Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die ivandernngen der ländlichen Bevölkerung in Preußen

Hunderten von dem Aussterben der sächsischen Kaiser bis zum Ausgange des
Mittelalters von Deutschen in mehr oder minder geschlossenen Massen besiedelt
worden. Eine der größten Thaten unsers Volks, aber eine Erscheinung, die
damals ebenso wenig wie heute ohne wirtschaftliche Nachteile für die Zurück¬
bleibenden blieb, der Kampf gegen das Pfahlbürgertum der Städte, ist ja ge¬
rade aus dem wirtschaftlichen Nachteil, den der Abzug in die Städte den
Grundherren brachte, zu erklären. Die Zeit vom Anfange des sechzehnten bis
zur Mitte unsers Jahrhunderts ist dann allerdings frei von Wanderungen
größern Umfangs; und wie konnte es auch anders sein, dn die rechtliche Frei¬
heit, den Ort zu wechseln, der Landbevölkerung mehr und mehr abhanden ge¬
kommen war: sie war, wie es bezeichnend heißt, gist^s aäsorixwZ, der Scholle
hörig geworden. Erst der Anfang unsers Jahrhunderts sprengte diese Fesseln,
und sobald sich die Landbevölkerung der neuen Freiheit bewußt geworden ist,
beginnt auch wieder die Wanderung, erst in kleinen Rinnsalen, bis sie dann
zu einem mächtigen Strom geworden ist, der wohl seine Richtung ändert,
das einemal seine Hauptmassen über das Weltmeer sendet, das andremal im
wesentlichen innerhalb des Landes von Osten nach Westen, vom Lande zur
Stadt fließt, immer aber ununterbrochen weiterströmt und nicht so bald
versiegen wird.

Nicht die Ursachen, wohl aber der Charakter der Wanderungen hat sich
im Laufe der Jahrhunderte geändert. Im Mittelalter verlegte der Stamm,
die Nachbarschaft ihre Wohnsitze; auch bei der großen Kolonisation des Ostens
fand die Ansiedlung der Deutschen stets gruppenweise statt, und wohl immer
waren wenigstens die ersten Ansiedler mit einander durch das Gefühl des
Stammeszusämmcnhangs, wenn nicht der Nachbarschaft, verbunden. Heute
geht jeder, wohin ihn sein Stern führt, der Franke wohnt neben dem Baier,
der Ostdeutsche neben dem Süddeutschen; an der Stelle der organisirten
Stammeswanderung ist heute die unorganisirte Einzelwauderung getreten, und
nur die Sachsengängerei hat noch etwas von dem alten Charakter bewahrt.

Früher war im großen und ganzen jede Wanderung auch ein Abwandern,
der Fortziehende verließ für immer die heimatliche Scholle. Heute gehen zwei
Bewegungen neben einander her. Erstens das wirkliche Abwandern, sodann
das Fortziehen auf Zeit, ein Hin- und Herwogen der Bevölkerung, ein Hin-
fluteu nach Westen im Frühjahr und ein Zurücksinken im Herbst, wie bei den
Sachseugüugeru, oder in geringerm Umfang auch ein Eintreten in die In¬
dustrie währeud des Winters, ein Zurückgehen zur Landwirtschaft für den
Sommer.

Die Ursachen beider Arten der Wanderungen hängen zusammen, ihre Folgen
sind verschiede". Voraussetzung alles Wanderns ist die rechtliche Freiheit der
Massen; ohne sie mögen einzelne, selbst viele einzelne ihren Ort wechseln, aber
Massenwanderungen sind unmöglich. Aber noch eine andre Voraussetzung


Die ivandernngen der ländlichen Bevölkerung in Preußen

Hunderten von dem Aussterben der sächsischen Kaiser bis zum Ausgange des
Mittelalters von Deutschen in mehr oder minder geschlossenen Massen besiedelt
worden. Eine der größten Thaten unsers Volks, aber eine Erscheinung, die
damals ebenso wenig wie heute ohne wirtschaftliche Nachteile für die Zurück¬
bleibenden blieb, der Kampf gegen das Pfahlbürgertum der Städte, ist ja ge¬
rade aus dem wirtschaftlichen Nachteil, den der Abzug in die Städte den
Grundherren brachte, zu erklären. Die Zeit vom Anfange des sechzehnten bis
zur Mitte unsers Jahrhunderts ist dann allerdings frei von Wanderungen
größern Umfangs; und wie konnte es auch anders sein, dn die rechtliche Frei¬
heit, den Ort zu wechseln, der Landbevölkerung mehr und mehr abhanden ge¬
kommen war: sie war, wie es bezeichnend heißt, gist^s aäsorixwZ, der Scholle
hörig geworden. Erst der Anfang unsers Jahrhunderts sprengte diese Fesseln,
und sobald sich die Landbevölkerung der neuen Freiheit bewußt geworden ist,
beginnt auch wieder die Wanderung, erst in kleinen Rinnsalen, bis sie dann
zu einem mächtigen Strom geworden ist, der wohl seine Richtung ändert,
das einemal seine Hauptmassen über das Weltmeer sendet, das andremal im
wesentlichen innerhalb des Landes von Osten nach Westen, vom Lande zur
Stadt fließt, immer aber ununterbrochen weiterströmt und nicht so bald
versiegen wird.

