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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Über allen Gipfeln

Armen seines natürlichen Sohnes, eines braven Mannes von der Volksschule,
den er während seiner Fahrt durchs jenseitige Land nie gekannt und geliebt,
sondern nur verfolgt und gequält hat. Also anch er wird durch eine Liebe
und ein Mitleid, von der die Philosophie Nietzsches nichts wissen will, einem
bessern Leben wiedergewonnen.

Man sieht, worauf dies alles hinaus soll. Paul Hesse will in einem
dichterischen Kunstwerk nicht den wissenschaftlichen Beweis bringen, sondern
durch Vorführung lebendiger Menschen ni ooulos demonstriren, daß es mit
der Lehre des Philosophen Nietzsche nichts sei. Gewiß eine sehr schöne
poetische Aufgabe. Aber man darf die Absicht nicht zu sehr merken lassen.
Gewöhnlich tritt die Absicht in einem unleidlichen Zuviel hervor, aber sie
kann sich auch in einem unangenehmen Zuwenig bemerkbar machen. Ich habe
gesagt, daß der Dichter dem ehrlichen Makler vergleichbar sei, der bei der
Vermittlung der Wahrheit nichts für sich behalte. Daß nun Hesse in doloser
Weise etwas von dem, was er gehabt hat, für sich zurückbehalten habe, wird
im Ernst niemand behaupten wollen. Es bleibt also nichts weiter übrig als
die Annahme, daß er gar nicht gehabt habe, was er Hütte bringen müssen.
Um nicht zu weitläufig zu werden, sondern möglichst verständlich zu reden, ich
muß glauben, daß Hesse das richtige Verständnis für die Bedeutung Nietzsches
abgeht. Mag diese sein, welche sie will, sicher hat sie gerechten Anspruch
darauf, tiefer und ernster erfaßt zu werden, als es in diesem Roman geschieht.
Da ihr dieses Recht nicht zugestanden wird, so rächt sie sich sofort an der
Erzählung selbst, wie sich alles im Leben rächt, das schief oder verkehrt an¬
gefaßt wird. Dadurch, daß er seinen Personen das eine oder das andre
Zitat aus den Werken des Philosophen äußerlich anhängt, kann der Dichter
keinen Glauben an ihr wirkliches Leben erwecken, noch weniger, wenn er dieses
Leben so oberflächlich nach den nur subjektiv und mit Vorurteil erfaßten Grund¬
sätzen jener Philosophie gestaltet. Das einzige, was mit einem solchen Ver¬
fahren erreicht wird, ist, daß er die eigne Hand sehen läßt, die mit Ziehen
und Schieben nur eine ganz notdürftige Bewegung in die Glieder seiner Figuren
hineinbringt. Wo würde auf dem Jahrmarkt der Lenker des Kasperletheaters
bleiben, der seine Hände nicht in der Versenkung halten könnte?

Was soll ich sonst noch über die Dichtung sagen, als daß sie außer den
Hauptpersonen einige andre Gestalten aufzuweisen hat, die wirklich einige An¬
lage zum Leben haben? Das ist aber auch alles. Von der Sprache kann
man nur sagen, daß sie die allbekannte schöne Hessische ist; mir schade, daß
sie nicht aller Sünde" Menge zu bedecken vermag. Weshalb der Roman den
Titel "Über allen Gipfeln" trägt, ist mir nicht klar geworden.


Arnold Folle


Über allen Gipfeln

Armen seines natürlichen Sohnes, eines braven Mannes von der Volksschule,
den er während seiner Fahrt durchs jenseitige Land nie gekannt und geliebt,
sondern nur verfolgt und gequält hat. Also anch er wird durch eine Liebe
und ein Mitleid, von der die Philosophie Nietzsches nichts wissen will, einem
bessern Leben wiedergewonnen.

Man sieht, worauf dies alles hinaus soll. Paul Hesse will in einem
dichterischen Kunstwerk nicht den wissenschaftlichen Beweis bringen, sondern
durch Vorführung lebendiger Menschen ni ooulos demonstriren, daß es mit
der Lehre des Philosophen Nietzsche nichts sei. Gewiß eine sehr schöne
poetische Aufgabe. Aber man darf die Absicht nicht zu sehr merken lassen.
Gewöhnlich tritt die Absicht in einem unleidlichen Zuviel hervor, aber sie
kann sich auch in einem unangenehmen Zuwenig bemerkbar machen. Ich habe
gesagt, daß der Dichter dem ehrlichen Makler vergleichbar sei, der bei der
Vermittlung der Wahrheit nichts für sich behalte. Daß nun Hesse in doloser
Weise etwas von dem, was er gehabt hat, für sich zurückbehalten habe, wird
im Ernst niemand behaupten wollen. Es bleibt also nichts weiter übrig als
die Annahme, daß er gar nicht gehabt habe, was er Hütte bringen müssen.
Um nicht zu weitläufig zu werden, sondern möglichst verständlich zu reden, ich
muß glauben, daß Hesse das richtige Verständnis für die Bedeutung Nietzsches
abgeht. Mag diese sein, welche sie will, sicher hat sie gerechten Anspruch
darauf, tiefer und ernster erfaßt zu werden, als es in diesem Roman geschieht.
Da ihr dieses Recht nicht zugestanden wird, so rächt sie sich sofort an der
Erzählung selbst, wie sich alles im Leben rächt, das schief oder verkehrt an¬
gefaßt wird. Dadurch, daß er seinen Personen das eine oder das andre
Zitat aus den Werken des Philosophen äußerlich anhängt, kann der Dichter
keinen Glauben an ihr wirkliches Leben erwecken, noch weniger, wenn er dieses
Leben so oberflächlich nach den nur subjektiv und mit Vorurteil erfaßten Grund¬
sätzen jener Philosophie gestaltet. Das einzige, was mit einem solchen Ver¬
fahren erreicht wird, ist, daß er die eigne Hand sehen läßt, die mit Ziehen
und Schieben nur eine ganz notdürftige Bewegung in die Glieder seiner Figuren
hineinbringt. Wo würde auf dem Jahrmarkt der Lenker des Kasperletheaters
bleiben, der seine Hände nicht in der Versenkung halten könnte?

