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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Sittlichkeit auf dem Lande

das Heiratsalter innegehalten, das Luther aurae,*) so würde es wenig vor¬
ehelichen Umgang geben, meint einer. Wagner fragt, ob nicht am Ende die
allgemein übliche Antizipation der ehelichen Rechte noch aus dem germanischen
Heidentum herrühre, wo der Grundsatz galt, daß die Ehen geschlossen würden,
nicht wie nach dem römischen Recht wutuo eonLönsu, sondern ooirjunvtionö
oorxorum. Da liegt es doch weit näher, daran zu erinnern, daß die Ehen
bis zum tridentinischen Konzil nach dem kanonischen Recht durch den bloßen
routuus eollsöiisus giltig geschlossen wurden, und daß der giltige Abschluß der
Ehe auch alle Rechte der Eheleute gewährt, und zu fragen, wo im Neuen
Testament geschrieben steht, daß zum nruwns oonssn8u8 noch die Beobachtung
der tridentinischen Vorschrift: voranr xg.rocznv se äuokus tsstidus, oder der
Vorschrift Luthers hinzukommen müsse, der die Einwilligung der Eltern und
die durch obrigkeitliche Anerkennung bezeugte Öffentlichkeit der Ehe zu ihren
konstituirenden Elementen rechnete. Die kirchliche Einsegnung ist niemals,
weder in der katholischen noch in der evangelischen Kirche, zu den Erforder¬
nissen einer giltigen Eheschließung gerechnet worden; auch die tridentinische
Klausel, die dem von Luther getadelten Unfug der Winkelchen ein Ende machen
sollte, fordert nicht die kirchliche Einsegnung; der Pfarrer fungirt nur als
Hauptzeuge, wie auch solche, die das Kirchen- und Eherecht nicht kennen, ans
Manzonis Verlobten wissen, und daß die vorm Standesamt geschlossene Ehe
giltig sei, bestreitet doch Wohl kein evangelischer Geistlicher. Allerdings haben
die geistlichen und weltlichen Obrigkeiten das Recht und die Pflicht, die Form
der Eheschließung festzusetzen, dadurch die Pflichten der Eheleute erzwingbar
zu machen und ihre Rechte sicher zu stellen. Demnach wird ein gewissenhafter
Christ die Rechte des Gatten nicht leicht antizipiren, weil er dadurch den der
Obrigkeit schuldigen Gehorsam verletzt und die Braut und ein etwaiges Kind
in Gefahr bringt, ihrer Rechte verlustig zu gehen, da er ja vor der Trauung
sterben kann; aber die eollsumniÄtio einer durch den mutuus oonseosus vor
Gott geschlossenen Ehe als "Unzucht" zu brandmarken ist niemand berechtigt.
In den meisten Gegenden wird die Antizipation von den Eltern nicht allein
gestattet, sondern als Mittel, den andern Teil zu binden, begünstigt, ja oft
geradezu befohlen, und die Tochter, die sich weigert, wird von der Mutter
gescholten; es kommt vor, daß die Eltern der Braut das Verlöbnis auflösen,
wenn sie vom Bräutigam "verachtet" worden ist. Daß es in manchen Ge¬
genden Baierns für eine Schande gilt, wenn die Braut den Jungfernkranz



*) Die Mägdlein mit 16, höchstens 13, die Buben mit 13, spätestens 20 Jahren, sonst
sind sie des Teufels, sagt er einmal. Später machten ihm die vielen höchst unbesonnen in
der Jugend geschlossenen Ehen Verdruß, und er wetterte dagegen; das beweist aber nichts
gegen seinen ersten Rat, sondern nur, daß zwischen den sittlichen und den wirtschaftlichen
Rücksichten sehr böse Konflikte obwalten.
Die Sittlichkeit auf dem Lande

das Heiratsalter innegehalten, das Luther aurae,*) so würde es wenig vor¬
ehelichen Umgang geben, meint einer. Wagner fragt, ob nicht am Ende die
allgemein übliche Antizipation der ehelichen Rechte noch aus dem germanischen
Heidentum herrühre, wo der Grundsatz galt, daß die Ehen geschlossen würden,
nicht wie nach dem römischen Recht wutuo eonLönsu, sondern ooirjunvtionö
oorxorum. Da liegt es doch weit näher, daran zu erinnern, daß die Ehen
bis zum tridentinischen Konzil nach dem kanonischen Recht durch den bloßen
routuus eollsöiisus giltig geschlossen wurden, und daß der giltige Abschluß der
Ehe auch alle Rechte der Eheleute gewährt, und zu fragen, wo im Neuen
Testament geschrieben steht, daß zum nruwns oonssn8u8 noch die Beobachtung
der tridentinischen Vorschrift: voranr xg.rocznv se äuokus tsstidus, oder der
Vorschrift Luthers hinzukommen müsse, der die Einwilligung der Eltern und
die durch obrigkeitliche Anerkennung bezeugte Öffentlichkeit der Ehe zu ihren
konstituirenden Elementen rechnete. Die kirchliche Einsegnung ist niemals,
weder in der katholischen noch in der evangelischen Kirche, zu den Erforder¬
nissen einer giltigen Eheschließung gerechnet worden; auch die tridentinische
Klausel, die dem von Luther getadelten Unfug der Winkelchen ein Ende machen
sollte, fordert nicht die kirchliche Einsegnung; der Pfarrer fungirt nur als
Hauptzeuge, wie auch solche, die das Kirchen- und Eherecht nicht kennen, ans
Manzonis Verlobten wissen, und daß die vorm Standesamt geschlossene Ehe
giltig sei, bestreitet doch Wohl kein evangelischer Geistlicher. Allerdings haben
die geistlichen und weltlichen Obrigkeiten das Recht und die Pflicht, die Form
der Eheschließung festzusetzen, dadurch die Pflichten der Eheleute erzwingbar
zu machen und ihre Rechte sicher zu stellen. Demnach wird ein gewissenhafter
Christ die Rechte des Gatten nicht leicht antizipiren, weil er dadurch den der
Obrigkeit schuldigen Gehorsam verletzt und die Braut und ein etwaiges Kind
in Gefahr bringt, ihrer Rechte verlustig zu gehen, da er ja vor der Trauung
sterben kann; aber die eollsumniÄtio einer durch den mutuus oonseosus vor
Gott geschlossenen Ehe als „Unzucht" zu brandmarken ist niemand berechtigt.
In den meisten Gegenden wird die Antizipation von den Eltern nicht allein
gestattet, sondern als Mittel, den andern Teil zu binden, begünstigt, ja oft
geradezu befohlen, und die Tochter, die sich weigert, wird von der Mutter
gescholten; es kommt vor, daß die Eltern der Braut das Verlöbnis auflösen,
wenn sie vom Bräutigam „verachtet" worden ist. Daß es in manchen Ge¬
genden Baierns für eine Schande gilt, wenn die Braut den Jungfernkranz



