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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Das Landtagswahlrecht i" Sachsen

organ zu gelten, die Leipziger Zeitung. Sie ist vortrefflich redigirt, befriedigt
selbst den anspruchsvollen Zeitungsleser, fällt freimütige, gesunde Urteile,
läßt den Gegner zu Worte kommen und trifft nicht selten auch in sozialen
Dingen den Nagel auf den Kopf, wenn sie nicht gerade, was sie freilich auch
thut, der Nepressiouspolitik das Wort redet. Gerade die Leipziger Zeitung
aber ist Regierungsblatt im eigentlichen Sinne des Worts, d. h. sie ist Eigentum
des Staats und wird von einem Staatsverwaltungsbeamten geleitet. Es ist
deshalb selbstverständlich, daß sie für die von der Regierung gutgeheißene
Wahlrechtsänderung eintritt. Die kleine bürgerliche Presse sucht sich, so gut
es geht, darüber hinwegzuschweigen. Die Folge ist daher, daß auch in dieser
wichtigen Frage die Presse ihrer schönen Aufgabe, die Regierung über die
wahre Stimmung des Landes aufzuklären, nicht genügt.

Die Gerechtigkeit erfordert, anzuerkennen, daß die sächsische Verwaltung
von einer wohlunterrichteten, arbeitsfreudigen, für alle Zweige der materiellen
Wohlfahrt eifrig sorgenden Büreaukrntie geleitet wird. Aber auch sie hat dem
Schicksal nicht entgehen können, dem das patriarchalische Regierungssystem
heute überall begegnet: man weiß ihr keinen Dank mehr, wenn sie heute noch
als Wohlthat glaubt gewähren zu können, was die Massen als Recht meinen
fordern zu dürfen. Sie hat sich von dem gewöhnlichen Fehler gerade der
pflichttreuen Beamtenschaft nicht ganz frei halten können, auf die freien Kräfte
im Volksleben mit einem gewissen Mißtrauen zu blicken. So ist der Zu¬
sammenhang mit den breiten Massen mehr und mehr verloren gegangen, man
ist empfindlich gegen die Kritik geworden, man hat die staatlichen Machtmittel
dagegen ins Feld geführt, zu denen ein rigoroses, durch keinen Vcrwaltungs-
gcrichtshof regulirtes Vereins- und Versammlungsrecht gehört, und so ist es
heute in Sachsen zwischen den Verwaltungsbehörden und der Sozialdemokratie
zu einem Verhältnis gekommen, das man mit einer Art von Kriegszustand
vergleichen darf. Es ist richtig, daß dieser Feldzug, um bei dem Bilde zu
bleiben, von der Sozialdemokratie ohne Bundesgenossen geführt wird. Die
übrige Bevölkerung sieht dem Kampfe zu, sie ergreift uicht Partei für die
Sozialdemokraten, aber auch nicht -- und das giebt zu denken -- nicht
Partei für die Behörden. Auch das Bürgertum hat gegen sie allerhand heimliche
Schmerzen, wenn ihnen auch nur bei Empfang des Steuerzcttels und am Bier¬
tisch zuweilen Luft gemacht wird. Man ist äußerlich loyal, aber kein Wissender
bezweifelt, daß es auch im sogenannten Mittelstande bis ziemlich hoch hinauf
nicht an Unzufrievnen fehlt. Ein äußerliches Anzeichen dafür ist das plötz¬
liche gewaltige Aufflammen der antisemitischen Bewegung, die in dem fast juden-
reinen Sachsen aus sich selbst heraus gar uicht zu erklären wäre. Sie schöpft
ihre Nahrung aus einer weit verbreiteten Oppositionsstimmnng des Mittel¬
standes, der allerdings nicht mit der Sozialdemokratie gehen mag und so lange
es geht, es auch mit den Behörden nicht offen verderben möchte. Drückte man


Das Landtagswahlrecht i» Sachsen

organ zu gelten, die Leipziger Zeitung. Sie ist vortrefflich redigirt, befriedigt
selbst den anspruchsvollen Zeitungsleser, fällt freimütige, gesunde Urteile,
läßt den Gegner zu Worte kommen und trifft nicht selten auch in sozialen
Dingen den Nagel auf den Kopf, wenn sie nicht gerade, was sie freilich auch
thut, der Nepressiouspolitik das Wort redet. Gerade die Leipziger Zeitung
aber ist Regierungsblatt im eigentlichen Sinne des Worts, d. h. sie ist Eigentum
des Staats und wird von einem Staatsverwaltungsbeamten geleitet. Es ist
deshalb selbstverständlich, daß sie für die von der Regierung gutgeheißene
Wahlrechtsänderung eintritt. Die kleine bürgerliche Presse sucht sich, so gut
es geht, darüber hinwegzuschweigen. Die Folge ist daher, daß auch in dieser
wichtigen Frage die Presse ihrer schönen Aufgabe, die Regierung über die
wahre Stimmung des Landes aufzuklären, nicht genügt.

Die Gerechtigkeit erfordert, anzuerkennen, daß die sächsische Verwaltung
von einer wohlunterrichteten, arbeitsfreudigen, für alle Zweige der materiellen
Wohlfahrt eifrig sorgenden Büreaukrntie geleitet wird. Aber auch sie hat dem
Schicksal nicht entgehen können, dem das patriarchalische Regierungssystem
heute überall begegnet: man weiß ihr keinen Dank mehr, wenn sie heute noch
als Wohlthat glaubt gewähren zu können, was die Massen als Recht meinen
fordern zu dürfen. Sie hat sich von dem gewöhnlichen Fehler gerade der
pflichttreuen Beamtenschaft nicht ganz frei halten können, auf die freien Kräfte
im Volksleben mit einem gewissen Mißtrauen zu blicken. So ist der Zu¬
sammenhang mit den breiten Massen mehr und mehr verloren gegangen, man
ist empfindlich gegen die Kritik geworden, man hat die staatlichen Machtmittel
dagegen ins Feld geführt, zu denen ein rigoroses, durch keinen Vcrwaltungs-
gcrichtshof regulirtes Vereins- und Versammlungsrecht gehört, und so ist es
heute in Sachsen zwischen den Verwaltungsbehörden und der Sozialdemokratie
zu einem Verhältnis gekommen, das man mit einer Art von Kriegszustand
vergleichen darf. Es ist richtig, daß dieser Feldzug, um bei dem Bilde zu
bleiben, von der Sozialdemokratie ohne Bundesgenossen geführt wird. Die
übrige Bevölkerung sieht dem Kampfe zu, sie ergreift uicht Partei für die
Sozialdemokraten, aber auch nicht — und das giebt zu denken — nicht
Partei für die Behörden. Auch das Bürgertum hat gegen sie allerhand heimliche
Schmerzen, wenn ihnen auch nur bei Empfang des Steuerzcttels und am Bier¬
tisch zuweilen Luft gemacht wird. Man ist äußerlich loyal, aber kein Wissender
bezweifelt, daß es auch im sogenannten Mittelstande bis ziemlich hoch hinauf
nicht an Unzufrievnen fehlt. Ein äußerliches Anzeichen dafür ist das plötz¬
liche gewaltige Aufflammen der antisemitischen Bewegung, die in dem fast juden-
reinen Sachsen aus sich selbst heraus gar uicht zu erklären wäre. Sie schöpft
ihre Nahrung aus einer weit verbreiteten Oppositionsstimmnng des Mittel¬
standes, der allerdings nicht mit der Sozialdemokratie gehen mag und so lange
es geht, es auch mit den Behörden nicht offen verderben möchte. Drückte man


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/140>, abgerufen am 01.09.2024.