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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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MeltpolitikI

sie und erreicht in fremden Landen andauernd die Mehrheit, dann wird sie
eines Tages die fremde Flagge vom Stadthause herunternehmen und die
deutsche aufpflanzen, schon aus Eigennutz. Denn schließlich läßt sich der eng¬
lische Konkurrent unter deutscher Flagge doch noch besser schlagen als unter
englischer. So können auch heute noch überall deutsche Kolonien entstehen.

Staatsmänner, die nicht bloß das Wohl des deutschen Geldes wollen,
auch nicht bloß das Wohl des deutschen Auswandrers, der in Amerika gegen
seine Sprache höhere Löhne eintauscht, sondern deren Liebe der Zukunft des
deutschen Volkes gilt, müssen also eine Politik treiben, die beide zusammen¬
führt: die Arbeiter und die Arbeitsmittel. Sie dürfen bei dem Worte Kolonial¬
politik nicht nur an Afrika denken und daran, wer Kanzler von Kamerun
werden foll, sondern an die Millionen deutscher Auswandrer, die deutsche
Schule und deutsche Heereserziehung genossen haben und darum einen Kultur¬
dünger abgeben, wie er kostbarer gar nicht zu haben ist, die aber für deutsche
Kulturarbeit verloren sind; und an die Machtmittel des deutschen Volkes, die
kleinen Raubstaaten in den Schoß geworfen werden, um, wie von Kindern,
vergeudet zu werden.

Giebt es denn nun schon deutsche Kolonien, wo sich Arbeiter und Kapital
gefunden haben? O ja, abgesehen von den Tropen, wo ein Unternehmer immer
nur wenige europäische Kopfarbeiter beschäftigen kann, giebt es solche z. B.
in Südamerika. In Brasilien giebt es deutsche Dörfer, deutsche Ackerbau¬
kolonien. Aber, sagen die Konsuln und das auswärtige Amt, die sind doch
verloren! Es ist sehr traurig, daß Deutsche dorthin gehen, um über kurz oder
lang dort zu verwelschen. Denn retten können wir sie doch nicht! Wir können
nicht gegen das internationale Recht! Mit Verlaub: das sind diplomatische
Zwirnsfaden, noch leichter zu zerreißen als juristische. So mag die russische
Regierung reden, die an der Kolonisation des eignen Landes genug Arbeit
hat, oder die französische, die froh sein muß, wenn keiner auswandert. Eine
Regierung aber, wie die deutsche und englische, muß aggressive Kolonialpolitik
treiben. Die Russen und die Franzosen haben große Flotten und treiben
aggressive Kolonialpolitik. Warum? Vielleicht aus Übermut, denn nötig haben
sie es nicht. Die Deutschen haben keine große Flotte, und ihre Regierung
treibt eine recht schüchterne Kolonialpolitik. Warum? Weil sie ihre Pflicht
nicht kennt, oder vielmehr, weil ihr vom Volke wunderlicherweise die Mittel
zur Erfüllung ihrer Pflicht vorenthalten werden. Denn es ist die verdammte
Pflicht und Schuldigkeit der deutschen Regierung, aggressive Kolonialpolitik
zu treiben. stauen sich Wassermassen und gefährden bebaute Felder, so müssen sie
von den Behörden im öffentlichen Interesse in Bahnen geleitet werden, wo sie
Segen bringen. Auch wo sich Volksmassen, die nach Land schreien, gefährlich
auskauen, da müssen die Staatsleiter sie wegschaffen, aber nicht irgend wohin,
sondern dahin, wo sie der Gesamtheit nützen.


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sie und erreicht in fremden Landen andauernd die Mehrheit, dann wird sie
eines Tages die fremde Flagge vom Stadthause herunternehmen und die
deutsche aufpflanzen, schon aus Eigennutz. Denn schließlich läßt sich der eng¬
lische Konkurrent unter deutscher Flagge doch noch besser schlagen als unter
englischer. So können auch heute noch überall deutsche Kolonien entstehen.

Staatsmänner, die nicht bloß das Wohl des deutschen Geldes wollen,
auch nicht bloß das Wohl des deutschen Auswandrers, der in Amerika gegen
seine Sprache höhere Löhne eintauscht, sondern deren Liebe der Zukunft des
deutschen Volkes gilt, müssen also eine Politik treiben, die beide zusammen¬
führt: die Arbeiter und die Arbeitsmittel. Sie dürfen bei dem Worte Kolonial¬
politik nicht nur an Afrika denken und daran, wer Kanzler von Kamerun
werden foll, sondern an die Millionen deutscher Auswandrer, die deutsche
Schule und deutsche Heereserziehung genossen haben und darum einen Kultur¬
dünger abgeben, wie er kostbarer gar nicht zu haben ist, die aber für deutsche
Kulturarbeit verloren sind; und an die Machtmittel des deutschen Volkes, die
kleinen Raubstaaten in den Schoß geworfen werden, um, wie von Kindern,
vergeudet zu werden.

Giebt es denn nun schon deutsche Kolonien, wo sich Arbeiter und Kapital
gefunden haben? O ja, abgesehen von den Tropen, wo ein Unternehmer immer
nur wenige europäische Kopfarbeiter beschäftigen kann, giebt es solche z. B.
in Südamerika. In Brasilien giebt es deutsche Dörfer, deutsche Ackerbau¬
kolonien. Aber, sagen die Konsuln und das auswärtige Amt, die sind doch
verloren! Es ist sehr traurig, daß Deutsche dorthin gehen, um über kurz oder
lang dort zu verwelschen. Denn retten können wir sie doch nicht! Wir können
nicht gegen das internationale Recht! Mit Verlaub: das sind diplomatische
Zwirnsfaden, noch leichter zu zerreißen als juristische. So mag die russische
Regierung reden, die an der Kolonisation des eignen Landes genug Arbeit
hat, oder die französische, die froh sein muß, wenn keiner auswandert. Eine
Regierung aber, wie die deutsche und englische, muß aggressive Kolonialpolitik
treiben. Die Russen und die Franzosen haben große Flotten und treiben
aggressive Kolonialpolitik. Warum? Vielleicht aus Übermut, denn nötig haben
sie es nicht. Die Deutschen haben keine große Flotte, und ihre Regierung
treibt eine recht schüchterne Kolonialpolitik. Warum? Weil sie ihre Pflicht
nicht kennt, oder vielmehr, weil ihr vom Volke wunderlicherweise die Mittel
zur Erfüllung ihrer Pflicht vorenthalten werden. Denn es ist die verdammte
Pflicht und Schuldigkeit der deutschen Regierung, aggressive Kolonialpolitik
zu treiben. stauen sich Wassermassen und gefährden bebaute Felder, so müssen sie
von den Behörden im öffentlichen Interesse in Bahnen geleitet werden, wo sie
Segen bringen. Auch wo sich Volksmassen, die nach Land schreien, gefährlich
auskauen, da müssen die Staatsleiter sie wegschaffen, aber nicht irgend wohin,
sondern dahin, wo sie der Gesamtheit nützen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/119>, abgerufen am 01.09.2024.