Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Sittlichkeit auf dem laute

gebückter Haltung unangenehme Industrie- oder Feldarbeiten zu verrichten,
und noch weniger kam es vor, daß mehrere, womöglich aus verschiednen Fa¬
milien, in einem Bett zusammen schliefen; sie hatten gar kein Bett, und das
war vielleicht das wichtigste. Dagegen war die Art von Behütung der
Jugend, auf die mau heute so großes Gewicht legt, ganz unbekannt; wie jedes
Naturvolk, waren die Germanen von Kindheit auf an den Anblick nackter
Menschen gewöhnt und mit dem Geschlechtsleben der Menschen und Tiere ver¬
traut. Leicht erreichbar ist wieder ein drittes. Während der Keuschheits¬
begriff unsrer Frommen und Feinen niemals in einen Bauernschädel hinein¬
gehen wird, so lange es echte Bauern giebt, sieht auch der roheste Bursche
ein, daß der ein schlechter Kerl ist, der ein Mädchen sitzen läßt, das er zur
Mutter gemacht hat. Das ist nichts widernatürliches und nichts übernatür¬
liches wie die christliche Keuschheit, sondern entspricht dem natürlichen Ge¬
rechtigkeitsgefühl. In vielen Gegenden wird denn auch jetzt schon die Pflicht
des unehelichen Vaters,*) die Mutter seines Kindes zu heiraten, allgemein
anerkannt, demnach würde gar keine große Anstrengung dazu gehören, diesem
Grundsatze überall zur Anerkennung zu verhelfen.

Bei drei andern Zielen hängt die Erreichung ausschließlich von sozialen
und wirtschaftlichen Umgestaltungen ab. Der Mann, der Standesehre hat,
mag kein Weib, das schon einem andern gehört hat, und wo die ganze Be¬
völkerung Standesehre hat, da findet sich nicht leicht ein Mädchen, das sich
ohne Eheversprechen einem Mann ergeben möchte, weil sie ja dadurch ihre
Stellung in der Gesellschaft, die Aussicht auf anständige Versorgung verliert.
Mit der Standesehre ist gewöhnlich auch Vermögen oder wenigstens ein an¬
ständiges Einkommen verbunden. Schon deshalb verzeiht ein Mann von Stand
seiner Frau nicht leicht einen Ehebruch, weil er nicht Lust hat, dem Kinde
eines andern Mannes sein Vermögen zu hinterlassen oder Erziehungskosten
darauf zu verwenden. Der besitzlose Lohnarbeiter hat keine Standesehre und
kann demnach auch dadurch, daß er eine liederliche Person heiratet, keinen Ab¬
bruch daran erleiden. Die Erziehungskosten seiner Kinder oder der Kinder
seiner Frau sind sehr unbedeutend, vom zwölften, auf dem Lande manchmal
vom zehnten Lebensjahre ab müssen sie sich ihr Brot selbst verdienen und
vom vierzehnten Jahre ab zu den Haushaltungskosten der Eltern beitragen;
Vermögen hinterläßt er ihnen nicht; sollte also ein Bastard darunter sein, so
macht ihm das keine großen Schmerzen. Es braucht demnach gar nicht weiter
ausgeführt zu werden, was es für die geschlechtliche Sittlichkeit bedeutet, wenn
-der Bauern mehr, der Besitzlosen, namentlich der Wandertagelöhncr weniger



Das Wort "Verführer" wäre hier übel angebracht; die Mädchen verführen mindestens
ebenso oft wie die Burschen, in den allermeisten Fällen aber kommen einander beide Teile
entgegen.
Die Sittlichkeit auf dem laute

gebückter Haltung unangenehme Industrie- oder Feldarbeiten zu verrichten,
und noch weniger kam es vor, daß mehrere, womöglich aus verschiednen Fa¬
milien, in einem Bett zusammen schliefen; sie hatten gar kein Bett, und das
war vielleicht das wichtigste. Dagegen war die Art von Behütung der
Jugend, auf die mau heute so großes Gewicht legt, ganz unbekannt; wie jedes
Naturvolk, waren die Germanen von Kindheit auf an den Anblick nackter
Menschen gewöhnt und mit dem Geschlechtsleben der Menschen und Tiere ver¬
traut. Leicht erreichbar ist wieder ein drittes. Während der Keuschheits¬
begriff unsrer Frommen und Feinen niemals in einen Bauernschädel hinein¬
gehen wird, so lange es echte Bauern giebt, sieht auch der roheste Bursche
ein, daß der ein schlechter Kerl ist, der ein Mädchen sitzen läßt, das er zur
Mutter gemacht hat. Das ist nichts widernatürliches und nichts übernatür¬
liches wie die christliche Keuschheit, sondern entspricht dem natürlichen Ge¬
rechtigkeitsgefühl. In vielen Gegenden wird denn auch jetzt schon die Pflicht
des unehelichen Vaters,*) die Mutter seines Kindes zu heiraten, allgemein
anerkannt, demnach würde gar keine große Anstrengung dazu gehören, diesem
Grundsatze überall zur Anerkennung zu verhelfen.

