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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Dardanellen und Nil

So greift also Ägypten zum zweitenmal in diesem Jahrhundert tief in
die Geschichte der Türkei ein. Aber welcher Unterschied gegen die Zeit Mehemed
Alis, dem Europa in die zur Zertrümmerung des Reiches erhobnen Arme
fallen mußte! Nicht Ägypten, sondern die Macht, die sich Ägyptens bemächtigt
hat, bedroht heute die Türkei. Bleibt Ägypten in Englands Händen, dann
ist der Zersetzungsprozeß des türkischen Reiches gleichsam amtlich besiegelt.
Ägypten wiederzugewinnen, kann die Türkei nicht hoffen, sie hofft nur noch von
dem Zwiespalt, den Ägyptens Besitz unter den Mittelmeermächten erzeugt hat, daß
er ihm zu gute komme. Und so steht denn auch heute wieder Ägypten im
Mittelpunkte der orientalischen Frage, deren Fäden aber gerade durch die Welt¬
stellung dieses asiatisch-afrikanischen und mittelmeer-indischen Durchgangslandes
viel weiter reichen als jemals früher. Wir haben nicht die Frage des türkischen
Reiches und dazu die Frage Ägyptens, sondern die eine wird von der andern
beherrscht und umfaßt.

Daß eine weltbeherrschende Stellung ersten Ranges wie die Ägyptens in
die Hände des auf eine unerhörte Weltherschaft hinstrebenden Englands gefallen
ist, daran krankt Europa mehr als an dem traurigen Zustande der Türkei.
Ägypten ist es, das die Mittelmeermächte in zwei Lager scheidet. Der letzte
englische High Commissioner in Ägypten sagt in seiner Denkschrift von 1887:
"Ägypten ist als Durchgangsland bis zu einem gewissen Grade das Eigentum
der ganzen Welt. Man kann Ägypten als einen internationalen Weg bezeichnen,
der für den Handel aller Völker unentbehrlich ist. An der Freiheit Ägyptens
ist die ganze Welt interessirt." Schöne Worte und wahre Worte! Aber daß
Ägypten in Englands Händen ist, ist viel mehr: es ist Thatsache.

Die heutige Stellung Englands in Ägypten ist ein Erzeugnis der letzten
drittehalb Jahrzehnte. Zwar hat es auf die Landenge von Suez als Durch¬
gangsland nach Indien auch früher Wert gelegt und dort zu einer Zeit eine
Eisenbahnlinie Alexandria-Suez-Alexandria ohne Erlaubnis der Pforte gebaut,
wo Ägypten an seinen Suzerän viel fester gebunden war als heute. Die
Thatsache ist nicht bloß der Erinnerung wert, weil sie mit dem Bemühen zu¬
sammentraf, den von den Franzosen begonnenen Kanalbau durch die Pforte
verbieten zu lassen, sondern weil sie zeigt, wie wenig England kurz nach dem
Krimkrieg die Rechte der Pforte achtete, wenn es sein Interesse war, sie zu
verletzen. Bedeutende Engländer, wie Palmerston und Stevens, erkürten 1856
den Suezkanal für unmöglich, als in Europa kein ernster Zweifel mehr daran
bestand, ja Agenten Palmerstons bedrohten Said Pascha wegen seiner großen
Aufwendungen für Lesseps, dem er mit Recht unbedingt vertraute, mit Ab¬
setzung und wollten ihn für wahnsinnig erklären lassen. Seitdem der Kanal
so glänzend gelungen und ein Hauptweg des Weltverkehrs geworden ist -- er
ist 1894 von 3352 Fahrzeugen mit acht Millionen Tonnen und 100000
Passagieren befahren worden, durchschnittlich in je zwanzig Stunden; 71 Prozent


Dardanellen und Nil

So greift also Ägypten zum zweitenmal in diesem Jahrhundert tief in
die Geschichte der Türkei ein. Aber welcher Unterschied gegen die Zeit Mehemed
Alis, dem Europa in die zur Zertrümmerung des Reiches erhobnen Arme
fallen mußte! Nicht Ägypten, sondern die Macht, die sich Ägyptens bemächtigt
hat, bedroht heute die Türkei. Bleibt Ägypten in Englands Händen, dann
ist der Zersetzungsprozeß des türkischen Reiches gleichsam amtlich besiegelt.
Ägypten wiederzugewinnen, kann die Türkei nicht hoffen, sie hofft nur noch von
dem Zwiespalt, den Ägyptens Besitz unter den Mittelmeermächten erzeugt hat, daß
er ihm zu gute komme. Und so steht denn auch heute wieder Ägypten im
Mittelpunkte der orientalischen Frage, deren Fäden aber gerade durch die Welt¬
stellung dieses asiatisch-afrikanischen und mittelmeer-indischen Durchgangslandes
viel weiter reichen als jemals früher. Wir haben nicht die Frage des türkischen
Reiches und dazu die Frage Ägyptens, sondern die eine wird von der andern
beherrscht und umfaßt.

Daß eine weltbeherrschende Stellung ersten Ranges wie die Ägyptens in
die Hände des auf eine unerhörte Weltherschaft hinstrebenden Englands gefallen
ist, daran krankt Europa mehr als an dem traurigen Zustande der Türkei.
Ägypten ist es, das die Mittelmeermächte in zwei Lager scheidet. Der letzte
englische High Commissioner in Ägypten sagt in seiner Denkschrift von 1887:
„Ägypten ist als Durchgangsland bis zu einem gewissen Grade das Eigentum
der ganzen Welt. Man kann Ägypten als einen internationalen Weg bezeichnen,
der für den Handel aller Völker unentbehrlich ist. An der Freiheit Ägyptens
ist die ganze Welt interessirt." Schöne Worte und wahre Worte! Aber daß
Ägypten in Englands Händen ist, ist viel mehr: es ist Thatsache.

