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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Die Wanderungen der ländlichen Bevölkerung in Preußen

braucht die Einzelwanderung: wilde Völker können zusammen wandern, der
Einzelne, der fortzieht, muß über ein gewisses Maß von Bildung verfügen;
es muß ihm bereits gegeben sein, über seine Umgebung nachzudenken, sie mit
den Nachrichten über die Fremde zu vergleichen und den doch immer bedeu¬
tungsvollen Entschluß zu fassen, sich von den gewohnten Verhältnissen zu
trennen und in die Ferne hinauszuziehen. Es ist das ein Entschluß, der
immer schon ein hohes Maß von persönlichem Bewußtsein erfordert. Daher
ist die Einzelwandernng, wie groß auch sonst ihre Nachteile sein mögen, Völker-
psychologisch betrachtet, ein Fortschritt gegen die Stammeswanderung; nur bei
Kulturvölkern findet sich Einzelwanderung.

Voraussetzung aller heutigen Wanderung ist ein gemeinsamer psycho¬
logischer Untergrund, aus dem der Wanderungsentschluß reift, die Unzufrieden¬
heit mit den gewohnten Verhältnissen, das Streben ans der Enge heraus, die
Hoffnung, daß das neue auch das bessere sei. Solche allgemein menschliche
Gedanken wirken jedoch auf die Volksseele zu verschiednen Zeiten verschieden
stark. Es ist ungemein reizvoll, dieses Auf und Nieder der Strömungen in
der Volksseele zu erforschen, und es wird gewiß gelingen, hier noch Ver¬
bindungen mit der allgemeinen Kulturentwicklung unsers Volkes und der Mensch¬
heit zu finden. Heute ist noch alles dunkel, nur so viel steht fest, daß solche
Erregungen der Volksseele vorhanden sind, daß sie abnehmen, schwinden und
wieder neu erscheinen; sie sind notwendig, um das Volk oder dessen einzelne
Teile empfänglicher zu machen für die Aufnahme von Gedanken, die ihm sonst
gleichgiltig wären, um es anzuspornen zu thätigem Handeln für Ziele, die es
sonst teilnahmlos abseits liegen ließe. Solche Erregnngszustünde der Volks¬
seele sind die mächtigsten Förderungsmittel der Wanderungen. Woher käme
sonst plötzlich das Auswanderuugsfieber, das ganze Gegenden erfaßt, Dörfer
fast verödet, bis es auf einmal wieder ohne ersichtlichen Grund erlischt, Gleich¬
mut und Ruhe in der Bevölkerung sich wiederfindet? Natürlich können solche
Erregungen künstlich genährt und gesteigert werden, und das macht sich dann
das oft unheilvolle Treiben der Agenten zu nutze, die daher mit Recht unter
strenge Aufsicht gestellt werden. Aber solche Erscheinungen hervorzurufen, wie
man behauptet hat, dazu reicht ihre Macht nicht aus, sie können nur Vvr-
hcmdnes ans Licht bringen.

Aus solchen gemeinsamen psychologischen Voraussetzungen erwächst also
der Entschluß zum Wandern, und in manchen, ja in vielen Fällen mag das
genügen. Zur Erklärung der heutigen Mafsenwnndernng sind aber doch noch
greifbarere Ursachen als diese seelischen Stimmungen nötig.

Uuter den politischen Parteien Deutschlands besteht über die wirtschaft¬
lichen und sozialen Ursachen der Wanderung keine Einigkeit. In der volkswirt¬
schaftlichen Wissenschaft dürfte dagegen die allgemeine Ansicht dahin gehen,
daß die Besitzverteilung des platten Landes die wirtschaftliche Ursache der


Die Wanderungen der ländlichen Bevölkerung in Preußen

braucht die Einzelwanderung: wilde Völker können zusammen wandern, der
Einzelne, der fortzieht, muß über ein gewisses Maß von Bildung verfügen;
es muß ihm bereits gegeben sein, über seine Umgebung nachzudenken, sie mit
den Nachrichten über die Fremde zu vergleichen und den doch immer bedeu¬
tungsvollen Entschluß zu fassen, sich von den gewohnten Verhältnissen zu
trennen und in die Ferne hinauszuziehen. Es ist das ein Entschluß, der
immer schon ein hohes Maß von persönlichem Bewußtsein erfordert. Daher
ist die Einzelwandernng, wie groß auch sonst ihre Nachteile sein mögen, Völker-
psychologisch betrachtet, ein Fortschritt gegen die Stammeswanderung; nur bei
Kulturvölkern findet sich Einzelwanderung.