Bei drei andern Zielen hängt die Erreichung ausschließlich von sozialen
und wirtschaftlichen Umgestaltungen ab. Der Mann, der Standesehre hat,
mag kein Weib, das schon einem andern gehört hat, und wo die ganze Be¬
völkerung Standesehre hat, da findet sich nicht leicht ein Mädchen, das sich
ohne Eheversprechen einem Mann ergeben möchte, weil sie ja dadurch ihre
Stellung in der Gesellschaft, die Aussicht auf anständige Versorgung verliert.
Mit der Standesehre ist gewöhnlich auch Vermögen oder wenigstens ein an¬
ständiges Einkommen verbunden. Schon deshalb verzeiht ein Mann von Stand
seiner Frau nicht leicht einen Ehebruch, weil er nicht Lust hat, dem Kinde
eines andern Mannes sein Vermögen zu hinterlassen oder Erziehungskosten
darauf zu verwenden. Der besitzlose Lohnarbeiter hat keine Standesehre und
kann demnach auch dadurch, daß er eine liederliche Person heiratet, keinen Ab¬
bruch daran erleiden. Die Erziehungskosten seiner Kinder oder der Kinder
seiner Frau sind sehr unbedeutend, vom zwölften, auf dem Lande manchmal
vom zehnten Lebensjahre ab müssen sie sich ihr Brot selbst verdienen und
vom vierzehnten Jahre ab zu den Haushaltungskosten der Eltern beitragen;
Vermögen hinterläßt er ihnen nicht; sollte also ein Bastard darunter sein, so
macht ihm das keine großen Schmerzen. Es braucht demnach gar nicht weiter
ausgeführt zu werden, was es für die geschlechtliche Sittlichkeit bedeutet, wenn
-der Bauern mehr, der Besitzlosen, namentlich der Wandertagelöhncr weniger



