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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Sittlichkeit auf dem Lande

cmffassung des Volkes hinunterzuversetzen, so ist es für den Bauer seinerseits
fast ein Ding der Unmöglichkeit, unsre höhere Sittlichkeit zu begreifen." Wenn
der Verfasser das "unsre" auf die wahren Christen bezieht, so überlassen wir
ihm die Verantwortung dafür. Meint er aber uns Gebildete oder uns Städter,
so wollen wir es doch bescheidentlich unserm Herrgott überlassen, ob er unsre
Sittlichkeit höher oder niedriger schätzen will als die des Bäuerleins und
lieber sagen: unsre anders geartete und feinere Sittlichkeit. Der Bauer hat
eben eine andre Sittlichkeit als wir und muß eine andre haben. Jeder lebens¬
kräftige Stand schafft sich seine eigentümliche Denkungsart, Lebensweise und
Sitte, die, seinen Daseinsbedingungen angemessen, selbst Daseinsbedingung für
ihn wird. Gerade so, wie der Thüringer ihn schildert, muß der Bauer sein,
wenn er nicht zu Grunde gehen will, und bleibt er so, dann geht er aus sich
selbst nicht zu Grunde; jede andre Sittlichkeit, mag es eine höhere oder eine
niedere sein, würde den Bauernstand zerstören. Und sollte man nicht außer
dem schriftgcmüßen Gegensatz von Welt und Gottesreich auch die Verschieden¬
heit sittlicher Kraft beachten, die Matth. 19, 11 und 1. Kor. 7, 1 bis 7 ange¬
deutet ist? Der katholischen Kirche macht es die evangelische Theologie mit
Recht zum Vorwurf, daß sie sich einbilde oder vorgehe, Gott verleihe das
clonuin (Z0ntiiiöntig.ö jedem, der die Priesterweihe empfängt, wenn er nur ernst¬
lich darum bitte. Aber ist es nicht ein noch stärkerer Verstoß gegen das
Schriftwort, zu lehren, diese Gabe sei allen Männern ohne Ausnahme bis
zur Verheiratung verliehen, auch wenn sie erst mit vierzig Jahren in den Ehe¬
stand treten können?

Die meisten von den Geistlichen, die den Gegenstand bearbeitet haben,
lassen merken, daß sich ihnen diese und ähnliche Fragen aufdrängen. Die
Bauern sind heute noch, was sie zu Konstantins Zeit gewesen sind: xagani,
bemerkt einer der Herren. An die heidnischen Germanen erinnern sich mehrere.
Einer hat gelesen, daß in Indien Männer und Weiber zusammen nackt auf
dem Felde arbeiten, ohne daß daraus übles entstünde; er und andre sind über¬
zeugt, daß das bäuerliche Ng.wrii,1iA non sunt turxig, nicht ohne weiteres als
ein Beweis für herrschende Unkeuschheit angesehen werden dürfe. Wenn in
diesen Büchern öfters kurzweg gesagt wird: der Bauer weiß nicht, was Keusch¬
heit ist, so muß man eben darunter verstehen: Keuschheit im Sinne der mo¬
dernen Sittlichkeitsbewegung. Mehrere heben mit Recht hervor, daß die Un-
sittlichkeit nicht an der Zahl der unehelichen Geburten zu messen sei; hat doch
ein englischer Pfarrer, den Carey anführt, die Zunahme der unehelichen Ge¬
burten in seiner Gemeinde mit Freuden begrüßt, weil sie ihm die Abnahme
arger Laster bewies. Mehrere Protestiren auch dagegen, daß man den außer¬
ehelichen Umgang der Landleute auf eine Stufe stelle mit der städtischen Pro¬
stitution; dort handle es sich meistens um wirkliche Liebesverhältnisse, die
nicht überall, aber in manchen Gegenden regelmäßig zur Ehe führen. Würde


Die Sittlichkeit auf dem Lande

cmffassung des Volkes hinunterzuversetzen, so ist es für den Bauer seinerseits
fast ein Ding der Unmöglichkeit, unsre höhere Sittlichkeit zu begreifen." Wenn
der Verfasser das „unsre" auf die wahren Christen bezieht, so überlassen wir
ihm die Verantwortung dafür. Meint er aber uns Gebildete oder uns Städter,
so wollen wir es doch bescheidentlich unserm Herrgott überlassen, ob er unsre
Sittlichkeit höher oder niedriger schätzen will als die des Bäuerleins und
lieber sagen: unsre anders geartete und feinere Sittlichkeit. Der Bauer hat
eben eine andre Sittlichkeit als wir und muß eine andre haben. Jeder lebens¬
kräftige Stand schafft sich seine eigentümliche Denkungsart, Lebensweise und
Sitte, die, seinen Daseinsbedingungen angemessen, selbst Daseinsbedingung für
ihn wird. Gerade so, wie der Thüringer ihn schildert, muß der Bauer sein,
wenn er nicht zu Grunde gehen will, und bleibt er so, dann geht er aus sich
selbst nicht zu Grunde; jede andre Sittlichkeit, mag es eine höhere oder eine
niedere sein, würde den Bauernstand zerstören. Und sollte man nicht außer
dem schriftgcmüßen Gegensatz von Welt und Gottesreich auch die Verschieden¬
heit sittlicher Kraft beachten, die Matth. 19, 11 und 1. Kor. 7, 1 bis 7 ange¬
deutet ist? Der katholischen Kirche macht es die evangelische Theologie mit
Recht zum Vorwurf, daß sie sich einbilde oder vorgehe, Gott verleihe das
clonuin (Z0ntiiiöntig.ö jedem, der die Priesterweihe empfängt, wenn er nur ernst¬
lich darum bitte. Aber ist es nicht ein noch stärkerer Verstoß gegen das
Schriftwort, zu lehren, diese Gabe sei allen Männern ohne Ausnahme bis
zur Verheiratung verliehen, auch wenn sie erst mit vierzig Jahren in den Ehe¬
stand treten können?