Nicht die Ursachen, wohl aber der Charakter der Wanderungen hat sich
im Laufe der Jahrhunderte geändert. Im Mittelalter verlegte der Stamm,
die Nachbarschaft ihre Wohnsitze; auch bei der großen Kolonisation des Ostens
fand die Ansiedlung der Deutschen stets gruppenweise statt, und wohl immer
waren wenigstens die ersten Ansiedler mit einander durch das Gefühl des
Stammeszusämmcnhangs, wenn nicht der Nachbarschaft, verbunden. Heute
geht jeder, wohin ihn sein Stern führt, der Franke wohnt neben dem Baier,
der Ostdeutsche neben dem Süddeutschen; an der Stelle der organisirten
Stammeswanderung ist heute die unorganisirte Einzelwauderung getreten, und
nur die Sachsengängerei hat noch etwas von dem alten Charakter bewahrt.

Früher war im großen und ganzen jede Wanderung auch ein Abwandern,
der Fortziehende verließ für immer die heimatliche Scholle. Heute gehen zwei
Bewegungen neben einander her. Erstens das wirkliche Abwandern, sodann
das Fortziehen auf Zeit, ein Hin- und Herwogen der Bevölkerung, ein Hin-
fluteu nach Westen im Frühjahr und ein Zurücksinken im Herbst, wie bei den
Sachseugüugeru, oder in geringerm Umfang auch ein Eintreten in die In¬
dustrie währeud des Winters, ein Zurückgehen zur Landwirtschaft für den
Sommer.

