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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Das versteht sich, das muß man ja sein. Aber den Ausdruck sollte ich
eigentlich übel nehmen.

Warum? Er ist doch nicht böse gemeint.

Werde ich dich denn morgen zu Tische führen? fragte Heinrich ablenkend
weiter.

Ich weiß nicht, Papa hat noch nichts darüber gesagt; er liebt in solchen
Dingen die Überraschungen. Er hat von einer Verlosung der Tischplätze ge¬
sprochen; ich weiß aber nicht, ob etwas draus wird.

Aber das geht doch gar nicht bei einer so großen Gesellschaft, wo Rück¬
sichten zu nehmen sind auf die Stellung der Güste und so weiter, meinte
Heinrich.

Darauf giebt Papa nicht viel. Aber komm, laß uns gehen, es wird kühl
und auch schon dunkel!

Sie standen auf. -- Hast du schon viel getanzt, fragte nun Heinrich, um
doch wieder etwas zu sagen.

Noch gar nicht!

Noch niemals? Aber wie ist denn das möglich?

Ja, wir Landmädchen leben ganz anders, als ihr in der Stadt. Gehst
denn du viel in Gesellschaften und auf Bälle?

Ach, nur zu oft! -- Er seufzte.

Warum gehst du denn hin, wenn es dir keine Freude macht?

Ja, das gehört nun einmal dazu.

Da möchte ich dich manchmal vertreten können und für dich in die Ge¬
sellschaften gehen.

Wenn du mitgingest, ginge ich vielleicht auch lieber.

Die letzten Worte waren Heinrich wohl nur so entschlüpft, und auch die
junge Kousine nahm sie auf, ohne ihnen eine tiefere Bedeutung beizulegen.
Inzwischen waren sie ins Haus gekommen und fanden die ganze Familie im
Wohnzimmer versammelt.

Kinder, sagte Herr Krause, als sie eintraten, heute wird frühzeitig Schicht
gemacht, damit wir morgen alle frisch sind. Um zehn Uhr muß im Hause
alles dunkel sein. Was wir uns noch zu sagen haben, können wir uns morgen
sagen. Die Mutter und ich haben noch dieses und jenes zu bereden. Vertha
sührt die Tante Hering und die Großmutter, Fritz den Vetter Heinrich ans
ihre Zimmer. Der Onkel Peters kann mit seiner Frau noch eine halbe Stunde
unten bleiben und uns mit Rat und That zur Hand gehen. Alle übrigen
haben Einzelhaft.

Diesen Anordnungen ließ sich schwer widersprechen, alle fügten sich willen¬
los dem autokratischen Hausherrn. Beim allgemeinen Guteuachtsagen sagte
Heinrich zu seiner Base: Sieh nur zu, daß wir morgen bei Tisch zusammensitzen.

Wollen sehen, was sich macheu läßt.

Heinrich ging nicht ungern aus sein Zimmer, da ihm die Krausische Ge¬
mütlichkeit nicht behagte und das Alleinsein ihm angenehmer war als eine
schleppende Unterhaltung im Familienkreise. Er legte sich zu Bett und las
bis zehn Uhr in einem alten Jahrgange des Töchteralbums, den er in einem
dürftig besetzten Bücherbord gefunden hatte. Ob die Tochter vom Hause aus
diese Weise bei der Herrichtung der Fremdenzimmer auch für angemessenen
Lesestoff der Güste hatte sorgen wollen, schien doch zweifelhaft. Jedenfalls
vertiefte sich Heinrich mit Andacht in die aufregenden Erlebnisse irgendeiner


verfehlter Anschluß

Das versteht sich, das muß man ja sein. Aber den Ausdruck sollte ich
eigentlich übel nehmen.

Warum? Er ist doch nicht böse gemeint.

Werde ich dich denn morgen zu Tische führen? fragte Heinrich ablenkend
weiter.

Ich weiß nicht, Papa hat noch nichts darüber gesagt; er liebt in solchen
Dingen die Überraschungen. Er hat von einer Verlosung der Tischplätze ge¬
sprochen; ich weiß aber nicht, ob etwas draus wird.

Aber das geht doch gar nicht bei einer so großen Gesellschaft, wo Rück¬
sichten zu nehmen sind auf die Stellung der Güste und so weiter, meinte
Heinrich.

Darauf giebt Papa nicht viel. Aber komm, laß uns gehen, es wird kühl
und auch schon dunkel!

Sie standen auf. — Hast du schon viel getanzt, fragte nun Heinrich, um
doch wieder etwas zu sagen.

Noch gar nicht!

Noch niemals? Aber wie ist denn das möglich?

Ja, wir Landmädchen leben ganz anders, als ihr in der Stadt. Gehst
denn du viel in Gesellschaften und auf Bälle?

Ach, nur zu oft! — Er seufzte.

Warum gehst du denn hin, wenn es dir keine Freude macht?

Ja, das gehört nun einmal dazu.

Da möchte ich dich manchmal vertreten können und für dich in die Ge¬
sellschaften gehen.

Wenn du mitgingest, ginge ich vielleicht auch lieber.

Die letzten Worte waren Heinrich wohl nur so entschlüpft, und auch die
junge Kousine nahm sie auf, ohne ihnen eine tiefere Bedeutung beizulegen.
Inzwischen waren sie ins Haus gekommen und fanden die ganze Familie im
Wohnzimmer versammelt.

Kinder, sagte Herr Krause, als sie eintraten, heute wird frühzeitig Schicht
gemacht, damit wir morgen alle frisch sind. Um zehn Uhr muß im Hause
alles dunkel sein. Was wir uns noch zu sagen haben, können wir uns morgen
sagen. Die Mutter und ich haben noch dieses und jenes zu bereden. Vertha
sührt die Tante Hering und die Großmutter, Fritz den Vetter Heinrich ans
ihre Zimmer. Der Onkel Peters kann mit seiner Frau noch eine halbe Stunde
unten bleiben und uns mit Rat und That zur Hand gehen. Alle übrigen
haben Einzelhaft.

Diesen Anordnungen ließ sich schwer widersprechen, alle fügten sich willen¬
los dem autokratischen Hausherrn. Beim allgemeinen Guteuachtsagen sagte
Heinrich zu seiner Base: Sieh nur zu, daß wir morgen bei Tisch zusammensitzen.

Wollen sehen, was sich macheu läßt.

Heinrich ging nicht ungern aus sein Zimmer, da ihm die Krausische Ge¬
mütlichkeit nicht behagte und das Alleinsein ihm angenehmer war als eine
schleppende Unterhaltung im Familienkreise. Er legte sich zu Bett und las
bis zehn Uhr in einem alten Jahrgange des Töchteralbums, den er in einem
dürftig besetzten Bücherbord gefunden hatte. Ob die Tochter vom Hause aus
diese Weise bei der Herrichtung der Fremdenzimmer auch für angemessenen
Lesestoff der Güste hatte sorgen wollen, schien doch zweifelhaft. Jedenfalls
vertiefte sich Heinrich mit Andacht in die aufregenden Erlebnisse irgendeiner


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/95>, abgerufen am 04.07.2024.