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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Litterarische Industrie

nisse beigebracht haben, die sich in die eine oder die andre der angedeuteten
Klassen einreihen lassen. Ein Mehr würde wohl die Leser nicht weniger er¬
müden als den Berichterstatter. Eine Ausnahme soll nur mit dem Heraus¬
geber gemacht werden, dessen Aufsatz eine aktuelle Bedeutung hat, größere
dielleicht, als ihm selbst klar ist.

K. E. Franzos stammt von spanischen Juden ab, die nach Holland ge¬
flüchtet sind, dann in Lothringen das Lichtziehergewerbe betrieben und sich um
1770 in Polen niedergelassen haben. Unter Joseph II. erhielt die Familie
den Namen Franzos wegen ihrer Herkunft. Als Fremde und Ketzer wurden
sie angefeindet von ihren Stammesgenossen, den orthodoxen polnischen Juden.
Mit diesen hatte des Schriftstellers Vater, der "ein stürmischer Aufklärer" und
dentschgesinnt war, nichts gemein, und doch ließ es das starke Rassengefühl
nicht zu, sich gänzlich von ihnen loszusagen. Er heiratete eine Jüdin und
blieb gegen seinen Wunsch in Galizien, weil sein Schwiegervater fürchtete, der
junge Freidenker könne anderswo seinem "Glanben" abtrünnig werden. Diese
innern Widersprüche begegnen uns noch jetzt sehr häufig, sie bilden ein Haupt¬
hindernis der Lösung der Judenfrage, und dafür scheint auch der Erzähler
kein Verständnis zu haben.

Eins ist auffallend. Wie das Lesen von Dichterwerken auf der Schule
und der Anblick von Theatervorstellungen in einigermaßen begabten Knaben
den Wunsch erregt, selbst dergleichen zu erfinden, wird auf vielen Seiten dieses
Buches so umständlich berichtet, als ob es etwas ganz außerordentliches wäre,
während doch gewiß jeder Einzelne Kameraden gehabt hat, die sich ebenfalls
für Dichter hielten, weil sie Angelesenes auf ihre Art reproduzirten, die sich
aber entweder beizeiten unbefangen beurteilen lernten oder erkannten, daß es
kein Herabsteigen sei, wenn man sich bestrebe, ein tüchtiger Geschäftsmann zu
werden oder sich als Gelehrter, Arzt, Baumeister oder dergleichen nützlich zu
machen oder den Staatskarren ziehen zu helfen, und daß nicht jeder, der Verse
zimmern kann, ein Dichter von Profession sein müsse, so wenig wie jeder musi¬
kalisch angelegte Mensch verpflichtet ist, die Musik zu seinem Lebensberufe zu
machen. Doch kommt es bekanntlich nicht selten vor, daß ein junger Dichter
von Profession, dem ein erster Wurf halbwegs geglückt ist, sein Leben lang
"ein vielversprechendes Talent" bleibt, weil alle spätern Schuhe als "Gut¬
loch" oder "Sandhase" charakterisirt wurden. Und doch sollen auch solche
"Erstlingswerke" und ihre "Geschichte" Bedeutung für die Litteratur haben?
Vielleicht Hütte ein oder der andre Mitarbeiter dieses Thema als Fachmann
(oder Fachfrau) behandeln können.




Litterarische Industrie

nisse beigebracht haben, die sich in die eine oder die andre der angedeuteten
Klassen einreihen lassen. Ein Mehr würde wohl die Leser nicht weniger er¬
müden als den Berichterstatter. Eine Ausnahme soll nur mit dem Heraus¬
geber gemacht werden, dessen Aufsatz eine aktuelle Bedeutung hat, größere
dielleicht, als ihm selbst klar ist.

K. E. Franzos stammt von spanischen Juden ab, die nach Holland ge¬
flüchtet sind, dann in Lothringen das Lichtziehergewerbe betrieben und sich um
1770 in Polen niedergelassen haben. Unter Joseph II. erhielt die Familie
den Namen Franzos wegen ihrer Herkunft. Als Fremde und Ketzer wurden
sie angefeindet von ihren Stammesgenossen, den orthodoxen polnischen Juden.
Mit diesen hatte des Schriftstellers Vater, der „ein stürmischer Aufklärer" und
dentschgesinnt war, nichts gemein, und doch ließ es das starke Rassengefühl
nicht zu, sich gänzlich von ihnen loszusagen. Er heiratete eine Jüdin und
blieb gegen seinen Wunsch in Galizien, weil sein Schwiegervater fürchtete, der
junge Freidenker könne anderswo seinem „Glanben" abtrünnig werden. Diese
innern Widersprüche begegnen uns noch jetzt sehr häufig, sie bilden ein Haupt¬
hindernis der Lösung der Judenfrage, und dafür scheint auch der Erzähler
kein Verständnis zu haben.