Voraussetzung aller heutigen Wanderung ist ein gemeinsamer psycho¬
logischer Untergrund, aus dem der Wanderungsentschluß reift, die Unzufrieden¬
heit mit den gewohnten Verhältnissen, das Streben ans der Enge heraus, die
Hoffnung, daß das neue auch das bessere sei. Solche allgemein menschliche
Gedanken wirken jedoch auf die Volksseele zu verschiednen Zeiten verschieden
stark. Es ist ungemein reizvoll, dieses Auf und Nieder der Strömungen in
der Volksseele zu erforschen, und es wird gewiß gelingen, hier noch Ver¬
bindungen mit der allgemeinen Kulturentwicklung unsers Volkes und der Mensch¬
heit zu finden. Heute ist noch alles dunkel, nur so viel steht fest, daß solche
Erregungen der Volksseele vorhanden sind, daß sie abnehmen, schwinden und
wieder neu erscheinen; sie sind notwendig, um das Volk oder dessen einzelne
Teile empfänglicher zu machen für die Aufnahme von Gedanken, die ihm sonst
gleichgiltig wären, um es anzuspornen zu thätigem Handeln für Ziele, die es
sonst teilnahmlos abseits liegen ließe. Solche Erregnngszustünde der Volks¬
seele sind die mächtigsten Förderungsmittel der Wanderungen. Woher käme
sonst plötzlich das Auswanderuugsfieber, das ganze Gegenden erfaßt, Dörfer
fast verödet, bis es auf einmal wieder ohne ersichtlichen Grund erlischt, Gleich¬
mut und Ruhe in der Bevölkerung sich wiederfindet? Natürlich können solche
Erregungen künstlich genährt und gesteigert werden, und das macht sich dann
das oft unheilvolle Treiben der Agenten zu nutze, die daher mit Recht unter
strenge Aufsicht gestellt werden. Aber solche Erscheinungen hervorzurufen, wie
man behauptet hat, dazu reicht ihre Macht nicht aus, sie können nur Vvr-
hcmdnes ans Licht bringen.

Aus solchen gemeinsamen psychologischen Voraussetzungen erwächst also
der Entschluß zum Wandern, und in manchen, ja in vielen Fällen mag das
genügen. Zur Erklärung der heutigen Mafsenwnndernng sind aber doch noch
greifbarere Ursachen als diese seelischen Stimmungen nötig.

Uuter den politischen Parteien Deutschlands besteht über die wirtschaft¬
lichen und sozialen Ursachen der Wanderung keine Einigkeit. In der volkswirt¬
schaftlichen Wissenschaft dürfte dagegen die allgemeine Ansicht dahin gehen,
daß die Besitzverteilung des platten Landes die wirtschaftliche Ursache der


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[0075] Die Wanderungen der ländlichen Bevölkerung in Preußen braucht die Einzelwanderung: wilde Völker können zusammen wandern, der Einzelne, der fortzieht, muß über ein gewisses Maß von Bildung verfügen; es muß ihm bereits gegeben sein, über seine Umgebung nachzudenken, sie mit den Nachrichten über die Fremde zu vergleichen und den doch immer bedeu¬ tungsvollen Entschluß zu fassen, sich von den gewohnten Verhältnissen zu trennen und in die Ferne hinauszuziehen. Es ist das ein Entschluß, der immer schon ein hohes Maß von persönlichem Bewußtsein erfordert. Daher ist die Einzelwandernng, wie groß auch sonst ihre Nachteile sein mögen, Völker- psychologisch betrachtet, ein Fortschritt gegen die Stammeswanderung; nur bei Kulturvölkern findet sich Einzelwanderung. Voraussetzung aller heutigen Wanderung ist ein gemeinsamer psycho¬ logischer Untergrund, aus dem der Wanderungsentschluß reift, die Unzufrieden¬ heit mit den gewohnten Verhältnissen, das Streben ans der Enge heraus, die Hoffnung, daß das neue auch das bessere sei. Solche allgemein menschliche Gedanken wirken jedoch auf die Volksseele zu verschiednen Zeiten verschieden stark. Es ist ungemein reizvoll, dieses Auf und Nieder der Strömungen in der Volksseele zu erforschen, und es wird gewiß gelingen, hier noch Ver¬ bindungen mit der allgemeinen Kulturentwicklung unsers Volkes und der Mensch¬ heit zu finden. Heute ist noch alles dunkel, nur so viel steht fest, daß solche Erregungen der Volksseele vorhanden sind, daß sie abnehmen, schwinden und wieder neu erscheinen; sie sind notwendig, um das Volk oder dessen einzelne Teile empfänglicher zu machen für die Aufnahme von Gedanken, die ihm sonst gleichgiltig wären, um es anzuspornen zu thätigem Handeln für Ziele, die es sonst teilnahmlos abseits liegen ließe. Solche Erregnngszustünde der Volks¬ seele sind die mächtigsten Förderungsmittel der Wanderungen. Woher käme sonst plötzlich das Auswanderuugsfieber, das ganze Gegenden erfaßt, Dörfer fast verödet, bis es auf einmal wieder ohne ersichtlichen Grund erlischt, Gleich¬ mut und Ruhe in der Bevölkerung sich wiederfindet? Natürlich können solche Erregungen künstlich genährt und gesteigert werden, und das macht sich dann das oft unheilvolle Treiben der Agenten zu nutze, die daher mit Recht unter strenge Aufsicht gestellt werden. Aber solche Erscheinungen hervorzurufen, wie man behauptet hat, dazu reicht ihre Macht nicht aus, sie können nur Vvr- hcmdnes ans Licht bringen. Aus solchen gemeinsamen psychologischen Voraussetzungen erwächst also der Entschluß zum Wandern, und in manchen, ja in vielen Fällen mag das genügen. Zur Erklärung der heutigen Mafsenwnndernng sind aber doch noch greifbarere Ursachen als diese seelischen Stimmungen nötig. Uuter den politischen Parteien Deutschlands besteht über die wirtschaft¬ lichen und sozialen Ursachen der Wanderung keine Einigkeit. In der volkswirt¬ schaftlichen Wissenschaft dürfte dagegen die allgemeine Ansicht dahin gehen, daß die Besitzverteilung des platten Landes die wirtschaftliche Ursache der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/75>, abgerufen am 01.07.2024.