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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Englische historische Romane

falls auch darein finden, daß Scotts naive Abenteuerlust von phantastischer
angelegten Naturen ins Gespenstische, Unwirkliche, Unmögliche gezogen wird,
oder daß Thackerays Wohlgefallen an der Sittenschilderung, seine lebhafte Teil¬
nahme an dem geistigen Ausdruck vergangner Zeit in eine geistlose Wiedergabe
alten Chroniken- und Sammelstoffes, in die mehr oder minder bewußte Wieder-
auflackirung vergilbter oder verschollner Bücher ausartet. Das Bedürfnis, der
Gegenwart auf Stunden zu entfliehen, wird sich auch bei uns in Deutschland
nicht ausrotten lassen, in England überläßt man sich ihm mit freiem Behagen.
Daß dies Behagen allein und selbst die leidenschaftlichste Neigung für Sitten
und Reliquien, Bilder und Bücher der Vergangenheit nicht ausreicht, der
historischen Erzählung Leben zu verleihen, ist gewiß; aber es scheint, daß
neuere englische Schriftsteller, unter denen sich selbst vielgepriesene Namen
(wie Walter Besant und James Rice) finden, diese Wahrheit als unbequem
zur Seite schieben. Und so sehen wir in der neuesten historischen Novellistik
der Engländer bald eine pretiöse, seltsam feierliche, symbolisch gespreizte und im
letzten Kern doch triviale Phantastik, bald eine Butzcnscheibenkunst vorwalten,
die wohl eine Aussicht auf unbegrenzte Zunahme solcher Bücher, aber keine
auf bleibende Schöpfungen gewährt. Die Hegemonie des englischen Romans
ist ohnehin längst zu Ende, die Zeit, wo ein Teil der Gebildeten nur fran¬
zösische, ein andrer nur englische Erzähler las, liegt weit hinter uns, die Zahl
der Übersetzungen hat abgenommen, aber die eigentlichen Modeerscheinungen,
die Aufsehen machenden Bücher werden noch immer übersetzt, und so erhalten
wir von Zeit zu Zeit Proben von dem, was sich drüben über dem Kanal im
Augenblick für bedeutend oder doch für vortrefflich hält und gehalten wird.

Eine höchst charakteristische Probe des unnatürlichen, geistreich-phantastischen,
mit der Milch verworrener Geschichtsphilosophie und dem Zaubertrank einer
unklaren Mystik genährten Geschichtsromans liegt uns in dem Roman: Der
Prinz von Indien oder der Fall von Konstcintinvpel von Lewis
Wallace vor (dem Verfasser eines vielgenannten Romans "Ben Hur"), aus
dem Englischen übersetzt von E. Albert Witte (Freiburg i. B., Fr. E. Fehsen-
feld, 1894). In zwei umfangreichen Bänden und in einem Vortragstempo,
das einigermaßen an die Grandezza der Sarabande erinnert, wird hier der
geheimste Zusammenhang der Begebenheiten erhellt, die zum Sturz des längst
baufälligen byzantinischen Reichs und der Eroberung von Konstantinopel durch
die Türken geführt haben. Der hindurchgehende Held, ein geheimnisvoller
Prinz von Indien, der an dem Fall der christlichen Stadt entscheidend Anteil
nimmt, entpuppt sich ziemlich früh als unser alter Bekannter, der ewige Jude.
Die Handlung selbst setzt sich aus breiten Schilderungen, denen mancherlei
archäologische Studien zu Grunde liegen, aus Szenen, die man ungefähr für
möglich und geschehen halten kaun, endlich aus mystischen Vorgängen zusammen,
die abwechselnd an arabische Märchenerzähler und an Eugen Sue anklingen.


Englische historische Romane

falls auch darein finden, daß Scotts naive Abenteuerlust von phantastischer
angelegten Naturen ins Gespenstische, Unwirkliche, Unmögliche gezogen wird,
oder daß Thackerays Wohlgefallen an der Sittenschilderung, seine lebhafte Teil¬
nahme an dem geistigen Ausdruck vergangner Zeit in eine geistlose Wiedergabe
alten Chroniken- und Sammelstoffes, in die mehr oder minder bewußte Wieder-
auflackirung vergilbter oder verschollner Bücher ausartet. Das Bedürfnis, der
Gegenwart auf Stunden zu entfliehen, wird sich auch bei uns in Deutschland
nicht ausrotten lassen, in England überläßt man sich ihm mit freiem Behagen.
Daß dies Behagen allein und selbst die leidenschaftlichste Neigung für Sitten
und Reliquien, Bilder und Bücher der Vergangenheit nicht ausreicht, der
historischen Erzählung Leben zu verleihen, ist gewiß; aber es scheint, daß
neuere englische Schriftsteller, unter denen sich selbst vielgepriesene Namen
(wie Walter Besant und James Rice) finden, diese Wahrheit als unbequem
zur Seite schieben. Und so sehen wir in der neuesten historischen Novellistik
der Engländer bald eine pretiöse, seltsam feierliche, symbolisch gespreizte und im
letzten Kern doch triviale Phantastik, bald eine Butzcnscheibenkunst vorwalten,
die wohl eine Aussicht auf unbegrenzte Zunahme solcher Bücher, aber keine
auf bleibende Schöpfungen gewährt. Die Hegemonie des englischen Romans
ist ohnehin längst zu Ende, die Zeit, wo ein Teil der Gebildeten nur fran¬
zösische, ein andrer nur englische Erzähler las, liegt weit hinter uns, die Zahl
der Übersetzungen hat abgenommen, aber die eigentlichen Modeerscheinungen,
die Aufsehen machenden Bücher werden noch immer übersetzt, und so erhalten
wir von Zeit zu Zeit Proben von dem, was sich drüben über dem Kanal im
Augenblick für bedeutend oder doch für vortrefflich hält und gehalten wird.

