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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Das Landtagswahlrecht in Sachsen

bei der geplanten Änderung des Wahlrechts diese Volkskreise in die unterste
der neuen drei Wählerklasseu hinab, so würde sich ein Sturm der Entrüstung
erheben, dem die Kammermehrheit kaum gewachsen sein würde. Glaubt man
aber aus ihnen die Kerntruppen der zweiten Wählerklasse bilden zu können, so
wird man gut thun, mit dem Gedanken zu rechnen, daß sie eines Tages mit
der dritten Wählerklasse gemeinschaftliche Sache machen und die Geldoligarchie
der obersten Wählerklasse als den gemeinsamen Feind bekämpfen werden. Unter
allen Umständen wird auch der mittlere Bürgerstand, gleichviel ob er zwei
oder bloß eine bevorzugte Wählerklasse über sich thronen sieht, die Änderung
des gegenwärtigen Wahlrechts als eine Verschlechterung auch zu seinem Nach¬
teil ansehen. Wir fürchten, die ersten Opfer dieser drohenden Koalition der
beiden untern Wählerklassen werden die Kmnmcrpolitiker sein, die sich jetzt um
die Ehre streiten, die Väter des neuen Wahlrechts zu heißen.

Aber auch noch aus einem andern Grnnde würden wir die geplante
Maßregel bedauern. Das jetzt noch geltende Wahlsystem wurde in Sachsen
eingeführt, weil man hinter dem allgemeinen Wahlrecht des soeben begründeten
norddeutschen Bundes nicht allzuweit zurückzubleiben wünschte. Man hatte
die Popularität des allgemeinen Wahlrechts richtig beurteilt und wollte un-
liebsame Vergleiche zwischen den politischen Rechten im Reiche und im eignen
Lande vermeiden. Diese Vergleiche würden heute, wo das Reich noch viel
näher an den Einzelnen heranreicht als früher, mit aller Schärfe herausge¬
fordert werden, wenn die mit dem vollen Reichstagswahlrecht ausgestatteten
untern Klassen in den neuen sächsischen Wahlgarten zwar ihre Stimme hinein¬
werfen, aber beileibe nicht darin spazieren gehen dürften. Man kann nicht
sagen, daß sich die Sozialdemokratie bisher feindselig gegen die Sonder¬
existenz der einzelnen Bundesstaaten gestellt hätte. In Sachsen gab es eine Zeit,
wo der Partikularismus sogar unbedenklich der Sozialdemokratie vor einer ge¬
wissen andern Partei, die im Jahre 1866 als annexionistisch bezeichnet wurde,
den Vorzug gab. Noch im Frühjahr 1377 wurde in der Haupt- und Residenz¬
stadt Dresden Bebel mit großer Mehrheit gegen den Nationalliberalen Mayhoff
gewählt. Erfährt die Sozialdemokratie jetzt durch die Gesetzgebung ihres
Heimatlandes eine Verkümmerung der politischen Rechte? die sie als ein ihr
angethanes schreiendes Unrecht empfindet, so kann es gar nicht ausbleiben,
daß sie den Haß, den sie gegen die Staatsordnung überhaupt empfinden mag,
mit doppeltem und dreifachem Ingrimm gegen dieses ihr Heimatland kehren und
nur vom Reiche noch Besserung erwarten wird. Nun schmeichelten sich zwar
die Redner der Kammermehrheit, daß sich das Reich beeilen werde, dem Beispiele
Sachsens zu solgen. Wir fürchten aber, die Staatsweisheit der Dresdner
Kammerpolitiker werde beim Bundesrat und Reichstag doch nicht so hoch im
Kurs stehen, und wir glauben, daß es mit der Beseitigung des allgemeinen
Wahlrechts für ganz Deutschland jedenfalls gute Wege haben wird.


Das Landtagswahlrecht in Sachsen

bei der geplanten Änderung des Wahlrechts diese Volkskreise in die unterste
der neuen drei Wählerklasseu hinab, so würde sich ein Sturm der Entrüstung
erheben, dem die Kammermehrheit kaum gewachsen sein würde. Glaubt man
aber aus ihnen die Kerntruppen der zweiten Wählerklasse bilden zu können, so
wird man gut thun, mit dem Gedanken zu rechnen, daß sie eines Tages mit
der dritten Wählerklasse gemeinschaftliche Sache machen und die Geldoligarchie
der obersten Wählerklasse als den gemeinsamen Feind bekämpfen werden. Unter
allen Umständen wird auch der mittlere Bürgerstand, gleichviel ob er zwei
oder bloß eine bevorzugte Wählerklasse über sich thronen sieht, die Änderung
des gegenwärtigen Wahlrechts als eine Verschlechterung auch zu seinem Nach¬
teil ansehen. Wir fürchten, die ersten Opfer dieser drohenden Koalition der
beiden untern Wählerklassen werden die Kmnmcrpolitiker sein, die sich jetzt um
die Ehre streiten, die Väter des neuen Wahlrechts zu heißen.