Die Ursachen beider Arten der Wanderungen hängen zusammen, ihre Folgen
sind verschiede«. Voraussetzung alles Wanderns ist die rechtliche Freiheit der
Massen; ohne sie mögen einzelne, selbst viele einzelne ihren Ort wechseln, aber
Massenwanderungen sind unmöglich. Aber noch eine andre Voraussetzung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0074" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221050"/>
          <fw type="header" place="top"> Die ivandernngen der ländlichen Bevölkerung in Preußen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_186" prev="#ID_185"> Hunderten von dem Aussterben der sächsischen Kaiser bis zum Ausgange des<lb/>
Mittelalters von Deutschen in mehr oder minder geschlossenen Massen besiedelt<lb/>
worden. Eine der größten Thaten unsers Volks, aber eine Erscheinung, die<lb/>
damals ebenso wenig wie heute ohne wirtschaftliche Nachteile für die Zurück¬<lb/>
bleibenden blieb, der Kampf gegen das Pfahlbürgertum der Städte, ist ja ge¬<lb/>
rade aus dem wirtschaftlichen Nachteil, den der Abzug in die Städte den<lb/>
Grundherren brachte, zu erklären. Die Zeit vom Anfange des sechzehnten bis<lb/>
zur Mitte unsers Jahrhunderts ist dann allerdings frei von Wanderungen<lb/>
größern Umfangs; und wie konnte es auch anders sein, dn die rechtliche Frei¬<lb/>
heit, den Ort zu wechseln, der Landbevölkerung mehr und mehr abhanden ge¬<lb/>
kommen war: sie war, wie es bezeichnend heißt, gist^s aäsorixwZ, der Scholle<lb/>
hörig geworden. Erst der Anfang unsers Jahrhunderts sprengte diese Fesseln,<lb/>
und sobald sich die Landbevölkerung der neuen Freiheit bewußt geworden ist,<lb/>
beginnt auch wieder die Wanderung, erst in kleinen Rinnsalen, bis sie dann<lb/>
zu einem mächtigen Strom geworden ist, der wohl seine Richtung ändert,<lb/>
das einemal seine Hauptmassen über das Weltmeer sendet, das andremal im<lb/>
wesentlichen innerhalb des Landes von Osten nach Westen, vom Lande zur<lb/>
Stadt fließt, immer aber ununterbrochen weiterströmt und nicht so bald<lb/>
versiegen wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_187"> Nicht die Ursachen, wohl aber der Charakter der Wanderungen hat sich<lb/>
im Laufe der Jahrhunderte geändert. Im Mittelalter verlegte der Stamm,<lb/>
die Nachbarschaft ihre Wohnsitze; auch bei der großen Kolonisation des Ostens<lb/>
fand die Ansiedlung der Deutschen stets gruppenweise statt, und wohl immer<lb/>
waren wenigstens die ersten Ansiedler mit einander durch das Gefühl des<lb/>
Stammeszusämmcnhangs, wenn nicht der Nachbarschaft, verbunden. Heute<lb/>
geht jeder, wohin ihn sein Stern führt, der Franke wohnt neben dem Baier,<lb/>
der Ostdeutsche neben dem Süddeutschen; an der Stelle der organisirten<lb/>
Stammeswanderung ist heute die unorganisirte Einzelwauderung getreten, und<lb/>
nur die Sachsengängerei hat noch etwas von dem alten Charakter bewahrt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_188"> Früher war im großen und ganzen jede Wanderung auch ein Abwandern,<lb/>
der Fortziehende verließ für immer die heimatliche Scholle. Heute gehen zwei<lb/>
Bewegungen neben einander her. Erstens das wirkliche Abwandern, sodann<lb/>
das Fortziehen auf Zeit, ein Hin- und Herwogen der Bevölkerung, ein Hin-<lb/>
fluteu nach Westen im Frühjahr und ein Zurücksinken im Herbst, wie bei den<lb/>
Sachseugüugeru, oder in geringerm Umfang auch ein Eintreten in die In¬<lb/>
dustrie währeud des Winters, ein Zurückgehen zur Landwirtschaft für den<lb/>
Sommer.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_189" next="#ID_190"> Die Ursachen beider Arten der Wanderungen hängen zusammen, ihre Folgen<lb/>
sind verschiede«. Voraussetzung alles Wanderns ist die rechtliche Freiheit der<lb/>
Massen; ohne sie mögen einzelne, selbst viele einzelne ihren Ort wechseln, aber<lb/>
Massenwanderungen sind unmöglich.  Aber noch eine andre Voraussetzung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0074] Die ivandernngen der ländlichen Bevölkerung in Preußen Hunderten von dem Aussterben der sächsischen Kaiser bis zum Ausgange des Mittelalters von Deutschen in mehr oder minder geschlossenen Massen besiedelt worden. Eine der größten Thaten unsers Volks, aber eine Erscheinung, die damals ebenso wenig wie heute ohne wirtschaftliche Nachteile für die Zurück¬ bleibenden blieb, der Kampf gegen das Pfahlbürgertum der Städte, ist ja ge¬ rade aus dem wirtschaftlichen Nachteil, den der Abzug in die Städte den Grundherren brachte, zu erklären. Die Zeit vom Anfange des sechzehnten bis zur Mitte unsers Jahrhunderts ist dann allerdings frei von Wanderungen größern Umfangs; und wie konnte es auch anders sein, dn die rechtliche Frei¬ heit, den Ort zu wechseln, der Landbevölkerung mehr und mehr abhanden ge¬ kommen war: sie war, wie es bezeichnend heißt, gist^s aäsorixwZ, der Scholle hörig geworden. Erst der Anfang unsers Jahrhunderts sprengte diese Fesseln, und sobald sich die Landbevölkerung der neuen Freiheit bewußt geworden ist, beginnt auch wieder die Wanderung, erst in kleinen Rinnsalen, bis sie dann zu einem mächtigen Strom geworden ist, der wohl seine Richtung ändert, das einemal seine Hauptmassen über das Weltmeer sendet, das andremal im wesentlichen innerhalb des Landes von Osten nach Westen, vom Lande zur Stadt fließt, immer aber ununterbrochen weiterströmt und nicht so bald versiegen wird. Nicht die Ursachen, wohl aber der Charakter der Wanderungen hat sich im Laufe der Jahrhunderte geändert. Im Mittelalter verlegte der Stamm, die Nachbarschaft ihre Wohnsitze; auch bei der großen Kolonisation des Ostens fand die Ansiedlung der Deutschen stets gruppenweise statt, und wohl immer waren wenigstens die ersten Ansiedler mit einander durch das Gefühl des Stammeszusämmcnhangs, wenn nicht der Nachbarschaft, verbunden. Heute geht jeder, wohin ihn sein Stern führt, der Franke wohnt neben dem Baier, der Ostdeutsche neben dem Süddeutschen; an der Stelle der organisirten Stammeswanderung ist heute die unorganisirte Einzelwauderung getreten, und nur die Sachsengängerei hat noch etwas von dem alten Charakter bewahrt. Früher war im großen und ganzen jede Wanderung auch ein Abwandern, der Fortziehende verließ für immer die heimatliche Scholle. Heute gehen zwei Bewegungen neben einander her. Erstens das wirkliche Abwandern, sodann das Fortziehen auf Zeit, ein Hin- und Herwogen der Bevölkerung, ein Hin- fluteu nach Westen im Frühjahr und ein Zurücksinken im Herbst, wie bei den Sachseugüugeru, oder in geringerm Umfang auch ein Eintreten in die In¬ dustrie währeud des Winters, ein Zurückgehen zur Landwirtschaft für den Sommer. Die Ursachen beider Arten der Wanderungen hängen zusammen, ihre Folgen sind verschiede«. Voraussetzung alles Wanderns ist die rechtliche Freiheit der Massen; ohne sie mögen einzelne, selbst viele einzelne ihren Ort wechseln, aber Massenwanderungen sind unmöglich. Aber noch eine andre Voraussetzung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/74
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/74>, abgerufen am 29.06.2024.