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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Sittlichkeit auf dem Lande

schleuniges Ende, Nachträglich sagte ihm jemand: "Wissen Sie, Herr Pastor,
warum Ihre Vereine auseinnndergegangen sind? Sie wollten die jungen Leute
fromm machen, und das lassen sie sich nicht gefallen." Das ist der Pastoren¬
fehler. Der Fehler der vornehmen weltlichen Reformatoren aber besteht darin,
daß sie sich "herablassen," und das ist den Leuten ebenfalls widerwärtig; dabei
fühlen sich beide Teile unbehaglich. Soll die Sache Erfolg haben, so muß
sich alles behaglich fühlen, muß also wirkliche, nicht bloß erzwungne oder in
guter Meinung erheuchelte Übereinstimmung herrschen; Übereinstimmung der
Herzen, Übereinstimmung in Empfindung und Geschmack (denn Übereinstimmung
im Denken ist freilich bei großen Bildungsunterschieden nicht möglich); was
den einen Spaß macht, muß auch den andern Spaß machen. Da besteht nun
die Hauptschwierigkeit darin, daß nirgends in der Welt ein solcher Kastengeist
herrscht wie in Deutschland. Ein Freund Wagners, der jetzt Pastor ist, hatte
als Einjährig-Freiwilliger seine sreie Zeit den Kameraden gewidmet, bei Spazier¬
gängen für harmlose Unterhaltung gesorgt u. dergl.; er wurde nicht in das
Offizierkorps aufgenommen, "weil er sich mit den Leuten zu gemein gemacht
habe." (Wagner S. 113.) Ja, wo die patriarchalischen Sitten geschwunden
und die Herren Bauern "Gutsbesitzer" geworden sind, da wollen sie nicht
einmal mehr mit den Kleinbauern, geschweige denn mit den Tagelöhnern ge¬
sellig verkehren. (Wittenberg II, S. 108, wo solches aus dem Regierungsbezirk
Magdeburg berichtet wird.)

Niemand wird die drei sozialen Änderungen, die hier als unerläßliche
Bedingungen einer Hebung der Sittlichkeit des Landvolkes aufgezählt worden
sind, an sich für unmöglich erklären, aber niemand wird auch erwarten, daß
sich die ostelbischen Großgrundbesitzer dafür begeistern werden. Und da liegt
nun die politische Bedeutung der Sache. Erhaltung der Religion und Sitte
gehört ins konservative Programm, ganz gewiß; aber nicht eben Pflege der
idealsten Religion und Sitte, und nicht etwa, weil es zu den Pflichten eines
konservativen Mannes gehört, fromm zu sein, sondern Erhaltung der Volks¬
religion und Volkssitte, weil der Grundsatz: Hülfe-a non wovsrs das Wesen
der konservativen Politik ausmacht. Konservativ ist es, in Nußland die
^"^xt^este,- vor den Heiligenbildern und vor dem Zaren, in Tirol den
römischen Katholizismus, in Konstantinopel den Islam, in Indien die religiös
geheiligte Absonderung der Kaste", bei den Kannibalen die Menschenfresserei
aufrecht zu erhalten; alle klugen Eroberer von den Römern bis auf die Eng¬
länder habe" sich ängstlich gehütet, es mit den Göttern der unterworfnen
Völker zu verderben, und ganz folgerichtig haben sich die echten Konservativen
Preußens geweigert, den Kulturkampf mitzumachen. Die Religion, die der
ostelbische Konservative aufrecht zu erhalten hat, ist nicht die lutherische Recht¬
fertigungslehre, sei es in Hengstenbergs, sei es in Ritschls Sinne, nicht die
Religion der Bergpredigt, nicht eine Gottesliebe, deren Feuer alles Unlautre


Die Sittlichkeit auf dem Lande

schleuniges Ende, Nachträglich sagte ihm jemand: „Wissen Sie, Herr Pastor,
warum Ihre Vereine auseinnndergegangen sind? Sie wollten die jungen Leute
fromm machen, und das lassen sie sich nicht gefallen." Das ist der Pastoren¬
fehler. Der Fehler der vornehmen weltlichen Reformatoren aber besteht darin,
daß sie sich „herablassen," und das ist den Leuten ebenfalls widerwärtig; dabei
fühlen sich beide Teile unbehaglich. Soll die Sache Erfolg haben, so muß
sich alles behaglich fühlen, muß also wirkliche, nicht bloß erzwungne oder in
guter Meinung erheuchelte Übereinstimmung herrschen; Übereinstimmung der
Herzen, Übereinstimmung in Empfindung und Geschmack (denn Übereinstimmung
im Denken ist freilich bei großen Bildungsunterschieden nicht möglich); was
den einen Spaß macht, muß auch den andern Spaß machen. Da besteht nun
die Hauptschwierigkeit darin, daß nirgends in der Welt ein solcher Kastengeist
herrscht wie in Deutschland. Ein Freund Wagners, der jetzt Pastor ist, hatte
als Einjährig-Freiwilliger seine sreie Zeit den Kameraden gewidmet, bei Spazier¬
gängen für harmlose Unterhaltung gesorgt u. dergl.; er wurde nicht in das
Offizierkorps aufgenommen, „weil er sich mit den Leuten zu gemein gemacht
habe." (Wagner S. 113.) Ja, wo die patriarchalischen Sitten geschwunden
und die Herren Bauern „Gutsbesitzer" geworden sind, da wollen sie nicht
einmal mehr mit den Kleinbauern, geschweige denn mit den Tagelöhnern ge¬
sellig verkehren. (Wittenberg II, S. 108, wo solches aus dem Regierungsbezirk
Magdeburg berichtet wird.)

