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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Beiträge zu einer künftigen Anthologie

Begriffen und den leitartikelmäßigen Schlagworten eine klangreiche rednerische
Einkleidung zu geben. Die Wirkung beruht wie in allen geiht- und sinn¬
verwandten Gedichten auf der Gegenüberstellung äußerster Gegensätze, das
Gedicht "Zwei Wandrer" ist eine gute und bezeichnende Probe davon. Mehr
Licht, Zeitgemäßes in Versen und Prosa von Ew. und Mals Im Tann
(Zürich, Verlagsmagazin, 1895), enthält fast nnr Gedichte, die satirisch und
parodistisch gemeint sein müssen, und obwohl die Verfasser im Vorwort schein¬
bar ganz ernsthaft versichern: "Der noch engere Zusammenschluß der Nationen
erscheint uns nötig, um die noch ausstehenden Aufgaben der Kultur zu lösen.
Die Opfer, die wir bringen, in dieser im Argen liegenden Zeit dennoch mit
unsrer Sammlung hervorzutreten, müssen uns entschieden von allen Ständen
als Verdienst angerechnet werden," scheint sich doch dahinter ein Scherz zu
verbergen. Um aber für eine Mustersammlung von Parodien etwas aus¬
zuwählen, dazu ist der Humor doch zu dünn und zu säuerlich, Biedermeier
bleibt in dieser Art von Gedichten den Geschwistern im Tann entschieden
überlegen.

Bei jeder Anthologie fühlt sich der Sammler wie der Leser auf sicherm
Boden, solange er ganze, in sich abgeschlossene Dichtungen vor sich hat.
Mißlicher wird es, wenn sich die Auswahl auf Bruchstücke beschränken soll,
aus einer Anzahl neuerer lyrischer Cyklen, in sich zusammenhängender Gedicht¬
folgen, ließen sich doch nur Bruchstücke geben. Wer weiß, vielleicht haben
die Verfasser diese lyrischen Kränze nur geflochten, die Form des "lyrischen
Epos" nur erfunden, um sich gegen alles Blumenpflücken und Ährenlesen,
gegen alle fragmentarische Anerkennung zu verwahren: Lese uns ganz oder
gar nicht! Zwar bei den Dresdner Elegien eines Anonymus (Dresden,
F. Glöß) ist der Zusammenhang so lose, sind die besungnen Herrlichkeiten
Dresdens so grundverschieden, daß es der Verfasser nicht übelnehmen kann,
wenn wir der vierten und neunten vor den übrigen den Vorzug geben. Anders
steht es mit den Dichtungen Lebe von Ferdinand Avenarius (Leipzig,
O. N. Reisland), Verlornes Leben, einem modernen lyrischen Epos von
Hugo Kegel (Dresden und Leipzig, E. Pierson, 1895) und In Phantas
Schloß von Christian Morgenstern (Berlin, Richard Taendler. 1895),
die alle ein Ganzes vorstellen wollen. In Morgensterns dithyrambischen Phan¬
tasien, deren Form keineswegs so neu ist, wie sich gewisse moderne Kritiker
einbilden (es klingt immer, als ob Goethe weder "Wanderers Sturmlied" noch
"Mahomets Gesang," weder "Prometheus" noch "Ganymed" gedichtet hätte!),
und deren Inhalt meist auf Fr. Nietzsche zurückweist, können die Gedichte
"Sonnenaufgang" und Hoirw imxsiAwr einen ungefähren Begriff von dem
geben, was mit dem Drange, sich als Übermensch zu fühlen und an dem
Mutterherzen der Natur, das, wie es scheint, uur noch in den höchsten Ge-
birgsorten schlägt, poetisch zu gewinnen ist. Der Kegelsche Cyklus giebt in


Beiträge zu einer künftigen Anthologie

Begriffen und den leitartikelmäßigen Schlagworten eine klangreiche rednerische
Einkleidung zu geben. Die Wirkung beruht wie in allen geiht- und sinn¬
verwandten Gedichten auf der Gegenüberstellung äußerster Gegensätze, das
Gedicht „Zwei Wandrer" ist eine gute und bezeichnende Probe davon. Mehr
Licht, Zeitgemäßes in Versen und Prosa von Ew. und Mals Im Tann
(Zürich, Verlagsmagazin, 1895), enthält fast nnr Gedichte, die satirisch und
parodistisch gemeint sein müssen, und obwohl die Verfasser im Vorwort schein¬
bar ganz ernsthaft versichern: „Der noch engere Zusammenschluß der Nationen
erscheint uns nötig, um die noch ausstehenden Aufgaben der Kultur zu lösen.
Die Opfer, die wir bringen, in dieser im Argen liegenden Zeit dennoch mit
unsrer Sammlung hervorzutreten, müssen uns entschieden von allen Ständen
als Verdienst angerechnet werden," scheint sich doch dahinter ein Scherz zu
verbergen. Um aber für eine Mustersammlung von Parodien etwas aus¬
zuwählen, dazu ist der Humor doch zu dünn und zu säuerlich, Biedermeier
bleibt in dieser Art von Gedichten den Geschwistern im Tann entschieden
überlegen.