Eins ist auffallend. Wie das Lesen von Dichterwerken auf der Schule
und der Anblick von Theatervorstellungen in einigermaßen begabten Knaben
den Wunsch erregt, selbst dergleichen zu erfinden, wird auf vielen Seiten dieses
Buches so umständlich berichtet, als ob es etwas ganz außerordentliches wäre,
während doch gewiß jeder Einzelne Kameraden gehabt hat, die sich ebenfalls
für Dichter hielten, weil sie Angelesenes auf ihre Art reproduzirten, die sich
aber entweder beizeiten unbefangen beurteilen lernten oder erkannten, daß es
kein Herabsteigen sei, wenn man sich bestrebe, ein tüchtiger Geschäftsmann zu
werden oder sich als Gelehrter, Arzt, Baumeister oder dergleichen nützlich zu
machen oder den Staatskarren ziehen zu helfen, und daß nicht jeder, der Verse
zimmern kann, ein Dichter von Profession sein müsse, so wenig wie jeder musi¬
kalisch angelegte Mensch verpflichtet ist, die Musik zu seinem Lebensberufe zu
machen. Doch kommt es bekanntlich nicht selten vor, daß ein junger Dichter
von Profession, dem ein erster Wurf halbwegs geglückt ist, sein Leben lang
„ein vielversprechendes Talent" bleibt, weil alle spätern Schuhe als „Gut¬
loch" oder „Sandhase" charakterisirt wurden. Und doch sollen auch solche
„Erstlingswerke" und ihre „Geschichte" Bedeutung für die Litteratur haben?
Vielleicht Hütte ein oder der andre Mitarbeiter dieses Thema als Fachmann
(oder Fachfrau) behandeln können.




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[0489] Litterarische Industrie nisse beigebracht haben, die sich in die eine oder die andre der angedeuteten Klassen einreihen lassen. Ein Mehr würde wohl die Leser nicht weniger er¬ müden als den Berichterstatter. Eine Ausnahme soll nur mit dem Heraus¬ geber gemacht werden, dessen Aufsatz eine aktuelle Bedeutung hat, größere dielleicht, als ihm selbst klar ist. K. E. Franzos stammt von spanischen Juden ab, die nach Holland ge¬ flüchtet sind, dann in Lothringen das Lichtziehergewerbe betrieben und sich um 1770 in Polen niedergelassen haben. Unter Joseph II. erhielt die Familie den Namen Franzos wegen ihrer Herkunft. Als Fremde und Ketzer wurden sie angefeindet von ihren Stammesgenossen, den orthodoxen polnischen Juden. Mit diesen hatte des Schriftstellers Vater, der „ein stürmischer Aufklärer" und dentschgesinnt war, nichts gemein, und doch ließ es das starke Rassengefühl nicht zu, sich gänzlich von ihnen loszusagen. Er heiratete eine Jüdin und blieb gegen seinen Wunsch in Galizien, weil sein Schwiegervater fürchtete, der junge Freidenker könne anderswo seinem „Glanben" abtrünnig werden. Diese innern Widersprüche begegnen uns noch jetzt sehr häufig, sie bilden ein Haupt¬ hindernis der Lösung der Judenfrage, und dafür scheint auch der Erzähler kein Verständnis zu haben. Eins ist auffallend. Wie das Lesen von Dichterwerken auf der Schule und der Anblick von Theatervorstellungen in einigermaßen begabten Knaben den Wunsch erregt, selbst dergleichen zu erfinden, wird auf vielen Seiten dieses Buches so umständlich berichtet, als ob es etwas ganz außerordentliches wäre, während doch gewiß jeder Einzelne Kameraden gehabt hat, die sich ebenfalls für Dichter hielten, weil sie Angelesenes auf ihre Art reproduzirten, die sich aber entweder beizeiten unbefangen beurteilen lernten oder erkannten, daß es kein Herabsteigen sei, wenn man sich bestrebe, ein tüchtiger Geschäftsmann zu werden oder sich als Gelehrter, Arzt, Baumeister oder dergleichen nützlich zu machen oder den Staatskarren ziehen zu helfen, und daß nicht jeder, der Verse zimmern kann, ein Dichter von Profession sein müsse, so wenig wie jeder musi¬ kalisch angelegte Mensch verpflichtet ist, die Musik zu seinem Lebensberufe zu machen. Doch kommt es bekanntlich nicht selten vor, daß ein junger Dichter von Profession, dem ein erster Wurf halbwegs geglückt ist, sein Leben lang „ein vielversprechendes Talent" bleibt, weil alle spätern Schuhe als „Gut¬ loch" oder „Sandhase" charakterisirt wurden. Und doch sollen auch solche „Erstlingswerke" und ihre „Geschichte" Bedeutung für die Litteratur haben? Vielleicht Hütte ein oder der andre Mitarbeiter dieses Thema als Fachmann (oder Fachfrau) behandeln können.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/489>, abgerufen am 21.06.2024.