Niemand wird die drei sozialen Änderungen, die hier als unerläßliche
Bedingungen einer Hebung der Sittlichkeit des Landvolkes aufgezählt worden
sind, an sich für unmöglich erklären, aber niemand wird auch erwarten, daß
sich die ostelbischen Großgrundbesitzer dafür begeistern werden. Und da liegt
nun die politische Bedeutung der Sache. Erhaltung der Religion und Sitte
gehört ins konservative Programm, ganz gewiß; aber nicht eben Pflege der
idealsten Religion und Sitte, und nicht etwa, weil es zu den Pflichten eines
konservativen Mannes gehört, fromm zu sein, sondern Erhaltung der Volks¬
religion und Volkssitte, weil der Grundsatz: Hülfe-a non wovsrs das Wesen
der konservativen Politik ausmacht. Konservativ ist es, in Nußland die
^»^xt^este,- vor den Heiligenbildern und vor dem Zaren, in Tirol den
römischen Katholizismus, in Konstantinopel den Islam, in Indien die religiös
geheiligte Absonderung der Kaste», bei den Kannibalen die Menschenfresserei
aufrecht zu erhalten; alle klugen Eroberer von den Römern bis auf die Eng¬
länder habe» sich ängstlich gehütet, es mit den Göttern der unterworfnen
Völker zu verderben, und ganz folgerichtig haben sich die echten Konservativen
Preußens geweigert, den Kulturkampf mitzumachen. Die Religion, die der
ostelbische Konservative aufrecht zu erhalten hat, ist nicht die lutherische Recht¬
fertigungslehre, sei es in Hengstenbergs, sei es in Ritschls Sinne, nicht die
Religion der Bergpredigt, nicht eine Gottesliebe, deren Feuer alles Unlautre


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[0187] Die Sittlichkeit auf dem Lande schleuniges Ende, Nachträglich sagte ihm jemand: „Wissen Sie, Herr Pastor, warum Ihre Vereine auseinnndergegangen sind? Sie wollten die jungen Leute fromm machen, und das lassen sie sich nicht gefallen." Das ist der Pastoren¬ fehler. Der Fehler der vornehmen weltlichen Reformatoren aber besteht darin, daß sie sich „herablassen," und das ist den Leuten ebenfalls widerwärtig; dabei fühlen sich beide Teile unbehaglich. Soll die Sache Erfolg haben, so muß sich alles behaglich fühlen, muß also wirkliche, nicht bloß erzwungne oder in guter Meinung erheuchelte Übereinstimmung herrschen; Übereinstimmung der Herzen, Übereinstimmung in Empfindung und Geschmack (denn Übereinstimmung im Denken ist freilich bei großen Bildungsunterschieden nicht möglich); was den einen Spaß macht, muß auch den andern Spaß machen. Da besteht nun die Hauptschwierigkeit darin, daß nirgends in der Welt ein solcher Kastengeist herrscht wie in Deutschland. Ein Freund Wagners, der jetzt Pastor ist, hatte als Einjährig-Freiwilliger seine sreie Zeit den Kameraden gewidmet, bei Spazier¬ gängen für harmlose Unterhaltung gesorgt u. dergl.; er wurde nicht in das Offizierkorps aufgenommen, „weil er sich mit den Leuten zu gemein gemacht habe." (Wagner S. 113.) Ja, wo die patriarchalischen Sitten geschwunden und die Herren Bauern „Gutsbesitzer" geworden sind, da wollen sie nicht einmal mehr mit den Kleinbauern, geschweige denn mit den Tagelöhnern ge¬ sellig verkehren. (Wittenberg II, S. 108, wo solches aus dem Regierungsbezirk Magdeburg berichtet wird.) Niemand wird die drei sozialen Änderungen, die hier als unerläßliche Bedingungen einer Hebung der Sittlichkeit des Landvolkes aufgezählt worden sind, an sich für unmöglich erklären, aber niemand wird auch erwarten, daß sich die ostelbischen Großgrundbesitzer dafür begeistern werden. Und da liegt nun die politische Bedeutung der Sache. Erhaltung der Religion und Sitte gehört ins konservative Programm, ganz gewiß; aber nicht eben Pflege der idealsten Religion und Sitte, und nicht etwa, weil es zu den Pflichten eines konservativen Mannes gehört, fromm zu sein, sondern Erhaltung der Volks¬ religion und Volkssitte, weil der Grundsatz: Hülfe-a non wovsrs das Wesen der konservativen Politik ausmacht. Konservativ ist es, in Nußland die ^»^xt^este,- vor den Heiligenbildern und vor dem Zaren, in Tirol den römischen Katholizismus, in Konstantinopel den Islam, in Indien die religiös geheiligte Absonderung der Kaste», bei den Kannibalen die Menschenfresserei aufrecht zu erhalten; alle klugen Eroberer von den Römern bis auf die Eng¬ länder habe» sich ängstlich gehütet, es mit den Göttern der unterworfnen Völker zu verderben, und ganz folgerichtig haben sich die echten Konservativen Preußens geweigert, den Kulturkampf mitzumachen. Die Religion, die der ostelbische Konservative aufrecht zu erhalten hat, ist nicht die lutherische Recht¬ fertigungslehre, sei es in Hengstenbergs, sei es in Ritschls Sinne, nicht die Religion der Bergpredigt, nicht eine Gottesliebe, deren Feuer alles Unlautre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/187>, abgerufen am 01.09.2024.