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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Sittlichkeit auf dem Lande

werden; die meisten der Mitarbeiter von Wittenbergs Buch bezeugen denn
auch, daß die Tagelöhner und das Gesinde durchschnittlich lüderlicher leben
als die Bauern. Von großer Bedeutung ist ferner der Gemütsinhalt einer
Bevölkerung. Das Geschlechtsleben bildet beim gesunden Erwachsenen einen
wesentlichen Bestandteil dieses Inhalts; den wievielten Teil davon, das hängt
von dem übrigen Inhalt ab. Beim ganz rohen Menschen kann es zeitweise das
Innere vollständig ausfüllen, bei einem von mannichfachen hoher" Interessen
bewegten zeitweise vollständig verschwunden zu sein scheinen. Zur Herstellung
des erwünschten Gleichgewichts zwischen dem sinnlichen und dem geistigen
Seeleninhalt sind aber die religiösen Einwirkungen, mit denen geistliche Jugend-
und Volkserzieher die Sinnlichkeit gewöhnlich einzudämmen versuchen, am aller-
ungeeignetsten. Mit religiösem Inhalt lassen sich nur die Seelen an- und
ausfüllen, die eine besondre Anlage für Religion haben, und diese ist, wie es
scheint, noch seltener als die für höhere Mathematik. Die meisten Menschen
fühlen sich durch Predigten und Erbauungsschriften gelangweilt (wühreuo der
Predigt schlafen die meisten, schreibt der Thüringer), und bei jungen Leuten
heißt still sitzen müssen und sich langweilen soviel wie an Allotria denken;
nur in der Form von Symbolen und symbolischen Handlungen, Kirchenschmuck
und Musik und prangenden Festlichkeiten, d. h. in der katholischen Form des
Gottesdienstes, vermag Religion auch den Durchschnittsmenschen zu fesseln und
abzuziehen. Wird die Einwirkung vollends in der Form eines Sittlichkeits¬
vereins betrieben, so wird die Einbildnngkraft geradezu auf den Gegenstand
hingelenkt, von dem sie abgezogen werden soll. Das Ablenken besorge" nur
solche Gegenstünde, die den Geist wirklich anfüllen und fesseln, und das ver¬
mögen meistens nur die weltlichen, darunter auch sogar sehr unheilige. Nicht
allein der Astronom, der am Himmel auf Kometen Jagd macht, sondern auch
der Jäger, der Hasen und Füchse pürscht, nicht allein der liebende Familien¬
vater, den die Sorge um Weib und Kind halb wahnsinnig macht, und der
ehrgeizige junge Mann, der nach einer Stellung in der Gesellschaft ringt,
sondern auch der leidenschaftliche Skatspieler und der Börsenspekulant, nicht
bloß der Abiturient, der für die Prüfung ochse, sondern auch der junge
Sportsman, der bei allen Fußballparticu und Wettradlereien den Sieg davon¬
tragen will, sie alle spüren oft lange Zeit nichts von sinnlichen Regungen.
Höhere Bildung, Weckung eines vielseitigen Interesses für die Dinge, die
außerhalb des eignen Leibes liegen und dessen Wohlbefinden nicht unmittelbar
beeinflussen, sind demnach die geeigneten Mittel, der Sinnlichkeit Schranken
zu ziehen. In der Seele eines Tagelöhners, der außer Essen, Trinken,
Schlafen und dem Geschlechtsgenuß nichts auf der Welt hat, als einförmige,
ihm gleichgiltige oder lästige Arbeit für eiuen ihm gleichgiltigen oder verhaßten
Herrn, wird die Sinnlichkeit ihre volle unheimliche Macht entfalten. Öffnet
sich einem solchen Menschen die Aussicht, eine eigne Scholle zu erwerben, so