Eine höchst charakteristische Probe des unnatürlichen, geistreich-phantastischen,
mit der Milch verworrener Geschichtsphilosophie und dem Zaubertrank einer
unklaren Mystik genährten Geschichtsromans liegt uns in dem Roman: Der
Prinz von Indien oder der Fall von Konstcintinvpel von Lewis
Wallace vor (dem Verfasser eines vielgenannten Romans „Ben Hur"), aus
dem Englischen übersetzt von E. Albert Witte (Freiburg i. B., Fr. E. Fehsen-
feld, 1894). In zwei umfangreichen Bänden und in einem Vortragstempo,
das einigermaßen an die Grandezza der Sarabande erinnert, wird hier der
geheimste Zusammenhang der Begebenheiten erhellt, die zum Sturz des längst
baufälligen byzantinischen Reichs und der Eroberung von Konstantinopel durch
die Türken geführt haben. Der hindurchgehende Held, ein geheimnisvoller
Prinz von Indien, der an dem Fall der christlichen Stadt entscheidend Anteil
nimmt, entpuppt sich ziemlich früh als unser alter Bekannter, der ewige Jude.
Die Handlung selbst setzt sich aus breiten Schilderungen, denen mancherlei
archäologische Studien zu Grunde liegen, aus Szenen, die man ungefähr für
möglich und geschehen halten kaun, endlich aus mystischen Vorgängen zusammen,
die abwechselnd an arabische Märchenerzähler und an Eugen Sue anklingen.


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[0196] Englische historische Romane falls auch darein finden, daß Scotts naive Abenteuerlust von phantastischer angelegten Naturen ins Gespenstische, Unwirkliche, Unmögliche gezogen wird, oder daß Thackerays Wohlgefallen an der Sittenschilderung, seine lebhafte Teil¬ nahme an dem geistigen Ausdruck vergangner Zeit in eine geistlose Wiedergabe alten Chroniken- und Sammelstoffes, in die mehr oder minder bewußte Wieder- auflackirung vergilbter oder verschollner Bücher ausartet. Das Bedürfnis, der Gegenwart auf Stunden zu entfliehen, wird sich auch bei uns in Deutschland nicht ausrotten lassen, in England überläßt man sich ihm mit freiem Behagen. Daß dies Behagen allein und selbst die leidenschaftlichste Neigung für Sitten und Reliquien, Bilder und Bücher der Vergangenheit nicht ausreicht, der historischen Erzählung Leben zu verleihen, ist gewiß; aber es scheint, daß neuere englische Schriftsteller, unter denen sich selbst vielgepriesene Namen (wie Walter Besant und James Rice) finden, diese Wahrheit als unbequem zur Seite schieben. Und so sehen wir in der neuesten historischen Novellistik der Engländer bald eine pretiöse, seltsam feierliche, symbolisch gespreizte und im letzten Kern doch triviale Phantastik, bald eine Butzcnscheibenkunst vorwalten, die wohl eine Aussicht auf unbegrenzte Zunahme solcher Bücher, aber keine auf bleibende Schöpfungen gewährt. Die Hegemonie des englischen Romans ist ohnehin längst zu Ende, die Zeit, wo ein Teil der Gebildeten nur fran¬ zösische, ein andrer nur englische Erzähler las, liegt weit hinter uns, die Zahl der Übersetzungen hat abgenommen, aber die eigentlichen Modeerscheinungen, die Aufsehen machenden Bücher werden noch immer übersetzt, und so erhalten wir von Zeit zu Zeit Proben von dem, was sich drüben über dem Kanal im Augenblick für bedeutend oder doch für vortrefflich hält und gehalten wird. Eine höchst charakteristische Probe des unnatürlichen, geistreich-phantastischen, mit der Milch verworrener Geschichtsphilosophie und dem Zaubertrank einer unklaren Mystik genährten Geschichtsromans liegt uns in dem Roman: Der Prinz von Indien oder der Fall von Konstcintinvpel von Lewis Wallace vor (dem Verfasser eines vielgenannten Romans „Ben Hur"), aus dem Englischen übersetzt von E. Albert Witte (Freiburg i. B., Fr. E. Fehsen- feld, 1894). In zwei umfangreichen Bänden und in einem Vortragstempo, das einigermaßen an die Grandezza der Sarabande erinnert, wird hier der geheimste Zusammenhang der Begebenheiten erhellt, die zum Sturz des längst baufälligen byzantinischen Reichs und der Eroberung von Konstantinopel durch die Türken geführt haben. Der hindurchgehende Held, ein geheimnisvoller Prinz von Indien, der an dem Fall der christlichen Stadt entscheidend Anteil nimmt, entpuppt sich ziemlich früh als unser alter Bekannter, der ewige Jude. Die Handlung selbst setzt sich aus breiten Schilderungen, denen mancherlei archäologische Studien zu Grunde liegen, aus Szenen, die man ungefähr für möglich und geschehen halten kaun, endlich aus mystischen Vorgängen zusammen, die abwechselnd an arabische Märchenerzähler und an Eugen Sue anklingen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/196>, abgerufen am 01.09.2024.