den Blackmore in „Loma Dooue" einschlägt, kann ohne sonderliche
Mühe die ganze Sammlung der Staatsprozesse und ein Haufe Kriminalakten,
können die Chroniken sämtlicher Grafschaften, Wahl- und Marktflecken von
Altengland belletristisch verwendet werden. Während der historische Roman
früherer Zeiten mehr oder minder dem Weltbilde, dem Epos zustrebte und
schon darum eine andre Fülle und Mannichfaltigkeit einschloß, ist der gegen¬
wärtige dem herrschenden Zug zur Episode gefolgt und greift einen kleinen
Ausschnitt aus dein Kulturleben vergangner Tage — natürlich unter steter
Berufung ans Treue und Echtheit — heraus. Der Autor mag es unter
solchen Voraussetzungen anfangen, wie er will, seine Erfindung und Gestaltung
erhält entweder, wenn er Ausnahmemenschen und eigentümliche Verhältnisse


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/199>, abgerufen am 01.09.2024.