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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Dardanellen und Nil

Englands in Ägypten und in Indien und mit dem Vorrücken Rußlands in
Asien auf jenen beiden großen Wegen, die nach Indien und China führen,
indem sie Zentralasien am Indischen und am Stillen Ozean zu umfassen suchen?
Heute ist es die armenische, gestern war es die macedonisch-bulgarische, vor¬
gestern die syrische Frage, und im Grunde ist es immer dieselbe, die Frage
des türkischen Reichs. Das ist aber auch die Frage des Besitzes Vorder¬
asiens und Indiens. Wer hier die Erbschaft antritt, beherrscht Vorderasien,
und durch Vorderasien oder an seinen Rändern hin führen die Wege von
Europa nach Indien und vom Mittelmeer an den Indischen Ozean. Da aber
in der heutigen Weltlage dieselben zwei Mächte hier einander entgegentreten,
die in Zentralasien und Ostasien aufeinandertreffen, England und Rußland,
so hängen auch alle diese Fragen des türkischen Reichs mit jedem andern mög¬
lichen oder drohenden russisch-englischen Konflikt in Asien zusammen. Wir in
Deutschland brauchen uns nicht klein zu machen, wollen aber am wenigsten
vergessen, wie Niesenstaaten, deren Gebiete viel größer als der Erdteil Europa
sind, überhaupt ganz andre Interessen an den orientalischen Fragen vom
Ägeischen bis zum Stillen Meere haben müssen, als die weiter zurückliegenden, nicht
durch unmittelbaren Länderbesitz in jenen Gebieten beteiligten mitteleuropäischen
Mächte. Als England 1878 nach den Verhandlungen in San Stefano indische
Truppen nach Cypern kommen ließ, um auf Nußland zu drücken, tauchte plötzlich
eine russische Gesandtschaft in Afghanistan, gleichsam im Rücken Indiens auf. Die
Engländer wurden sofort nachgiebig. Man müßte blind sein, wenn man nicht er¬
kennte, wie die aggressive, wahrhaft revolutionäre Politik Englands in der arme¬
nischen Frage seit einigen Monaten in der umgekehrten Richtung denselben Weg
ging. Rußland droht in Ostasien sein Einflußgebiet auf Rechnung des ge¬
schwächten China weiter auszudehnen, als England genehm ist. Welches Mittel
kann geeigneter sein, es dort zurückzudrängen oder zu einer Art von Teilung
der Einflußsphären zu zwingen -- was wohl England am willkommensten
wäre --, als die Ablenkung auf ein Gebiet, das für Nußland zehnmal
wichtiger sein muß als Korea oder die ganze Mandschurei? England fühlte
sich dabei sicher in der Annahme, daß die andern Mächte alles thun würden,
die Flammen zu löschen, die es angeblasen hat. Es ist heute gewiß weit
entfernt davon, das türkische Reich zertrümmern zu wollen. Aber ein Stoß,
wie ihn die bekannte Drohrede Salisburys gegen die Autorität der Pforte
und ihrer Verwaltung gerichtet hat, ist wie ein Erdbeben, das überall Un¬
sicherheit und Furcht verbreitet. Der englische Staatsmann wußte ganz genau,
daß sich die Wellen einer solchen Erschütterung in die verwandten Gebiete
fortpflanzen, und daß sie nächst der Türkei Rußland in Russisch-Armenien am
empfindlichsten spüren mußte.

Rußland hat eine starke armenische Bevölkerung, die jetzt bedeutend mehr
als zwei Millionen beträgt. Etwas stärker noch ist die Zahl der Armenier in


Dardanellen und Nil

Englands in Ägypten und in Indien und mit dem Vorrücken Rußlands in
Asien auf jenen beiden großen Wegen, die nach Indien und China führen,
indem sie Zentralasien am Indischen und am Stillen Ozean zu umfassen suchen?
Heute ist es die armenische, gestern war es die macedonisch-bulgarische, vor¬
gestern die syrische Frage, und im Grunde ist es immer dieselbe, die Frage
des türkischen Reichs. Das ist aber auch die Frage des Besitzes Vorder¬
asiens und Indiens. Wer hier die Erbschaft antritt, beherrscht Vorderasien,
und durch Vorderasien oder an seinen Rändern hin führen die Wege von
Europa nach Indien und vom Mittelmeer an den Indischen Ozean. Da aber
in der heutigen Weltlage dieselben zwei Mächte hier einander entgegentreten,
die in Zentralasien und Ostasien aufeinandertreffen, England und Rußland,
so hängen auch alle diese Fragen des türkischen Reichs mit jedem andern mög¬
lichen oder drohenden russisch-englischen Konflikt in Asien zusammen. Wir in
Deutschland brauchen uns nicht klein zu machen, wollen aber am wenigsten
vergessen, wie Niesenstaaten, deren Gebiete viel größer als der Erdteil Europa
sind, überhaupt ganz andre Interessen an den orientalischen Fragen vom
Ägeischen bis zum Stillen Meere haben müssen, als die weiter zurückliegenden, nicht
durch unmittelbaren Länderbesitz in jenen Gebieten beteiligten mitteleuropäischen
Mächte. Als England 1878 nach den Verhandlungen in San Stefano indische
Truppen nach Cypern kommen ließ, um auf Nußland zu drücken, tauchte plötzlich
eine russische Gesandtschaft in Afghanistan, gleichsam im Rücken Indiens auf. Die
Engländer wurden sofort nachgiebig. Man müßte blind sein, wenn man nicht er¬
kennte, wie die aggressive, wahrhaft revolutionäre Politik Englands in der arme¬
nischen Frage seit einigen Monaten in der umgekehrten Richtung denselben Weg
ging. Rußland droht in Ostasien sein Einflußgebiet auf Rechnung des ge¬
schwächten China weiter auszudehnen, als England genehm ist. Welches Mittel
kann geeigneter sein, es dort zurückzudrängen oder zu einer Art von Teilung
der Einflußsphären zu zwingen — was wohl England am willkommensten
wäre —, als die Ablenkung auf ein Gebiet, das für Nußland zehnmal
wichtiger sein muß als Korea oder die ganze Mandschurei? England fühlte
sich dabei sicher in der Annahme, daß die andern Mächte alles thun würden,
die Flammen zu löschen, die es angeblasen hat. Es ist heute gewiß weit
entfernt davon, das türkische Reich zertrümmern zu wollen. Aber ein Stoß,
wie ihn die bekannte Drohrede Salisburys gegen die Autorität der Pforte
und ihrer Verwaltung gerichtet hat, ist wie ein Erdbeben, das überall Un¬
sicherheit und Furcht verbreitet. Der englische Staatsmann wußte ganz genau,
daß sich die Wellen einer solchen Erschütterung in die verwandten Gebiete
fortpflanzen, und daß sie nächst der Türkei Rußland in Russisch-Armenien am
empfindlichsten spüren mußte.