*) Die Mägdlein mit 16, höchstens 13, die Buben mit 13, spätestens 20 Jahren, sonst
sind sie des Teufels, sagt er einmal. Später machten ihm die vielen höchst unbesonnen in
der Jugend geschlossenen Ehen Verdruß, und er wetterte dagegen; das beweist aber nichts
gegen seinen ersten Rat, sondern nur, daß zwischen den sittlichen und den wirtschaftlichen
Rücksichten sehr böse Konflikte obwalten.
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[0182] Die Sittlichkeit auf dem Lande das Heiratsalter innegehalten, das Luther aurae,*) so würde es wenig vor¬ ehelichen Umgang geben, meint einer. Wagner fragt, ob nicht am Ende die allgemein übliche Antizipation der ehelichen Rechte noch aus dem germanischen Heidentum herrühre, wo der Grundsatz galt, daß die Ehen geschlossen würden, nicht wie nach dem römischen Recht wutuo eonLönsu, sondern ooirjunvtionö oorxorum. Da liegt es doch weit näher, daran zu erinnern, daß die Ehen bis zum tridentinischen Konzil nach dem kanonischen Recht durch den bloßen routuus eollsöiisus giltig geschlossen wurden, und daß der giltige Abschluß der Ehe auch alle Rechte der Eheleute gewährt, und zu fragen, wo im Neuen Testament geschrieben steht, daß zum nruwns oonssn8u8 noch die Beobachtung der tridentinischen Vorschrift: voranr xg.rocznv se äuokus tsstidus, oder der Vorschrift Luthers hinzukommen müsse, der die Einwilligung der Eltern und die durch obrigkeitliche Anerkennung bezeugte Öffentlichkeit der Ehe zu ihren konstituirenden Elementen rechnete. Die kirchliche Einsegnung ist niemals, weder in der katholischen noch in der evangelischen Kirche, zu den Erforder¬ nissen einer giltigen Eheschließung gerechnet worden; auch die tridentinische Klausel, die dem von Luther getadelten Unfug der Winkelchen ein Ende machen sollte, fordert nicht die kirchliche Einsegnung; der Pfarrer fungirt nur als Hauptzeuge, wie auch solche, die das Kirchen- und Eherecht nicht kennen, ans Manzonis Verlobten wissen, und daß die vorm Standesamt geschlossene Ehe giltig sei, bestreitet doch Wohl kein evangelischer Geistlicher. Allerdings haben die geistlichen und weltlichen Obrigkeiten das Recht und die Pflicht, die Form der Eheschließung festzusetzen, dadurch die Pflichten der Eheleute erzwingbar zu machen und ihre Rechte sicher zu stellen. Demnach wird ein gewissenhafter Christ die Rechte des Gatten nicht leicht antizipiren, weil er dadurch den der Obrigkeit schuldigen Gehorsam verletzt und die Braut und ein etwaiges Kind in Gefahr bringt, ihrer Rechte verlustig zu gehen, da er ja vor der Trauung sterben kann; aber die eollsumniÄtio einer durch den mutuus oonseosus vor Gott geschlossenen Ehe als „Unzucht" zu brandmarken ist niemand berechtigt. In den meisten Gegenden wird die Antizipation von den Eltern nicht allein gestattet, sondern als Mittel, den andern Teil zu binden, begünstigt, ja oft geradezu befohlen, und die Tochter, die sich weigert, wird von der Mutter gescholten; es kommt vor, daß die Eltern der Braut das Verlöbnis auflösen, wenn sie vom Bräutigam „verachtet" worden ist. Daß es in manchen Ge¬ genden Baierns für eine Schande gilt, wenn die Braut den Jungfernkranz *) Die Mägdlein mit 16, höchstens 13, die Buben mit 13, spätestens 20 Jahren, sonst sind sie des Teufels, sagt er einmal. Später machten ihm die vielen höchst unbesonnen in der Jugend geschlossenen Ehen Verdruß, und er wetterte dagegen; das beweist aber nichts gegen seinen ersten Rat, sondern nur, daß zwischen den sittlichen und den wirtschaftlichen Rücksichten sehr böse Konflikte obwalten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/182>, abgerufen am 01.09.2024.