Was soll ich sonst noch über die Dichtung sagen, als daß sie außer den
Hauptpersonen einige andre Gestalten aufzuweisen hat, die wirklich einige An¬
lage zum Leben haben? Das ist aber auch alles. Von der Sprache kann
man nur sagen, daß sie die allbekannte schöne Hessische ist; mir schade, daß
sie nicht aller Sünde» Menge zu bedecken vermag. Weshalb der Roman den
Titel „Über allen Gipfeln" trägt, ist mir nicht klar geworden.


Arnold Folle


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[0148] Über allen Gipfeln Armen seines natürlichen Sohnes, eines braven Mannes von der Volksschule, den er während seiner Fahrt durchs jenseitige Land nie gekannt und geliebt, sondern nur verfolgt und gequält hat. Also anch er wird durch eine Liebe und ein Mitleid, von der die Philosophie Nietzsches nichts wissen will, einem bessern Leben wiedergewonnen. Man sieht, worauf dies alles hinaus soll. Paul Hesse will in einem dichterischen Kunstwerk nicht den wissenschaftlichen Beweis bringen, sondern durch Vorführung lebendiger Menschen ni ooulos demonstriren, daß es mit der Lehre des Philosophen Nietzsche nichts sei. Gewiß eine sehr schöne poetische Aufgabe. Aber man darf die Absicht nicht zu sehr merken lassen. Gewöhnlich tritt die Absicht in einem unleidlichen Zuviel hervor, aber sie kann sich auch in einem unangenehmen Zuwenig bemerkbar machen. Ich habe gesagt, daß der Dichter dem ehrlichen Makler vergleichbar sei, der bei der Vermittlung der Wahrheit nichts für sich behalte. Daß nun Hesse in doloser Weise etwas von dem, was er gehabt hat, für sich zurückbehalten habe, wird im Ernst niemand behaupten wollen. Es bleibt also nichts weiter übrig als die Annahme, daß er gar nicht gehabt habe, was er Hütte bringen müssen. Um nicht zu weitläufig zu werden, sondern möglichst verständlich zu reden, ich muß glauben, daß Hesse das richtige Verständnis für die Bedeutung Nietzsches abgeht. Mag diese sein, welche sie will, sicher hat sie gerechten Anspruch darauf, tiefer und ernster erfaßt zu werden, als es in diesem Roman geschieht. Da ihr dieses Recht nicht zugestanden wird, so rächt sie sich sofort an der Erzählung selbst, wie sich alles im Leben rächt, das schief oder verkehrt an¬ gefaßt wird. Dadurch, daß er seinen Personen das eine oder das andre Zitat aus den Werken des Philosophen äußerlich anhängt, kann der Dichter keinen Glauben an ihr wirkliches Leben erwecken, noch weniger, wenn er dieses Leben so oberflächlich nach den nur subjektiv und mit Vorurteil erfaßten Grund¬ sätzen jener Philosophie gestaltet. Das einzige, was mit einem solchen Ver¬ fahren erreicht wird, ist, daß er die eigne Hand sehen läßt, die mit Ziehen und Schieben nur eine ganz notdürftige Bewegung in die Glieder seiner Figuren hineinbringt. Wo würde auf dem Jahrmarkt der Lenker des Kasperletheaters bleiben, der seine Hände nicht in der Versenkung halten könnte? Was soll ich sonst noch über die Dichtung sagen, als daß sie außer den Hauptpersonen einige andre Gestalten aufzuweisen hat, die wirklich einige An¬ lage zum Leben haben? Das ist aber auch alles. Von der Sprache kann man nur sagen, daß sie die allbekannte schöne Hessische ist; mir schade, daß sie nicht aller Sünde» Menge zu bedecken vermag. Weshalb der Roman den Titel „Über allen Gipfeln" trägt, ist mir nicht klar geworden. Arnold Folle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/148>, abgerufen am 01.09.2024.