Das Wort „Verführer" wäre hier übel angebracht; die Mädchen verführen mindestens
ebenso oft wie die Burschen, in den allermeisten Fällen aber kommen einander beide Teile
entgegen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0184" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221830"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Sittlichkeit auf dem laute</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_567" prev="#ID_566"> gebückter Haltung unangenehme Industrie- oder Feldarbeiten zu verrichten,<lb/>
und noch weniger kam es vor, daß mehrere, womöglich aus verschiednen Fa¬<lb/>
milien, in einem Bett zusammen schliefen; sie hatten gar kein Bett, und das<lb/>
war vielleicht das wichtigste. Dagegen war die Art von Behütung der<lb/>
Jugend, auf die mau heute so großes Gewicht legt, ganz unbekannt; wie jedes<lb/>
Naturvolk, waren die Germanen von Kindheit auf an den Anblick nackter<lb/>
Menschen gewöhnt und mit dem Geschlechtsleben der Menschen und Tiere ver¬<lb/>
traut. Leicht erreichbar ist wieder ein drittes. Während der Keuschheits¬<lb/>
begriff unsrer Frommen und Feinen niemals in einen Bauernschädel hinein¬<lb/>
gehen wird, so lange es echte Bauern giebt, sieht auch der roheste Bursche<lb/>
ein, daß der ein schlechter Kerl ist, der ein Mädchen sitzen läßt, das er zur<lb/>
Mutter gemacht hat. Das ist nichts widernatürliches und nichts übernatür¬<lb/>
liches wie die christliche Keuschheit, sondern entspricht dem natürlichen Ge¬<lb/>
rechtigkeitsgefühl. In vielen Gegenden wird denn auch jetzt schon die Pflicht<lb/>
des unehelichen Vaters,*) die Mutter seines Kindes zu heiraten, allgemein<lb/>
anerkannt, demnach würde gar keine große Anstrengung dazu gehören, diesem<lb/>
Grundsatze überall zur Anerkennung zu verhelfen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_568" next="#ID_569"> Bei drei andern Zielen hängt die Erreichung ausschließlich von sozialen<lb/>
und wirtschaftlichen Umgestaltungen ab. Der Mann, der Standesehre hat,<lb/>
mag kein Weib, das schon einem andern gehört hat, und wo die ganze Be¬<lb/>
völkerung Standesehre hat, da findet sich nicht leicht ein Mädchen, das sich<lb/>
ohne Eheversprechen einem Mann ergeben möchte, weil sie ja dadurch ihre<lb/>
Stellung in der Gesellschaft, die Aussicht auf anständige Versorgung verliert.<lb/>
Mit der Standesehre ist gewöhnlich auch Vermögen oder wenigstens ein an¬<lb/>
ständiges Einkommen verbunden. Schon deshalb verzeiht ein Mann von Stand<lb/>
seiner Frau nicht leicht einen Ehebruch, weil er nicht Lust hat, dem Kinde<lb/>
eines andern Mannes sein Vermögen zu hinterlassen oder Erziehungskosten<lb/>
darauf zu verwenden. Der besitzlose Lohnarbeiter hat keine Standesehre und<lb/>
kann demnach auch dadurch, daß er eine liederliche Person heiratet, keinen Ab¬<lb/>
bruch daran erleiden. Die Erziehungskosten seiner Kinder oder der Kinder<lb/>
seiner Frau sind sehr unbedeutend, vom zwölften, auf dem Lande manchmal<lb/>
vom zehnten Lebensjahre ab müssen sie sich ihr Brot selbst verdienen und<lb/>
vom vierzehnten Jahre ab zu den Haushaltungskosten der Eltern beitragen;<lb/>
Vermögen hinterläßt er ihnen nicht; sollte also ein Bastard darunter sein, so<lb/>
macht ihm das keine großen Schmerzen. Es braucht demnach gar nicht weiter<lb/>
ausgeführt zu werden, was es für die geschlechtliche Sittlichkeit bedeutet, wenn<lb/>
-der Bauern mehr, der Besitzlosen, namentlich der Wandertagelöhncr weniger</p><lb/>
          <note xml:id="FID_27" place="foot"> Das Wort &#x201E;Verführer" wäre hier übel angebracht; die Mädchen verführen mindestens<lb/>
ebenso oft wie die Burschen, in den allermeisten Fällen aber kommen einander beide Teile<lb/>
entgegen.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0184] Die Sittlichkeit auf dem laute gebückter Haltung unangenehme Industrie- oder Feldarbeiten zu verrichten, und noch weniger kam es vor, daß mehrere, womöglich aus verschiednen Fa¬ milien, in einem Bett zusammen schliefen; sie hatten gar kein Bett, und das war vielleicht das wichtigste. Dagegen war die Art von Behütung der Jugend, auf die mau heute so großes Gewicht legt, ganz unbekannt; wie jedes Naturvolk, waren die Germanen von Kindheit auf an den Anblick nackter Menschen gewöhnt und mit dem Geschlechtsleben der Menschen und Tiere ver¬ traut. Leicht erreichbar ist wieder ein drittes. Während der Keuschheits¬ begriff unsrer Frommen und Feinen niemals in einen Bauernschädel hinein¬ gehen wird, so lange es echte Bauern giebt, sieht auch der roheste Bursche ein, daß der ein schlechter Kerl ist, der ein Mädchen sitzen läßt, das er zur Mutter gemacht hat. Das ist nichts widernatürliches und nichts übernatür¬ liches wie die christliche Keuschheit, sondern entspricht dem natürlichen Ge¬ rechtigkeitsgefühl. In vielen Gegenden wird denn auch jetzt schon die Pflicht des unehelichen Vaters,*) die Mutter seines Kindes zu heiraten, allgemein anerkannt, demnach würde gar keine große Anstrengung dazu gehören, diesem Grundsatze überall zur Anerkennung zu verhelfen. Bei drei andern Zielen hängt die Erreichung ausschließlich von sozialen und wirtschaftlichen Umgestaltungen ab. Der Mann, der Standesehre hat, mag kein Weib, das schon einem andern gehört hat, und wo die ganze Be¬ völkerung Standesehre hat, da findet sich nicht leicht ein Mädchen, das sich ohne Eheversprechen einem Mann ergeben möchte, weil sie ja dadurch ihre Stellung in der Gesellschaft, die Aussicht auf anständige Versorgung verliert. Mit der Standesehre ist gewöhnlich auch Vermögen oder wenigstens ein an¬ ständiges Einkommen verbunden. Schon deshalb verzeiht ein Mann von Stand seiner Frau nicht leicht einen Ehebruch, weil er nicht Lust hat, dem Kinde eines andern Mannes sein Vermögen zu hinterlassen oder Erziehungskosten darauf zu verwenden. Der besitzlose Lohnarbeiter hat keine Standesehre und kann demnach auch dadurch, daß er eine liederliche Person heiratet, keinen Ab¬ bruch daran erleiden. Die Erziehungskosten seiner Kinder oder der Kinder seiner Frau sind sehr unbedeutend, vom zwölften, auf dem Lande manchmal vom zehnten Lebensjahre ab müssen sie sich ihr Brot selbst verdienen und vom vierzehnten Jahre ab zu den Haushaltungskosten der Eltern beitragen; Vermögen hinterläßt er ihnen nicht; sollte also ein Bastard darunter sein, so macht ihm das keine großen Schmerzen. Es braucht demnach gar nicht weiter ausgeführt zu werden, was es für die geschlechtliche Sittlichkeit bedeutet, wenn -der Bauern mehr, der Besitzlosen, namentlich der Wandertagelöhncr weniger Das Wort „Verführer" wäre hier übel angebracht; die Mädchen verführen mindestens ebenso oft wie die Burschen, in den allermeisten Fällen aber kommen einander beide Teile entgegen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/184
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/184>, abgerufen am 01.09.2024.