Rußland hat eine starke armenische Bevölkerung, die jetzt bedeutend mehr
als zwei Millionen beträgt. Etwas stärker noch ist die Zahl der Armenier in


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[0516] Dardanellen und Nil Englands in Ägypten und in Indien und mit dem Vorrücken Rußlands in Asien auf jenen beiden großen Wegen, die nach Indien und China führen, indem sie Zentralasien am Indischen und am Stillen Ozean zu umfassen suchen? Heute ist es die armenische, gestern war es die macedonisch-bulgarische, vor¬ gestern die syrische Frage, und im Grunde ist es immer dieselbe, die Frage des türkischen Reichs. Das ist aber auch die Frage des Besitzes Vorder¬ asiens und Indiens. Wer hier die Erbschaft antritt, beherrscht Vorderasien, und durch Vorderasien oder an seinen Rändern hin führen die Wege von Europa nach Indien und vom Mittelmeer an den Indischen Ozean. Da aber in der heutigen Weltlage dieselben zwei Mächte hier einander entgegentreten, die in Zentralasien und Ostasien aufeinandertreffen, England und Rußland, so hängen auch alle diese Fragen des türkischen Reichs mit jedem andern mög¬ lichen oder drohenden russisch-englischen Konflikt in Asien zusammen. Wir in Deutschland brauchen uns nicht klein zu machen, wollen aber am wenigsten vergessen, wie Niesenstaaten, deren Gebiete viel größer als der Erdteil Europa sind, überhaupt ganz andre Interessen an den orientalischen Fragen vom Ägeischen bis zum Stillen Meere haben müssen, als die weiter zurückliegenden, nicht durch unmittelbaren Länderbesitz in jenen Gebieten beteiligten mitteleuropäischen Mächte. Als England 1878 nach den Verhandlungen in San Stefano indische Truppen nach Cypern kommen ließ, um auf Nußland zu drücken, tauchte plötzlich eine russische Gesandtschaft in Afghanistan, gleichsam im Rücken Indiens auf. Die Engländer wurden sofort nachgiebig. Man müßte blind sein, wenn man nicht er¬ kennte, wie die aggressive, wahrhaft revolutionäre Politik Englands in der arme¬ nischen Frage seit einigen Monaten in der umgekehrten Richtung denselben Weg ging. Rußland droht in Ostasien sein Einflußgebiet auf Rechnung des ge¬ schwächten China weiter auszudehnen, als England genehm ist. Welches Mittel kann geeigneter sein, es dort zurückzudrängen oder zu einer Art von Teilung der Einflußsphären zu zwingen — was wohl England am willkommensten wäre —, als die Ablenkung auf ein Gebiet, das für Nußland zehnmal wichtiger sein muß als Korea oder die ganze Mandschurei? England fühlte sich dabei sicher in der Annahme, daß die andern Mächte alles thun würden, die Flammen zu löschen, die es angeblasen hat. Es ist heute gewiß weit entfernt davon, das türkische Reich zertrümmern zu wollen. Aber ein Stoß, wie ihn die bekannte Drohrede Salisburys gegen die Autorität der Pforte und ihrer Verwaltung gerichtet hat, ist wie ein Erdbeben, das überall Un¬ sicherheit und Furcht verbreitet. Der englische Staatsmann wußte ganz genau, daß sich die Wellen einer solchen Erschütterung in die verwandten Gebiete fortpflanzen, und daß sie nächst der Türkei Rußland in Russisch-Armenien am empfindlichsten spüren mußte. Rußland hat eine starke armenische Bevölkerung, die jetzt bedeutend mehr als zwei Millionen beträgt. Etwas stärker noch ist die Zahl der Armenier in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/516>, abgerufen am 03.07.2024.