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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Die vereine und das bürgerliche Gesetzbuch

für die Rechtssicherheit zuträglich, wenn der Gesetzgebung der Einzelstaaten,
ja zum guten Teil sogar ihren Verwaltungsbehörden jederzeit freistünde, den
dnrch Neichsgesetz geschaffnen Rechtseinrichtnngen den Boden wegzuziehen und
damit die privatrechtlichen Bestimmungen über die Vereine vielleicht für große
Teile Deutschlands zum toten Buchstaben zu mache".

Es kommt hinzu, daß die Ordnung des Vereinswesens, soweit es die vom
EntWurfe sogenannten sozialpolitischen Vereine betrifft, eine der wichtigsten,
eine schon viel zu lauge hiuausgeschobue soziale Aufgabe bildet. Mit dieser
uicht ganz glücklich gewählten Bezeichnung sind in erster Linie gemeint die gewerk¬
schaftlichen Vereinigungen der arbeitenden Klassen. Es bestreitet heute so leicht
niemand mehr, daß die Freiheit des Arbeitsvertrags, auf der gleichwohl unser
ganzes Wirtschaftssystem aufgebaut ist, zur Phrase wird und zur Freiheit des
Verhungerns ausarten kann, wenn der notwendig auf den Verdienst seiner
Hände angewiesene Arbeiter dem kapitalkräftigen Unternehmer als Einzelner
gegenübersteht. Nur als Glied einer größern Organisation ist der Arbeiter
imstande, einigen Einfluß auf günstigere Gestaltung der Arbeitsbedingungen
zu üben. Das Recht, solche Organisationen zu bilden, ist deshalb so natürlich
und selbstverständlich, daß schon die Gewerbeordnung alle Verbote und Straf-
bestimmungen gegen gewerbliche Koalitionen beseitigt und nur den Terrorismus
der Vereinigungen selbst uuter Strafe gestellt hat. Allein das Vereins- und
Versammlungsrecht der einzelnen Bundesstaaten hat sich mit all seinen kleinen
erfinderischen Queugeleieu deu Arbeitervereinigungen so nachteilig erwiesen,
daß sie in Deutschland noch niemals haben recht zu Kräften kommen können.
Gerade für sie ist es aber, mehr als für irgend welche Vereinigung, eine
Lebensfrage, daß sie auf ihrem Gebiet vollkommen freie Bewegung und namentlich
auch das Recht der Vermögensfähigkeit genießen. Ohne dieses Recht sind sie
nicht imstande, ihre Mitglieder zur Erfüllung ihrer Mitgliedspflichten zu zwingen.
Sie sehen sich genötigt, ihre Fonds einzelnen Personen auf Treu und Glauben
anzuvertrauen und sind damit den Gefahren ungetreuer oder nachlässiger Ver¬
waltung ausgesetzt. Ihnen Kredit zu gewähren, ist für den Darleiher, wenn
sie überhaupt einen finden, äußerst gewagt, ein geordnetes Jahresbudget ist
fast unmöglich. So ist es gekommen, daß von den deutschen Arbeitern im
Jahre 1892 nur 244 934 mit einer Jahreseinnahme von 2031922 Mark in
Gewerkschaften vereinigt waren, wozu noch 61034 Mitglieder der Hirsch-
Dunckerschen Gewerkvereine hinzutreten, während um dieselbe Zeit die englischen
Trabes Unions, soweit sie mit dem Labour Department in Verbindung stehen,
1237367 Mitglieder mit einer Jahreseinnahme von 35 774440 Mark und
einem angesammelten Vermögen von 36883480 Mark aufwiesen. Es kann
nicht Wunder nehmen, daß die mißtrauische und wenig wohlwollende Haltung,
die die Staatsgewalt in Deutschland den Gewerkschaften der Arbeiter bisher
entgegengebracht hat, anch von diesen mit tiefem Mißtrauen gegen den Staat


Die vereine und das bürgerliche Gesetzbuch

für die Rechtssicherheit zuträglich, wenn der Gesetzgebung der Einzelstaaten,
ja zum guten Teil sogar ihren Verwaltungsbehörden jederzeit freistünde, den
dnrch Neichsgesetz geschaffnen Rechtseinrichtnngen den Boden wegzuziehen und
damit die privatrechtlichen Bestimmungen über die Vereine vielleicht für große
Teile Deutschlands zum toten Buchstaben zu mache».

