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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Beiträge zu einer künftigen Anthologie

lyrischen Gedichten Erlebnisse und Stimmungen eines Helden, der als Student
in Bonn begonnen hat, nach allen Irrfahrten und Stürmen als Arbeiter in
einer Eisenhütte Vergessenheit sucht und endlich bei der Rettung eines blonden
Knaben, der ohne ihn im Sumpfe versinken würde, den Tod und damit den
Frieden findet. Zu einer Wirkung erheben sich meist nur die rein lyrischen
Bestandteile dieses Halbepos, wie "Wilde Rosen" und "Frühlingsstürme."
Die einheitlichste dieser Cyklusdichtungen ist offenbar die von Avenarius. Aus
ihr lassen sich keine Bestandteile lösen, alles kommt nur im Zusammenhange
zur Wirkung und erhält nur durch den Zusammenhang sein Recht. Der Held
ist hier ein junger Arzt, dem die leidenschaftlich geliebte Braut durch den Tod
entrissen wird, der der Verzweiflung, dem Wahnsinn, dem Selbstmord ent¬
gegentreibt, als ihm das Schicksal plötzlich das Leid, das Elend andrer in den
Todesweg stellt. Wie er sich auch wehrt und sträubt, "die Wohlthat des
Mitleids, des Denkens und Sorgens für andre, der Arbeit überhaupt, geht
ihm allmählich auf und dazwischen das Bewußtsein davon, wie viel ihm die
Geschiedne gegeben hat, was nicht gestorben ist." Das Motiv ist stark und
reich genug, den Gedanken eines Cyklus, eiuer großen lyrischen Form zu recht¬
fertigen, der Eingang der Dichtung ist voll tiefer Empfindung, von echter,
wenn auch herber Poesie, und einzelne Stellen der spätern Entwicklung erheben
sich zu lyrischer Höhe. Aber der Versuch, Zerrbilder aus Armut, Hunger,
Krankheit und Verbrechen in Poesie umzuwandeln, muß scheitern. Wie der
Held dieser Dichtung kein Held wäre, wenn er den geretteten Proletarierknaben
nicht wüsche, seine Lumpen nicht mit reinen Linnen vertauschte, wie sich der
Held zu dem erhebenden Gesang auf das Mitleid (Seite 87) emporringe,
nachdem er Mitleid geübt hat, so hat die Poesie die Zerrbilder des Elends
zu überwinden. Linderung, Hilfe, stegreicher, unablässiger Kampf gegen das
Elend ist Poesie, nicht Wühlen, nicht Schwelgen im Elend und seiner Schil¬
derung. Auch die Dichtung "Lebe" kann uns nicht vom Gegenteil überzeugen;
gerade wer "durch das Mitleid das Glück des Beglückens" gefunden hat, trägt
weder Verlangen nach scheuer Flucht vor dem Jammer der Welt, noch labt
er sich an dessen Wiedergabe. Da aber eine Mustersammlung, die Dichtungen
von dem Umfang der Avenariusschen aufnehmen könnte, nicht denkbar ist, so
können wir uns weitere Erörterung sparen und Leser, die einen lebendigem An¬
teil an der Entwicklung der deutschen Lyrik nehmen, auf das Büchlein
selbst verweisen.

Leer ist unser Tisch auch nach dieser wochenlangen geduldigen Arbeit noch
nicht. Poetische Übertragungen aus Ost und West und aus allen Jahr¬
hunderten, erzählende Dichtungen jeder Form. Spruchgedichte und Epigramme
können unserm Mustersammler nicht dienen, und auch unsre Leser, denen nun
der Kopf von Namen und Titeln schwirrt, werden für heute genug haben.
Wir aber haben wieder einmal gründlich erfahren, wie viel bequemer es ist,


Beiträge zu einer künftigen Anthologie

lyrischen Gedichten Erlebnisse und Stimmungen eines Helden, der als Student
in Bonn begonnen hat, nach allen Irrfahrten und Stürmen als Arbeiter in
einer Eisenhütte Vergessenheit sucht und endlich bei der Rettung eines blonden
Knaben, der ohne ihn im Sumpfe versinken würde, den Tod und damit den
Frieden findet. Zu einer Wirkung erheben sich meist nur die rein lyrischen
Bestandteile dieses Halbepos, wie „Wilde Rosen" und „Frühlingsstürme."
Die einheitlichste dieser Cyklusdichtungen ist offenbar die von Avenarius. Aus
ihr lassen sich keine Bestandteile lösen, alles kommt nur im Zusammenhange
zur Wirkung und erhält nur durch den Zusammenhang sein Recht. Der Held
ist hier ein junger Arzt, dem die leidenschaftlich geliebte Braut durch den Tod
entrissen wird, der der Verzweiflung, dem Wahnsinn, dem Selbstmord ent¬
gegentreibt, als ihm das Schicksal plötzlich das Leid, das Elend andrer in den
Todesweg stellt. Wie er sich auch wehrt und sträubt, „die Wohlthat des
Mitleids, des Denkens und Sorgens für andre, der Arbeit überhaupt, geht
ihm allmählich auf und dazwischen das Bewußtsein davon, wie viel ihm die
Geschiedne gegeben hat, was nicht gestorben ist." Das Motiv ist stark und
reich genug, den Gedanken eines Cyklus, eiuer großen lyrischen Form zu recht¬
fertigen, der Eingang der Dichtung ist voll tiefer Empfindung, von echter,
wenn auch herber Poesie, und einzelne Stellen der spätern Entwicklung erheben
sich zu lyrischer Höhe. Aber der Versuch, Zerrbilder aus Armut, Hunger,
Krankheit und Verbrechen in Poesie umzuwandeln, muß scheitern. Wie der
Held dieser Dichtung kein Held wäre, wenn er den geretteten Proletarierknaben
nicht wüsche, seine Lumpen nicht mit reinen Linnen vertauschte, wie sich der
Held zu dem erhebenden Gesang auf das Mitleid (Seite 87) emporringe,
nachdem er Mitleid geübt hat, so hat die Poesie die Zerrbilder des Elends
zu überwinden. Linderung, Hilfe, stegreicher, unablässiger Kampf gegen das
Elend ist Poesie, nicht Wühlen, nicht Schwelgen im Elend und seiner Schil¬
derung. Auch die Dichtung „Lebe" kann uns nicht vom Gegenteil überzeugen;
gerade wer „durch das Mitleid das Glück des Beglückens" gefunden hat, trägt
weder Verlangen nach scheuer Flucht vor dem Jammer der Welt, noch labt
er sich an dessen Wiedergabe. Da aber eine Mustersammlung, die Dichtungen
von dem Umfang der Avenariusschen aufnehmen könnte, nicht denkbar ist, so
können wir uns weitere Erörterung sparen und Leser, die einen lebendigem An¬
teil an der Entwicklung der deutschen Lyrik nehmen, auf das Büchlein
selbst verweisen.