Die meisten von den Geistlichen, die den Gegenstand bearbeitet haben,
lassen merken, daß sich ihnen diese und ähnliche Fragen aufdrängen. Die
Bauern sind heute noch, was sie zu Konstantins Zeit gewesen sind: xagani,
bemerkt einer der Herren. An die heidnischen Germanen erinnern sich mehrere.
Einer hat gelesen, daß in Indien Männer und Weiber zusammen nackt auf
dem Felde arbeiten, ohne daß daraus übles entstünde; er und andre sind über¬
zeugt, daß das bäuerliche Ng.wrii,1iA non sunt turxig, nicht ohne weiteres als
ein Beweis für herrschende Unkeuschheit angesehen werden dürfe. Wenn in
diesen Büchern öfters kurzweg gesagt wird: der Bauer weiß nicht, was Keusch¬
heit ist, so muß man eben darunter verstehen: Keuschheit im Sinne der mo¬
dernen Sittlichkeitsbewegung. Mehrere heben mit Recht hervor, daß die Un-
sittlichkeit nicht an der Zahl der unehelichen Geburten zu messen sei; hat doch
ein englischer Pfarrer, den Carey anführt, die Zunahme der unehelichen Ge¬
burten in seiner Gemeinde mit Freuden begrüßt, weil sie ihm die Abnahme
arger Laster bewies. Mehrere Protestiren auch dagegen, daß man den außer¬
ehelichen Umgang der Landleute auf eine Stufe stelle mit der städtischen Pro¬
stitution; dort handle es sich meistens um wirkliche Liebesverhältnisse, die
nicht überall, aber in manchen Gegenden regelmäßig zur Ehe führen. Würde


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[0181] Die Sittlichkeit auf dem Lande cmffassung des Volkes hinunterzuversetzen, so ist es für den Bauer seinerseits fast ein Ding der Unmöglichkeit, unsre höhere Sittlichkeit zu begreifen." Wenn der Verfasser das „unsre" auf die wahren Christen bezieht, so überlassen wir ihm die Verantwortung dafür. Meint er aber uns Gebildete oder uns Städter, so wollen wir es doch bescheidentlich unserm Herrgott überlassen, ob er unsre Sittlichkeit höher oder niedriger schätzen will als die des Bäuerleins und lieber sagen: unsre anders geartete und feinere Sittlichkeit. Der Bauer hat eben eine andre Sittlichkeit als wir und muß eine andre haben. Jeder lebens¬ kräftige Stand schafft sich seine eigentümliche Denkungsart, Lebensweise und Sitte, die, seinen Daseinsbedingungen angemessen, selbst Daseinsbedingung für ihn wird. Gerade so, wie der Thüringer ihn schildert, muß der Bauer sein, wenn er nicht zu Grunde gehen will, und bleibt er so, dann geht er aus sich selbst nicht zu Grunde; jede andre Sittlichkeit, mag es eine höhere oder eine niedere sein, würde den Bauernstand zerstören. Und sollte man nicht außer dem schriftgcmüßen Gegensatz von Welt und Gottesreich auch die Verschieden¬ heit sittlicher Kraft beachten, die Matth. 19, 11 und 1. Kor. 7, 1 bis 7 ange¬ deutet ist? Der katholischen Kirche macht es die evangelische Theologie mit Recht zum Vorwurf, daß sie sich einbilde oder vorgehe, Gott verleihe das clonuin (Z0ntiiiöntig.ö jedem, der die Priesterweihe empfängt, wenn er nur ernst¬ lich darum bitte. Aber ist es nicht ein noch stärkerer Verstoß gegen das Schriftwort, zu lehren, diese Gabe sei allen Männern ohne Ausnahme bis zur Verheiratung verliehen, auch wenn sie erst mit vierzig Jahren in den Ehe¬ stand treten können? Die meisten von den Geistlichen, die den Gegenstand bearbeitet haben, lassen merken, daß sich ihnen diese und ähnliche Fragen aufdrängen. Die Bauern sind heute noch, was sie zu Konstantins Zeit gewesen sind: xagani, bemerkt einer der Herren. An die heidnischen Germanen erinnern sich mehrere. Einer hat gelesen, daß in Indien Männer und Weiber zusammen nackt auf dem Felde arbeiten, ohne daß daraus übles entstünde; er und andre sind über¬ zeugt, daß das bäuerliche Ng.wrii,1iA non sunt turxig, nicht ohne weiteres als ein Beweis für herrschende Unkeuschheit angesehen werden dürfe. Wenn in diesen Büchern öfters kurzweg gesagt wird: der Bauer weiß nicht, was Keusch¬ heit ist, so muß man eben darunter verstehen: Keuschheit im Sinne der mo¬ dernen Sittlichkeitsbewegung. Mehrere heben mit Recht hervor, daß die Un- sittlichkeit nicht an der Zahl der unehelichen Geburten zu messen sei; hat doch ein englischer Pfarrer, den Carey anführt, die Zunahme der unehelichen Ge¬ burten in seiner Gemeinde mit Freuden begrüßt, weil sie ihm die Abnahme arger Laster bewies. Mehrere Protestiren auch dagegen, daß man den außer¬ ehelichen Umgang der Landleute auf eine Stufe stelle mit der städtischen Pro¬ stitution; dort handle es sich meistens um wirkliche Liebesverhältnisse, die nicht überall, aber in manchen Gegenden regelmäßig zur Ehe führen. Würde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/181>, abgerufen am 01.09.2024.