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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Zu Leopold Rankes hundertsten Geburtstag

kritisiren. Meisterlich hat er das vor allem in der einzigen großen Biographie
aus seiner Feder, im Wallenstein, gethan. Aber über den Menschen und den
Völkern schweben allezeit große Ideen, allgemeine Tendenzen, die im sich Laufe
der Generationen entwickeln und verändern, entstehen und verschwinden. Fast
könnte es zuweilen scheinen, als ob ihnen Ranke ein selbständiges Leben zu¬
schriebe, etwa wie Platon seinen Ideen, die allerdings etwas andres sind; aber
so denkt er doch nicht. Diese Tendenzen wollen von den Menschen ergriffen
werden, um wirksam zu werden, sie sind nur in ihnen, nicht außer ihnen,
aber sie wirken dann weit über das Leben und das Wollen des Einzelnen
hinaus. Und wie meisterlich versteht es nun Ranke, uns diese Tendenzen klar
zu macheu, dadurch das scheinbare Wirrsal der Begebenheiten unter große
Gesichtspunkte zu bringen, selbst leicht ermüdende, lang ausgesponnene Ver¬
handlungen verständlich und interessant zu gestalten. Manche große Richtlinie"
durchziehen alle seine Schriften: der Gedanke der germanisch-romanischen Völker¬
gemeinschaft, der gegenseitigen Bedingtheit der christlichen und der islamitischen
Welt im Mittelalter, des Gegensatzes zwischen revolutionärer und konservativer
Politik in der neuesten Zeit.

Von dieser Grundlage aus kam er zu einer ganz eigentümlichen Geschichts¬
forschung und Geschichtsschreibung. Weil er sich vorgesetzt hatte, bis ins Innerste
der Menschenseele, der handelnden Persönlichkeiten zu blicken, deshalb wurde
er der Meister der kritischen Quellenforschung, der große Bahnbrecher akten-
mäßiger Darstellung, denn nur, wenn er auf die ursprünglichen Quellen, auf
die Berichte und Äußerungen der Zeitgenossen zurückging, vermochte er sie
selber zu sehen, statt ihre abgeblaßten oder verzerrten Bilder. Wie oft spricht
er in seinen Briefen davon, daß er in den handschriftlichen Schätzen der Archive
geradezu schweige! Denn aus diesen vergilbten und verstaubten Papieren, aus
denen andern nur ein hoffnungsloses Wirrsal entgegeustarrt, treten ihm überall
lebensvolle Gestalten entgegen. Er wußte recht wohl, wie befangen gerade
die Zeitgenossen sein können, aber indem er sie selber bei ihrer Arbeit sah,
setzte er sein eignes unbefangnes Urteil an die Stelle der Berichte über jene
Arbeit. Weil aber nun die Persönlichkeiten der Vergangenheit meist nur in
den obern, leitenden Schichten der Gesellschaft deutlich zu erkennen sind, nicht
in der dunkeln, regierten Masse, so nahm er ganz von selbst einen seinem
innersten, feinfühligen Wesen ohnehin entsprechenden durchaus monarchisch-
aristokratischen Standpunkt ein. Daher wählte er sein Studiengebiet mit Vor¬
liebe in solchen Zeiten und Zustünden, wo jene Gesellschaftskreise herrschten,
wo die Politik in den Salons und in deu Kabinetten der Fürsten und der
Staatsmänner gemacht wurde, wo feingebildete, mehr oder weniger geistvolle
Menschen sie machten, und wo zugleich solche Menschen die Ergebnisse ihrer
scharfen Beobachtung in einer Fülle von Alten und Berichten niedergelegt hatten.
Deshalb wurde das sechzehnte, siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert sein
wichtigstes Arbeitsfeld; ja man kann sagen: seine ganze Auffassnngs-und Dar-


Zu Leopold Rankes hundertsten Geburtstag

kritisiren. Meisterlich hat er das vor allem in der einzigen großen Biographie
aus seiner Feder, im Wallenstein, gethan. Aber über den Menschen und den
Völkern schweben allezeit große Ideen, allgemeine Tendenzen, die im sich Laufe
der Generationen entwickeln und verändern, entstehen und verschwinden. Fast
könnte es zuweilen scheinen, als ob ihnen Ranke ein selbständiges Leben zu¬
schriebe, etwa wie Platon seinen Ideen, die allerdings etwas andres sind; aber
so denkt er doch nicht. Diese Tendenzen wollen von den Menschen ergriffen
werden, um wirksam zu werden, sie sind nur in ihnen, nicht außer ihnen,
aber sie wirken dann weit über das Leben und das Wollen des Einzelnen
hinaus. Und wie meisterlich versteht es nun Ranke, uns diese Tendenzen klar
zu macheu, dadurch das scheinbare Wirrsal der Begebenheiten unter große
Gesichtspunkte zu bringen, selbst leicht ermüdende, lang ausgesponnene Ver¬
handlungen verständlich und interessant zu gestalten. Manche große Richtlinie»
durchziehen alle seine Schriften: der Gedanke der germanisch-romanischen Völker¬
gemeinschaft, der gegenseitigen Bedingtheit der christlichen und der islamitischen
Welt im Mittelalter, des Gegensatzes zwischen revolutionärer und konservativer
Politik in der neuesten Zeit.

