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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Sittlichkeit auf dem Lande

verzehrt, sondern jenes Gewebe von unverstandnen und halb verstandnen
Glaubenssätzen, patriotischen Erinnerungen und Lebensgewohnheiten, das die
preußischen Fahnen mit dem Pastorentalar, den König, den Dr. Luther und
unsern Herrgott in unlösliche Verbindung mit einander gebracht hat und den
blinden Gehorsam der Masse gegen die Obrigkeit verbürgt. Wenn nun auf
einmal das echte, reine und tiefe Christentum fürs ganze Volk gefordert, wenn
von den einen das Gebot der Nächstenliebe, von den andern das Gebot der
Sittenreinheit völlig ernst genommen und dadurch eine Gärung hervorgerufen
wird, die eine soziale Umgestaltung zum Ziele hat, so ist das ganz und gar
nicht konservativ. Die Konservativen aber werden dadurch in die peinlichste
Verlegenheit gesetzt, weil Jahre hindurch in ihren eignen Organen nicht jene
Volksreligion, sondern das ernsthaft genommne Christentum als Gegenstand
ihrer Fürsorge hingestellt worden ist, und weil ihnen durch die Aufdeckung
der ländlichen Sittenzustande eine Waffe wider den städtischen Liberalismus
entwunden wird, da sie diesem stets vorgeworfen haben, daß er die Zucht-
losigkeit begünstige, worunter immer auch die Zuchtlosigkeit in geschlechtlichen
Dingen verstanden wurde, die geschlechtliche Sittlichkeit aber, die die Kon¬
servativen zu verteidigen vorgeben, seit 1878 von der Polizei und vom Straf¬
richter in einem so puritanisch strengen Sinne aufgefaßt wird, daß bei folge¬
richtiger Handhabung der Gesetze jetzt, nach dem Erscheinen dieser Bücher, viel
tausend Bauerfrauen ins Zuchthaus gesperrt und die Dörfer mit Schutzmännern
überschwemmt werden müßten. Es ist deshalb nicht zu verwundern, daß
Wagner und Wittenberg derselben Verdammnis verfallen sind wie Naumann
und Göhre, obgleich sie, soviel wir zu erkennen vermögen, mit deren Be¬
strebungen gar nichts zu schaffen haben und bloß im Dienste der Sittlichkeits¬
vereine und der Innern Mission wirken.'")





*) Nachdem das schon geschrieben war, ging uns noch Wittenbergs Broschüre zu:
"Was kann in sozialer Beziehung zur Hebung der Sittlichkeit auf dem Lande geschehen?"
(Göttingen, Vandenhveck und Ruprecht, 1896). Seine Vorschläge fallen, wie man sich denken
kann, so ziemlich mit den unsern zusammen, wenn er sie auch von einem theologischen Stand¬
punkt aus macht, den wir nicht einnehmen.
Die Sittlichkeit auf dem Lande

verzehrt, sondern jenes Gewebe von unverstandnen und halb verstandnen
Glaubenssätzen, patriotischen Erinnerungen und Lebensgewohnheiten, das die
preußischen Fahnen mit dem Pastorentalar, den König, den Dr. Luther und
unsern Herrgott in unlösliche Verbindung mit einander gebracht hat und den
blinden Gehorsam der Masse gegen die Obrigkeit verbürgt. Wenn nun auf
einmal das echte, reine und tiefe Christentum fürs ganze Volk gefordert, wenn
von den einen das Gebot der Nächstenliebe, von den andern das Gebot der
Sittenreinheit völlig ernst genommen und dadurch eine Gärung hervorgerufen
wird, die eine soziale Umgestaltung zum Ziele hat, so ist das ganz und gar
nicht konservativ. Die Konservativen aber werden dadurch in die peinlichste
Verlegenheit gesetzt, weil Jahre hindurch in ihren eignen Organen nicht jene
Volksreligion, sondern das ernsthaft genommne Christentum als Gegenstand
ihrer Fürsorge hingestellt worden ist, und weil ihnen durch die Aufdeckung
der ländlichen Sittenzustande eine Waffe wider den städtischen Liberalismus
entwunden wird, da sie diesem stets vorgeworfen haben, daß er die Zucht-
losigkeit begünstige, worunter immer auch die Zuchtlosigkeit in geschlechtlichen
Dingen verstanden wurde, die geschlechtliche Sittlichkeit aber, die die Kon¬
servativen zu verteidigen vorgeben, seit 1878 von der Polizei und vom Straf¬
richter in einem so puritanisch strengen Sinne aufgefaßt wird, daß bei folge¬
richtiger Handhabung der Gesetze jetzt, nach dem Erscheinen dieser Bücher, viel
tausend Bauerfrauen ins Zuchthaus gesperrt und die Dörfer mit Schutzmännern
überschwemmt werden müßten. Es ist deshalb nicht zu verwundern, daß
Wagner und Wittenberg derselben Verdammnis verfallen sind wie Naumann
und Göhre, obgleich sie, soviel wir zu erkennen vermögen, mit deren Be¬
strebungen gar nichts zu schaffen haben und bloß im Dienste der Sittlichkeits¬
vereine und der Innern Mission wirken.'")