Grenzboten I 1896 23
Die Sittlichkeit auf dem Lande

werden; die meisten der Mitarbeiter von Wittenbergs Buch bezeugen denn
auch, daß die Tagelöhner und das Gesinde durchschnittlich lüderlicher leben
als die Bauern. Von großer Bedeutung ist ferner der Gemütsinhalt einer
Bevölkerung. Das Geschlechtsleben bildet beim gesunden Erwachsenen einen
wesentlichen Bestandteil dieses Inhalts; den wievielten Teil davon, das hängt
von dem übrigen Inhalt ab. Beim ganz rohen Menschen kann es zeitweise das
Innere vollständig ausfüllen, bei einem von mannichfachen hoher» Interessen
bewegten zeitweise vollständig verschwunden zu sein scheinen. Zur Herstellung
des erwünschten Gleichgewichts zwischen dem sinnlichen und dem geistigen
Seeleninhalt sind aber die religiösen Einwirkungen, mit denen geistliche Jugend-
und Volkserzieher die Sinnlichkeit gewöhnlich einzudämmen versuchen, am aller-
ungeeignetsten. Mit religiösem Inhalt lassen sich nur die Seelen an- und
ausfüllen, die eine besondre Anlage für Religion haben, und diese ist, wie es
scheint, noch seltener als die für höhere Mathematik. Die meisten Menschen
fühlen sich durch Predigten und Erbauungsschriften gelangweilt (wühreuo der
Predigt schlafen die meisten, schreibt der Thüringer), und bei jungen Leuten
heißt still sitzen müssen und sich langweilen soviel wie an Allotria denken;
nur in der Form von Symbolen und symbolischen Handlungen, Kirchenschmuck
und Musik und prangenden Festlichkeiten, d. h. in der katholischen Form des
Gottesdienstes, vermag Religion auch den Durchschnittsmenschen zu fesseln und
abzuziehen. Wird die Einwirkung vollends in der Form eines Sittlichkeits¬
vereins betrieben, so wird die Einbildnngkraft geradezu auf den Gegenstand
hingelenkt, von dem sie abgezogen werden soll. Das Ablenken besorge» nur
solche Gegenstünde, die den Geist wirklich anfüllen und fesseln, und das ver¬
mögen meistens nur die weltlichen, darunter auch sogar sehr unheilige. Nicht
allein der Astronom, der am Himmel auf Kometen Jagd macht, sondern auch
der Jäger, der Hasen und Füchse pürscht, nicht allein der liebende Familien¬
vater, den die Sorge um Weib und Kind halb wahnsinnig macht, und der
ehrgeizige junge Mann, der nach einer Stellung in der Gesellschaft ringt,
sondern auch der leidenschaftliche Skatspieler und der Börsenspekulant, nicht
bloß der Abiturient, der für die Prüfung ochse, sondern auch der junge
Sportsman, der bei allen Fußballparticu und Wettradlereien den Sieg davon¬
tragen will, sie alle spüren oft lange Zeit nichts von sinnlichen Regungen.
Höhere Bildung, Weckung eines vielseitigen Interesses für die Dinge, die
außerhalb des eignen Leibes liegen und dessen Wohlbefinden nicht unmittelbar
beeinflussen, sind demnach die geeigneten Mittel, der Sinnlichkeit Schranken
zu ziehen. In der Seele eines Tagelöhners, der außer Essen, Trinken,
Schlafen und dem Geschlechtsgenuß nichts auf der Welt hat, als einförmige,
ihm gleichgiltige oder lästige Arbeit für eiuen ihm gleichgiltigen oder verhaßten
Herrn, wird die Sinnlichkeit ihre volle unheimliche Macht entfalten. Öffnet
sich einem solchen Menschen die Aussicht, eine eigne Scholle zu erwerben, so


Grenzboten I 1896 23
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[0185] Die Sittlichkeit auf dem Lande werden; die meisten der Mitarbeiter von Wittenbergs Buch bezeugen denn auch, daß die Tagelöhner und das Gesinde durchschnittlich lüderlicher leben als die Bauern. Von großer Bedeutung ist ferner der Gemütsinhalt einer Bevölkerung. Das Geschlechtsleben bildet beim gesunden Erwachsenen einen wesentlichen Bestandteil dieses Inhalts; den wievielten Teil davon, das hängt von dem übrigen Inhalt ab. Beim ganz rohen Menschen kann es zeitweise das Innere vollständig ausfüllen, bei einem von mannichfachen hoher» Interessen bewegten zeitweise vollständig verschwunden zu sein scheinen. Zur Herstellung des erwünschten Gleichgewichts zwischen dem sinnlichen und dem geistigen Seeleninhalt sind aber die religiösen Einwirkungen, mit denen geistliche Jugend- und Volkserzieher die Sinnlichkeit gewöhnlich einzudämmen versuchen, am aller- ungeeignetsten. Mit religiösem Inhalt lassen sich nur die Seelen an- und ausfüllen, die eine besondre Anlage für Religion haben, und diese ist, wie es scheint, noch seltener als die für höhere Mathematik. Die meisten Menschen fühlen sich durch Predigten und Erbauungsschriften gelangweilt (wühreuo der Predigt schlafen die meisten, schreibt der Thüringer), und bei jungen Leuten heißt still sitzen müssen und sich langweilen soviel wie an Allotria denken; nur in der Form von Symbolen und symbolischen Handlungen, Kirchenschmuck und Musik und prangenden Festlichkeiten, d. h. in der katholischen Form des Gottesdienstes, vermag Religion auch den Durchschnittsmenschen zu fesseln und abzuziehen. Wird die Einwirkung vollends in der Form eines Sittlichkeits¬ vereins betrieben, so wird die Einbildnngkraft geradezu auf den Gegenstand hingelenkt, von dem sie abgezogen werden soll. Das Ablenken besorge» nur solche Gegenstünde, die den Geist wirklich anfüllen und fesseln, und das ver¬ mögen meistens nur die weltlichen, darunter auch sogar sehr unheilige. Nicht allein der Astronom, der am Himmel auf Kometen Jagd macht, sondern auch der Jäger, der Hasen und Füchse pürscht, nicht allein der liebende Familien¬ vater, den die Sorge um Weib und Kind halb wahnsinnig macht, und der ehrgeizige junge Mann, der nach einer Stellung in der Gesellschaft ringt, sondern auch der leidenschaftliche Skatspieler und der Börsenspekulant, nicht bloß der Abiturient, der für die Prüfung ochse, sondern auch der junge Sportsman, der bei allen Fußballparticu und Wettradlereien den Sieg davon¬ tragen will, sie alle spüren oft lange Zeit nichts von sinnlichen Regungen. Höhere Bildung, Weckung eines vielseitigen Interesses für die Dinge, die außerhalb des eignen Leibes liegen und dessen Wohlbefinden nicht unmittelbar beeinflussen, sind demnach die geeigneten Mittel, der Sinnlichkeit Schranken zu ziehen. In der Seele eines Tagelöhners, der außer Essen, Trinken, Schlafen und dem Geschlechtsgenuß nichts auf der Welt hat, als einförmige, ihm gleichgiltige oder lästige Arbeit für eiuen ihm gleichgiltigen oder verhaßten Herrn, wird die Sinnlichkeit ihre volle unheimliche Macht entfalten. Öffnet sich einem solchen Menschen die Aussicht, eine eigne Scholle zu erwerben, so Grenzboten I 1896 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/185>, abgerufen am 01.09.2024.