Es kommt hinzu, daß die Ordnung des Vereinswesens, soweit es die vom
EntWurfe sogenannten sozialpolitischen Vereine betrifft, eine der wichtigsten,
eine schon viel zu lauge hiuausgeschobue soziale Aufgabe bildet. Mit dieser
uicht ganz glücklich gewählten Bezeichnung sind in erster Linie gemeint die gewerk¬
schaftlichen Vereinigungen der arbeitenden Klassen. Es bestreitet heute so leicht
niemand mehr, daß die Freiheit des Arbeitsvertrags, auf der gleichwohl unser
ganzes Wirtschaftssystem aufgebaut ist, zur Phrase wird und zur Freiheit des
Verhungerns ausarten kann, wenn der notwendig auf den Verdienst seiner
Hände angewiesene Arbeiter dem kapitalkräftigen Unternehmer als Einzelner
gegenübersteht. Nur als Glied einer größern Organisation ist der Arbeiter
imstande, einigen Einfluß auf günstigere Gestaltung der Arbeitsbedingungen
zu üben. Das Recht, solche Organisationen zu bilden, ist deshalb so natürlich
und selbstverständlich, daß schon die Gewerbeordnung alle Verbote und Straf-
bestimmungen gegen gewerbliche Koalitionen beseitigt und nur den Terrorismus
der Vereinigungen selbst uuter Strafe gestellt hat. Allein das Vereins- und
Versammlungsrecht der einzelnen Bundesstaaten hat sich mit all seinen kleinen
erfinderischen Queugeleieu deu Arbeitervereinigungen so nachteilig erwiesen,
daß sie in Deutschland noch niemals haben recht zu Kräften kommen können.
Gerade für sie ist es aber, mehr als für irgend welche Vereinigung, eine
Lebensfrage, daß sie auf ihrem Gebiet vollkommen freie Bewegung und namentlich
auch das Recht der Vermögensfähigkeit genießen. Ohne dieses Recht sind sie
nicht imstande, ihre Mitglieder zur Erfüllung ihrer Mitgliedspflichten zu zwingen.
Sie sehen sich genötigt, ihre Fonds einzelnen Personen auf Treu und Glauben
anzuvertrauen und sind damit den Gefahren ungetreuer oder nachlässiger Ver¬
waltung ausgesetzt. Ihnen Kredit zu gewähren, ist für den Darleiher, wenn
sie überhaupt einen finden, äußerst gewagt, ein geordnetes Jahresbudget ist
fast unmöglich. So ist es gekommen, daß von den deutschen Arbeitern im
Jahre 1892 nur 244 934 mit einer Jahreseinnahme von 2031922 Mark in
Gewerkschaften vereinigt waren, wozu noch 61034 Mitglieder der Hirsch-
Dunckerschen Gewerkvereine hinzutreten, während um dieselbe Zeit die englischen
Trabes Unions, soweit sie mit dem Labour Department in Verbindung stehen,
1237367 Mitglieder mit einer Jahreseinnahme von 35 774440 Mark und
einem angesammelten Vermögen von 36883480 Mark aufwiesen. Es kann
nicht Wunder nehmen, daß die mißtrauische und wenig wohlwollende Haltung,
die die Staatsgewalt in Deutschland den Gewerkschaften der Arbeiter bisher
entgegengebracht hat, anch von diesen mit tiefem Mißtrauen gegen den Staat