Von dieser Grundlage aus kam er zu einer ganz eigentümlichen Geschichts¬
forschung und Geschichtsschreibung. Weil er sich vorgesetzt hatte, bis ins Innerste
der Menschenseele, der handelnden Persönlichkeiten zu blicken, deshalb wurde
er der Meister der kritischen Quellenforschung, der große Bahnbrecher akten-
mäßiger Darstellung, denn nur, wenn er auf die ursprünglichen Quellen, auf
die Berichte und Äußerungen der Zeitgenossen zurückging, vermochte er sie
selber zu sehen, statt ihre abgeblaßten oder verzerrten Bilder. Wie oft spricht
er in seinen Briefen davon, daß er in den handschriftlichen Schätzen der Archive
geradezu schweige! Denn aus diesen vergilbten und verstaubten Papieren, aus
denen andern nur ein hoffnungsloses Wirrsal entgegeustarrt, treten ihm überall
lebensvolle Gestalten entgegen. Er wußte recht wohl, wie befangen gerade
die Zeitgenossen sein können, aber indem er sie selber bei ihrer Arbeit sah,
setzte er sein eignes unbefangnes Urteil an die Stelle der Berichte über jene
Arbeit. Weil aber nun die Persönlichkeiten der Vergangenheit meist nur in
den obern, leitenden Schichten der Gesellschaft deutlich zu erkennen sind, nicht
in der dunkeln, regierten Masse, so nahm er ganz von selbst einen seinem
innersten, feinfühligen Wesen ohnehin entsprechenden durchaus monarchisch-
aristokratischen Standpunkt ein. Daher wählte er sein Studiengebiet mit Vor¬
liebe in solchen Zeiten und Zustünden, wo jene Gesellschaftskreise herrschten,
wo die Politik in den Salons und in deu Kabinetten der Fürsten und der
Staatsmänner gemacht wurde, wo feingebildete, mehr oder weniger geistvolle
Menschen sie machten, und wo zugleich solche Menschen die Ergebnisse ihrer
scharfen Beobachtung in einer Fülle von Alten und Berichten niedergelegt hatten.
Deshalb wurde das sechzehnte, siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert sein
wichtigstes Arbeitsfeld; ja man kann sagen: seine ganze Auffassnngs-und Dar-


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[0614] Zu Leopold Rankes hundertsten Geburtstag kritisiren. Meisterlich hat er das vor allem in der einzigen großen Biographie aus seiner Feder, im Wallenstein, gethan. Aber über den Menschen und den Völkern schweben allezeit große Ideen, allgemeine Tendenzen, die im sich Laufe der Generationen entwickeln und verändern, entstehen und verschwinden. Fast könnte es zuweilen scheinen, als ob ihnen Ranke ein selbständiges Leben zu¬ schriebe, etwa wie Platon seinen Ideen, die allerdings etwas andres sind; aber so denkt er doch nicht. Diese Tendenzen wollen von den Menschen ergriffen werden, um wirksam zu werden, sie sind nur in ihnen, nicht außer ihnen, aber sie wirken dann weit über das Leben und das Wollen des Einzelnen hinaus. Und wie meisterlich versteht es nun Ranke, uns diese Tendenzen klar zu macheu, dadurch das scheinbare Wirrsal der Begebenheiten unter große Gesichtspunkte zu bringen, selbst leicht ermüdende, lang ausgesponnene Ver¬ handlungen verständlich und interessant zu gestalten. Manche große Richtlinie» durchziehen alle seine Schriften: der Gedanke der germanisch-romanischen Völker¬ gemeinschaft, der gegenseitigen Bedingtheit der christlichen und der islamitischen Welt im Mittelalter, des Gegensatzes zwischen revolutionärer und konservativer Politik in der neuesten Zeit. Von dieser Grundlage aus kam er zu einer ganz eigentümlichen Geschichts¬ forschung und Geschichtsschreibung. Weil er sich vorgesetzt hatte, bis ins Innerste der Menschenseele, der handelnden Persönlichkeiten zu blicken, deshalb wurde er der Meister der kritischen Quellenforschung, der große Bahnbrecher akten- mäßiger Darstellung, denn nur, wenn er auf die ursprünglichen Quellen, auf die Berichte und Äußerungen der Zeitgenossen zurückging, vermochte er sie selber zu sehen, statt ihre abgeblaßten oder verzerrten Bilder. Wie oft spricht er in seinen Briefen davon, daß er in den handschriftlichen Schätzen der Archive geradezu schweige! Denn aus diesen vergilbten und verstaubten Papieren, aus denen andern nur ein hoffnungsloses Wirrsal entgegeustarrt, treten ihm überall lebensvolle Gestalten entgegen. Er wußte recht wohl, wie befangen gerade die Zeitgenossen sein können, aber indem er sie selber bei ihrer Arbeit sah, setzte er sein eignes unbefangnes Urteil an die Stelle der Berichte über jene Arbeit. Weil aber nun die Persönlichkeiten der Vergangenheit meist nur in den obern, leitenden Schichten der Gesellschaft deutlich zu erkennen sind, nicht in der dunkeln, regierten Masse, so nahm er ganz von selbst einen seinem innersten, feinfühligen Wesen ohnehin entsprechenden durchaus monarchisch- aristokratischen Standpunkt ein. Daher wählte er sein Studiengebiet mit Vor¬ liebe in solchen Zeiten und Zustünden, wo jene Gesellschaftskreise herrschten, wo die Politik in den Salons und in deu Kabinetten der Fürsten und der Staatsmänner gemacht wurde, wo feingebildete, mehr oder weniger geistvolle Menschen sie machten, und wo zugleich solche Menschen die Ergebnisse ihrer scharfen Beobachtung in einer Fülle von Alten und Berichten niedergelegt hatten. Deshalb wurde das sechzehnte, siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert sein wichtigstes Arbeitsfeld; ja man kann sagen: seine ganze Auffassnngs-und Dar-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/614>, abgerufen am 04.07.2024.