Leer ist unser Tisch auch nach dieser wochenlangen geduldigen Arbeit noch
nicht. Poetische Übertragungen aus Ost und West und aus allen Jahr¬
hunderten, erzählende Dichtungen jeder Form. Spruchgedichte und Epigramme
können unserm Mustersammler nicht dienen, und auch unsre Leser, denen nun
der Kopf von Namen und Titeln schwirrt, werden für heute genug haben.
Wir aber haben wieder einmal gründlich erfahren, wie viel bequemer es ist,


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[0045] Beiträge zu einer künftigen Anthologie lyrischen Gedichten Erlebnisse und Stimmungen eines Helden, der als Student in Bonn begonnen hat, nach allen Irrfahrten und Stürmen als Arbeiter in einer Eisenhütte Vergessenheit sucht und endlich bei der Rettung eines blonden Knaben, der ohne ihn im Sumpfe versinken würde, den Tod und damit den Frieden findet. Zu einer Wirkung erheben sich meist nur die rein lyrischen Bestandteile dieses Halbepos, wie „Wilde Rosen" und „Frühlingsstürme." Die einheitlichste dieser Cyklusdichtungen ist offenbar die von Avenarius. Aus ihr lassen sich keine Bestandteile lösen, alles kommt nur im Zusammenhange zur Wirkung und erhält nur durch den Zusammenhang sein Recht. Der Held ist hier ein junger Arzt, dem die leidenschaftlich geliebte Braut durch den Tod entrissen wird, der der Verzweiflung, dem Wahnsinn, dem Selbstmord ent¬ gegentreibt, als ihm das Schicksal plötzlich das Leid, das Elend andrer in den Todesweg stellt. Wie er sich auch wehrt und sträubt, „die Wohlthat des Mitleids, des Denkens und Sorgens für andre, der Arbeit überhaupt, geht ihm allmählich auf und dazwischen das Bewußtsein davon, wie viel ihm die Geschiedne gegeben hat, was nicht gestorben ist." Das Motiv ist stark und reich genug, den Gedanken eines Cyklus, eiuer großen lyrischen Form zu recht¬ fertigen, der Eingang der Dichtung ist voll tiefer Empfindung, von echter, wenn auch herber Poesie, und einzelne Stellen der spätern Entwicklung erheben sich zu lyrischer Höhe. Aber der Versuch, Zerrbilder aus Armut, Hunger, Krankheit und Verbrechen in Poesie umzuwandeln, muß scheitern. Wie der Held dieser Dichtung kein Held wäre, wenn er den geretteten Proletarierknaben nicht wüsche, seine Lumpen nicht mit reinen Linnen vertauschte, wie sich der Held zu dem erhebenden Gesang auf das Mitleid (Seite 87) emporringe, nachdem er Mitleid geübt hat, so hat die Poesie die Zerrbilder des Elends zu überwinden. Linderung, Hilfe, stegreicher, unablässiger Kampf gegen das Elend ist Poesie, nicht Wühlen, nicht Schwelgen im Elend und seiner Schil¬ derung. Auch die Dichtung „Lebe" kann uns nicht vom Gegenteil überzeugen; gerade wer „durch das Mitleid das Glück des Beglückens" gefunden hat, trägt weder Verlangen nach scheuer Flucht vor dem Jammer der Welt, noch labt er sich an dessen Wiedergabe. Da aber eine Mustersammlung, die Dichtungen von dem Umfang der Avenariusschen aufnehmen könnte, nicht denkbar ist, so können wir uns weitere Erörterung sparen und Leser, die einen lebendigem An¬ teil an der Entwicklung der deutschen Lyrik nehmen, auf das Büchlein selbst verweisen. Leer ist unser Tisch auch nach dieser wochenlangen geduldigen Arbeit noch nicht. Poetische Übertragungen aus Ost und West und aus allen Jahr¬ hunderten, erzählende Dichtungen jeder Form. Spruchgedichte und Epigramme können unserm Mustersammler nicht dienen, und auch unsre Leser, denen nun der Kopf von Namen und Titeln schwirrt, werden für heute genug haben. Wir aber haben wieder einmal gründlich erfahren, wie viel bequemer es ist,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/45>, abgerufen am 26.07.2024.