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[0428] Die vereine und das bürgerliche Gesetzbuch für die Rechtssicherheit zuträglich, wenn der Gesetzgebung der Einzelstaaten, ja zum guten Teil sogar ihren Verwaltungsbehörden jederzeit freistünde, den dnrch Neichsgesetz geschaffnen Rechtseinrichtnngen den Boden wegzuziehen und damit die privatrechtlichen Bestimmungen über die Vereine vielleicht für große Teile Deutschlands zum toten Buchstaben zu mache». Es kommt hinzu, daß die Ordnung des Vereinswesens, soweit es die vom EntWurfe sogenannten sozialpolitischen Vereine betrifft, eine der wichtigsten, eine schon viel zu lauge hiuausgeschobue soziale Aufgabe bildet. Mit dieser uicht ganz glücklich gewählten Bezeichnung sind in erster Linie gemeint die gewerk¬ schaftlichen Vereinigungen der arbeitenden Klassen. Es bestreitet heute so leicht niemand mehr, daß die Freiheit des Arbeitsvertrags, auf der gleichwohl unser ganzes Wirtschaftssystem aufgebaut ist, zur Phrase wird und zur Freiheit des Verhungerns ausarten kann, wenn der notwendig auf den Verdienst seiner Hände angewiesene Arbeiter dem kapitalkräftigen Unternehmer als Einzelner gegenübersteht. Nur als Glied einer größern Organisation ist der Arbeiter imstande, einigen Einfluß auf günstigere Gestaltung der Arbeitsbedingungen zu üben. Das Recht, solche Organisationen zu bilden, ist deshalb so natürlich und selbstverständlich, daß schon die Gewerbeordnung alle Verbote und Straf- bestimmungen gegen gewerbliche Koalitionen beseitigt und nur den Terrorismus der Vereinigungen selbst uuter Strafe gestellt hat. Allein das Vereins- und Versammlungsrecht der einzelnen Bundesstaaten hat sich mit all seinen kleinen erfinderischen Queugeleieu deu Arbeitervereinigungen so nachteilig erwiesen, daß sie in Deutschland noch niemals haben recht zu Kräften kommen können. Gerade für sie ist es aber, mehr als für irgend welche Vereinigung, eine Lebensfrage, daß sie auf ihrem Gebiet vollkommen freie Bewegung und namentlich auch das Recht der Vermögensfähigkeit genießen. Ohne dieses Recht sind sie nicht imstande, ihre Mitglieder zur Erfüllung ihrer Mitgliedspflichten zu zwingen. Sie sehen sich genötigt, ihre Fonds einzelnen Personen auf Treu und Glauben anzuvertrauen und sind damit den Gefahren ungetreuer oder nachlässiger Ver¬ waltung ausgesetzt. Ihnen Kredit zu gewähren, ist für den Darleiher, wenn sie überhaupt einen finden, äußerst gewagt, ein geordnetes Jahresbudget ist fast unmöglich. So ist es gekommen, daß von den deutschen Arbeitern im Jahre 1892 nur 244 934 mit einer Jahreseinnahme von 2031922 Mark in Gewerkschaften vereinigt waren, wozu noch 61034 Mitglieder der Hirsch- Dunckerschen Gewerkvereine hinzutreten, während um dieselbe Zeit die englischen Trabes Unions, soweit sie mit dem Labour Department in Verbindung stehen, 1237367 Mitglieder mit einer Jahreseinnahme von 35 774440 Mark und einem angesammelten Vermögen von 36883480 Mark aufwiesen. Es kann nicht Wunder nehmen, daß die mißtrauische und wenig wohlwollende Haltung, die die Staatsgewalt in Deutschland den Gewerkschaften der Arbeiter bisher entgegengebracht hat, anch von diesen mit tiefem Mißtrauen gegen den Staat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/428>, abgerufen am 24.07.2024.