Aber auch noch aus einem andern Grnnde würden wir die geplante
Maßregel bedauern. Das jetzt noch geltende Wahlsystem wurde in Sachsen
eingeführt, weil man hinter dem allgemeinen Wahlrecht des soeben begründeten
norddeutschen Bundes nicht allzuweit zurückzubleiben wünschte. Man hatte
die Popularität des allgemeinen Wahlrechts richtig beurteilt und wollte un-
liebsame Vergleiche zwischen den politischen Rechten im Reiche und im eignen
Lande vermeiden. Diese Vergleiche würden heute, wo das Reich noch viel
näher an den Einzelnen heranreicht als früher, mit aller Schärfe herausge¬
fordert werden, wenn die mit dem vollen Reichstagswahlrecht ausgestatteten
untern Klassen in den neuen sächsischen Wahlgarten zwar ihre Stimme hinein¬
werfen, aber beileibe nicht darin spazieren gehen dürften. Man kann nicht
sagen, daß sich die Sozialdemokratie bisher feindselig gegen die Sonder¬
existenz der einzelnen Bundesstaaten gestellt hätte. In Sachsen gab es eine Zeit,
wo der Partikularismus sogar unbedenklich der Sozialdemokratie vor einer ge¬
wissen andern Partei, die im Jahre 1866 als annexionistisch bezeichnet wurde,
den Vorzug gab. Noch im Frühjahr 1377 wurde in der Haupt- und Residenz¬
stadt Dresden Bebel mit großer Mehrheit gegen den Nationalliberalen Mayhoff
gewählt. Erfährt die Sozialdemokratie jetzt durch die Gesetzgebung ihres
Heimatlandes eine Verkümmerung der politischen Rechte? die sie als ein ihr
angethanes schreiendes Unrecht empfindet, so kann es gar nicht ausbleiben,
daß sie den Haß, den sie gegen die Staatsordnung überhaupt empfinden mag,
mit doppeltem und dreifachem Ingrimm gegen dieses ihr Heimatland kehren und
nur vom Reiche noch Besserung erwarten wird. Nun schmeichelten sich zwar
die Redner der Kammermehrheit, daß sich das Reich beeilen werde, dem Beispiele
Sachsens zu solgen. Wir fürchten aber, die Staatsweisheit der Dresdner
Kammerpolitiker werde beim Bundesrat und Reichstag doch nicht so hoch im
Kurs stehen, und wir glauben, daß es mit der Beseitigung des allgemeinen
Wahlrechts für ganz Deutschland jedenfalls gute Wege haben wird.


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[0141] Das Landtagswahlrecht in Sachsen bei der geplanten Änderung des Wahlrechts diese Volkskreise in die unterste der neuen drei Wählerklasseu hinab, so würde sich ein Sturm der Entrüstung erheben, dem die Kammermehrheit kaum gewachsen sein würde. Glaubt man aber aus ihnen die Kerntruppen der zweiten Wählerklasse bilden zu können, so wird man gut thun, mit dem Gedanken zu rechnen, daß sie eines Tages mit der dritten Wählerklasse gemeinschaftliche Sache machen und die Geldoligarchie der obersten Wählerklasse als den gemeinsamen Feind bekämpfen werden. Unter allen Umständen wird auch der mittlere Bürgerstand, gleichviel ob er zwei oder bloß eine bevorzugte Wählerklasse über sich thronen sieht, die Änderung des gegenwärtigen Wahlrechts als eine Verschlechterung auch zu seinem Nach¬ teil ansehen. Wir fürchten, die ersten Opfer dieser drohenden Koalition der beiden untern Wählerklassen werden die Kmnmcrpolitiker sein, die sich jetzt um die Ehre streiten, die Väter des neuen Wahlrechts zu heißen. Aber auch noch aus einem andern Grnnde würden wir die geplante Maßregel bedauern. Das jetzt noch geltende Wahlsystem wurde in Sachsen eingeführt, weil man hinter dem allgemeinen Wahlrecht des soeben begründeten norddeutschen Bundes nicht allzuweit zurückzubleiben wünschte. Man hatte die Popularität des allgemeinen Wahlrechts richtig beurteilt und wollte un- liebsame Vergleiche zwischen den politischen Rechten im Reiche und im eignen Lande vermeiden. Diese Vergleiche würden heute, wo das Reich noch viel näher an den Einzelnen heranreicht als früher, mit aller Schärfe herausge¬ fordert werden, wenn die mit dem vollen Reichstagswahlrecht ausgestatteten untern Klassen in den neuen sächsischen Wahlgarten zwar ihre Stimme hinein¬ werfen, aber beileibe nicht darin spazieren gehen dürften. Man kann nicht sagen, daß sich die Sozialdemokratie bisher feindselig gegen die Sonder¬ existenz der einzelnen Bundesstaaten gestellt hätte. In Sachsen gab es eine Zeit, wo der Partikularismus sogar unbedenklich der Sozialdemokratie vor einer ge¬ wissen andern Partei, die im Jahre 1866 als annexionistisch bezeichnet wurde, den Vorzug gab. Noch im Frühjahr 1377 wurde in der Haupt- und Residenz¬ stadt Dresden Bebel mit großer Mehrheit gegen den Nationalliberalen Mayhoff gewählt. Erfährt die Sozialdemokratie jetzt durch die Gesetzgebung ihres Heimatlandes eine Verkümmerung der politischen Rechte? die sie als ein ihr angethanes schreiendes Unrecht empfindet, so kann es gar nicht ausbleiben, daß sie den Haß, den sie gegen die Staatsordnung überhaupt empfinden mag, mit doppeltem und dreifachem Ingrimm gegen dieses ihr Heimatland kehren und nur vom Reiche noch Besserung erwarten wird. Nun schmeichelten sich zwar die Redner der Kammermehrheit, daß sich das Reich beeilen werde, dem Beispiele Sachsens zu solgen. Wir fürchten aber, die Staatsweisheit der Dresdner Kammerpolitiker werde beim Bundesrat und Reichstag doch nicht so hoch im Kurs stehen, und wir glauben, daß es mit der Beseitigung des allgemeinen Wahlrechts für ganz Deutschland jedenfalls gute Wege haben wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/141>, abgerufen am 27.11.2024.