*) Nachdem das schon geschrieben war, ging uns noch Wittenbergs Broschüre zu:
„Was kann in sozialer Beziehung zur Hebung der Sittlichkeit auf dem Lande geschehen?"
(Göttingen, Vandenhveck und Ruprecht, 1896). Seine Vorschläge fallen, wie man sich denken
kann, so ziemlich mit den unsern zusammen, wenn er sie auch von einem theologischen Stand¬
punkt aus macht, den wir nicht einnehmen.
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[0188] Die Sittlichkeit auf dem Lande verzehrt, sondern jenes Gewebe von unverstandnen und halb verstandnen Glaubenssätzen, patriotischen Erinnerungen und Lebensgewohnheiten, das die preußischen Fahnen mit dem Pastorentalar, den König, den Dr. Luther und unsern Herrgott in unlösliche Verbindung mit einander gebracht hat und den blinden Gehorsam der Masse gegen die Obrigkeit verbürgt. Wenn nun auf einmal das echte, reine und tiefe Christentum fürs ganze Volk gefordert, wenn von den einen das Gebot der Nächstenliebe, von den andern das Gebot der Sittenreinheit völlig ernst genommen und dadurch eine Gärung hervorgerufen wird, die eine soziale Umgestaltung zum Ziele hat, so ist das ganz und gar nicht konservativ. Die Konservativen aber werden dadurch in die peinlichste Verlegenheit gesetzt, weil Jahre hindurch in ihren eignen Organen nicht jene Volksreligion, sondern das ernsthaft genommne Christentum als Gegenstand ihrer Fürsorge hingestellt worden ist, und weil ihnen durch die Aufdeckung der ländlichen Sittenzustande eine Waffe wider den städtischen Liberalismus entwunden wird, da sie diesem stets vorgeworfen haben, daß er die Zucht- losigkeit begünstige, worunter immer auch die Zuchtlosigkeit in geschlechtlichen Dingen verstanden wurde, die geschlechtliche Sittlichkeit aber, die die Kon¬ servativen zu verteidigen vorgeben, seit 1878 von der Polizei und vom Straf¬ richter in einem so puritanisch strengen Sinne aufgefaßt wird, daß bei folge¬ richtiger Handhabung der Gesetze jetzt, nach dem Erscheinen dieser Bücher, viel tausend Bauerfrauen ins Zuchthaus gesperrt und die Dörfer mit Schutzmännern überschwemmt werden müßten. Es ist deshalb nicht zu verwundern, daß Wagner und Wittenberg derselben Verdammnis verfallen sind wie Naumann und Göhre, obgleich sie, soviel wir zu erkennen vermögen, mit deren Be¬ strebungen gar nichts zu schaffen haben und bloß im Dienste der Sittlichkeits¬ vereine und der Innern Mission wirken.'") *) Nachdem das schon geschrieben war, ging uns noch Wittenbergs Broschüre zu: „Was kann in sozialer Beziehung zur Hebung der Sittlichkeit auf dem Lande geschehen?" (Göttingen, Vandenhveck und Ruprecht, 1896). Seine Vorschläge fallen, wie man sich denken kann, so ziemlich mit den unsern zusammen, wenn er sie auch von einem theologischen Stand¬ punkt aus macht, den wir nicht einnehmen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/188>, abgerufen am 01.09.2024.