Die heutige Stellung Englands in Ägypten ist ein Erzeugnis der letzten
drittehalb Jahrzehnte. Zwar hat es auf die Landenge von Suez als Durch¬
gangsland nach Indien auch früher Wert gelegt und dort zu einer Zeit eine
Eisenbahnlinie Alexandria-Suez-Alexandria ohne Erlaubnis der Pforte gebaut,
wo Ägypten an seinen Suzerän viel fester gebunden war als heute. Die
Thatsache ist nicht bloß der Erinnerung wert, weil sie mit dem Bemühen zu¬
sammentraf, den von den Franzosen begonnenen Kanalbau durch die Pforte
verbieten zu lassen, sondern weil sie zeigt, wie wenig England kurz nach dem
Krimkrieg die Rechte der Pforte achtete, wenn es sein Interesse war, sie zu
verletzen. Bedeutende Engländer, wie Palmerston und Stevens, erkürten 1856
den Suezkanal für unmöglich, als in Europa kein ernster Zweifel mehr daran
bestand, ja Agenten Palmerstons bedrohten Said Pascha wegen seiner großen
Aufwendungen für Lesseps, dem er mit Recht unbedingt vertraute, mit Ab¬
setzung und wollten ihn für wahnsinnig erklären lassen. Seitdem der Kanal
so glänzend gelungen und ein Hauptweg des Weltverkehrs geworden ist — er
ist 1894 von 3352 Fahrzeugen mit acht Millionen Tonnen und 100000
Passagieren befahren worden, durchschnittlich in je zwanzig Stunden; 71 Prozent


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[0564] Dardanellen und Nil So greift also Ägypten zum zweitenmal in diesem Jahrhundert tief in die Geschichte der Türkei ein. Aber welcher Unterschied gegen die Zeit Mehemed Alis, dem Europa in die zur Zertrümmerung des Reiches erhobnen Arme fallen mußte! Nicht Ägypten, sondern die Macht, die sich Ägyptens bemächtigt hat, bedroht heute die Türkei. Bleibt Ägypten in Englands Händen, dann ist der Zersetzungsprozeß des türkischen Reiches gleichsam amtlich besiegelt. Ägypten wiederzugewinnen, kann die Türkei nicht hoffen, sie hofft nur noch von dem Zwiespalt, den Ägyptens Besitz unter den Mittelmeermächten erzeugt hat, daß er ihm zu gute komme. Und so steht denn auch heute wieder Ägypten im Mittelpunkte der orientalischen Frage, deren Fäden aber gerade durch die Welt¬ stellung dieses asiatisch-afrikanischen und mittelmeer-indischen Durchgangslandes viel weiter reichen als jemals früher. Wir haben nicht die Frage des türkischen Reiches und dazu die Frage Ägyptens, sondern die eine wird von der andern beherrscht und umfaßt. Daß eine weltbeherrschende Stellung ersten Ranges wie die Ägyptens in die Hände des auf eine unerhörte Weltherschaft hinstrebenden Englands gefallen ist, daran krankt Europa mehr als an dem traurigen Zustande der Türkei. Ägypten ist es, das die Mittelmeermächte in zwei Lager scheidet. Der letzte englische High Commissioner in Ägypten sagt in seiner Denkschrift von 1887: „Ägypten ist als Durchgangsland bis zu einem gewissen Grade das Eigentum der ganzen Welt. Man kann Ägypten als einen internationalen Weg bezeichnen, der für den Handel aller Völker unentbehrlich ist. An der Freiheit Ägyptens ist die ganze Welt interessirt." Schöne Worte und wahre Worte! Aber daß Ägypten in Englands Händen ist, ist viel mehr: es ist Thatsache. Die heutige Stellung Englands in Ägypten ist ein Erzeugnis der letzten drittehalb Jahrzehnte. Zwar hat es auf die Landenge von Suez als Durch¬ gangsland nach Indien auch früher Wert gelegt und dort zu einer Zeit eine Eisenbahnlinie Alexandria-Suez-Alexandria ohne Erlaubnis der Pforte gebaut, wo Ägypten an seinen Suzerän viel fester gebunden war als heute. Die Thatsache ist nicht bloß der Erinnerung wert, weil sie mit dem Bemühen zu¬ sammentraf, den von den Franzosen begonnenen Kanalbau durch die Pforte verbieten zu lassen, sondern weil sie zeigt, wie wenig England kurz nach dem Krimkrieg die Rechte der Pforte achtete, wenn es sein Interesse war, sie zu verletzen. Bedeutende Engländer, wie Palmerston und Stevens, erkürten 1856 den Suezkanal für unmöglich, als in Europa kein ernster Zweifel mehr daran bestand, ja Agenten Palmerstons bedrohten Said Pascha wegen seiner großen Aufwendungen für Lesseps, dem er mit Recht unbedingt vertraute, mit Ab¬ setzung und wollten ihn für wahnsinnig erklären lassen. Seitdem der Kanal so glänzend gelungen und ein Hauptweg des Weltverkehrs geworden ist — er ist 1894 von 3352 Fahrzeugen mit acht Millionen Tonnen und 100000 Passagieren befahren worden, durchschnittlich in je zwanzig Stunden; 71 Prozent

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/564>, abgerufen am 29.06.2024.