Bei jeder Anthologie fühlt sich der Sammler wie der Leser auf sicherm
Boden, solange er ganze, in sich abgeschlossene Dichtungen vor sich hat.
Mißlicher wird es, wenn sich die Auswahl auf Bruchstücke beschränken soll,
aus einer Anzahl neuerer lyrischer Cyklen, in sich zusammenhängender Gedicht¬
folgen, ließen sich doch nur Bruchstücke geben. Wer weiß, vielleicht haben
die Verfasser diese lyrischen Kränze nur geflochten, die Form des „lyrischen
Epos" nur erfunden, um sich gegen alles Blumenpflücken und Ährenlesen,
gegen alle fragmentarische Anerkennung zu verwahren: Lese uns ganz oder
gar nicht! Zwar bei den Dresdner Elegien eines Anonymus (Dresden,
F. Glöß) ist der Zusammenhang so lose, sind die besungnen Herrlichkeiten
Dresdens so grundverschieden, daß es der Verfasser nicht übelnehmen kann,
wenn wir der vierten und neunten vor den übrigen den Vorzug geben. Anders
steht es mit den Dichtungen Lebe von Ferdinand Avenarius (Leipzig,
O. N. Reisland), Verlornes Leben, einem modernen lyrischen Epos von
Hugo Kegel (Dresden und Leipzig, E. Pierson, 1895) und In Phantas
Schloß von Christian Morgenstern (Berlin, Richard Taendler. 1895),
die alle ein Ganzes vorstellen wollen. In Morgensterns dithyrambischen Phan¬
tasien, deren Form keineswegs so neu ist, wie sich gewisse moderne Kritiker
einbilden (es klingt immer, als ob Goethe weder „Wanderers Sturmlied" noch
„Mahomets Gesang," weder „Prometheus" noch „Ganymed" gedichtet hätte!),
und deren Inhalt meist auf Fr. Nietzsche zurückweist, können die Gedichte
„Sonnenaufgang" und Hoirw imxsiAwr einen ungefähren Begriff von dem
geben, was mit dem Drange, sich als Übermensch zu fühlen und an dem
Mutterherzen der Natur, das, wie es scheint, uur noch in den höchsten Ge-
birgsorten schlägt, poetisch zu gewinnen ist. Der Kegelsche Cyklus giebt in


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[0044] Beiträge zu einer künftigen Anthologie Begriffen und den leitartikelmäßigen Schlagworten eine klangreiche rednerische Einkleidung zu geben. Die Wirkung beruht wie in allen geiht- und sinn¬ verwandten Gedichten auf der Gegenüberstellung äußerster Gegensätze, das Gedicht „Zwei Wandrer" ist eine gute und bezeichnende Probe davon. Mehr Licht, Zeitgemäßes in Versen und Prosa von Ew. und Mals Im Tann (Zürich, Verlagsmagazin, 1895), enthält fast nnr Gedichte, die satirisch und parodistisch gemeint sein müssen, und obwohl die Verfasser im Vorwort schein¬ bar ganz ernsthaft versichern: „Der noch engere Zusammenschluß der Nationen erscheint uns nötig, um die noch ausstehenden Aufgaben der Kultur zu lösen. Die Opfer, die wir bringen, in dieser im Argen liegenden Zeit dennoch mit unsrer Sammlung hervorzutreten, müssen uns entschieden von allen Ständen als Verdienst angerechnet werden," scheint sich doch dahinter ein Scherz zu verbergen. Um aber für eine Mustersammlung von Parodien etwas aus¬ zuwählen, dazu ist der Humor doch zu dünn und zu säuerlich, Biedermeier bleibt in dieser Art von Gedichten den Geschwistern im Tann entschieden überlegen. Bei jeder Anthologie fühlt sich der Sammler wie der Leser auf sicherm Boden, solange er ganze, in sich abgeschlossene Dichtungen vor sich hat. Mißlicher wird es, wenn sich die Auswahl auf Bruchstücke beschränken soll, aus einer Anzahl neuerer lyrischer Cyklen, in sich zusammenhängender Gedicht¬ folgen, ließen sich doch nur Bruchstücke geben. Wer weiß, vielleicht haben die Verfasser diese lyrischen Kränze nur geflochten, die Form des „lyrischen Epos" nur erfunden, um sich gegen alles Blumenpflücken und Ährenlesen, gegen alle fragmentarische Anerkennung zu verwahren: Lese uns ganz oder gar nicht! Zwar bei den Dresdner Elegien eines Anonymus (Dresden, F. Glöß) ist der Zusammenhang so lose, sind die besungnen Herrlichkeiten Dresdens so grundverschieden, daß es der Verfasser nicht übelnehmen kann, wenn wir der vierten und neunten vor den übrigen den Vorzug geben. Anders steht es mit den Dichtungen Lebe von Ferdinand Avenarius (Leipzig, O. N. Reisland), Verlornes Leben, einem modernen lyrischen Epos von Hugo Kegel (Dresden und Leipzig, E. Pierson, 1895) und In Phantas Schloß von Christian Morgenstern (Berlin, Richard Taendler. 1895), die alle ein Ganzes vorstellen wollen. In Morgensterns dithyrambischen Phan¬ tasien, deren Form keineswegs so neu ist, wie sich gewisse moderne Kritiker einbilden (es klingt immer, als ob Goethe weder „Wanderers Sturmlied" noch „Mahomets Gesang," weder „Prometheus" noch „Ganymed" gedichtet hätte!), und deren Inhalt meist auf Fr. Nietzsche zurückweist, können die Gedichte „Sonnenaufgang" und Hoirw imxsiAwr einen ungefähren Begriff von dem geben, was mit dem Drange, sich als Übermensch zu fühlen und an dem Mutterherzen der Natur, das, wie es scheint, uur noch in den höchsten Ge- birgsorten schlägt, poetisch zu gewinnen ist. Der Kegelsche Cyklus giebt in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/44>, abgerufen am 25.07.2024.