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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

finden, die nur mittelbar und auf Umwegen rückwirkend den Gemeinsinn
stärken und die Volksfeste schrittweise dem erstrebten Ideal näher zu bringen,
so ist auch das des Schweißes der Edeln wert; bleibt es doch unsre uner¬
schütterliche Zuversicht, daß ein solchen Zielen zähe und unablässig zustrebendes
Volk auch, wenn die Zeit erfüllt ist, die leitenden Männer findet, die dem
Kampfe zum Siege verhelfen.

(Schluß folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
semitisches, Antisemitisches und Christlich-Soziales.
'

Paris und
Wien haben am 9. wieder einmal ihren kleinen Zlg-vie IM-^ gehabt, der allerdings
kein Freitag, sondern ein Sonnabend war. So rätselhaft die Getreidebörse in
agrarischer Darstellung ist, so durchsichtig ist die Effektenbörse oder vielmehr deren
Spiel. Der Kladderadatsch hat es jüngst in den zwei Figuren der Hauffe und
der Baisse, die ihren Inhalt tauschen, aufs trefflichste veranschaulicht; der
wechselseitige Mästungs- und Entfettungsprozeß der beiden Männchen erinnert an
eine freilich weit poetischere Figurengruppe: die Schlange und die Irrlichter in
Goethes Märchen. Fraglich konnte in diesem Falle höchstens bleiben, ob die Hauffe
oder die Baisse der schuldige Teil sei, d. h. ob die Kurse in schwindelhafte Hohe
hinaufgetrieben oder durch Verwertung der schwarzen Punkte am Osthimmel von
einem normalen Stande hinabgestürzt worden sind, oder ob sich beide Parteien
in die Schuld teilen, ob der durch den Schwindel der Haussiers unvermeidlich ge¬
wordene Sturz von den Baissiers durch künstliche Mittel gefördert worden ist. Die
Hauptschuld scheint auf den Haussiers liegen zu bleiben, und zwar auf den Goldshare-
spekulanten; in Paris, wo besonders viel Theaterdämchen und Litteraten zu den
ausgequetschten Blutegeln gehören, scheint der Verlust der Hauffe fast ausschließlich
in der Entwertung der Goldshares zu bestehen. Auch die Kreuzzeitung hat sich
sofort dieser Auffassung angeschlossen; sie sieht in der Zurückführung der Kurse ans
ihre normale Höhe eine Wohlthat und vermag für die Opfer kein Mitleid zu em¬
pfinden, weil die Zeitungen monatelang eindringlich genug gewarnt hätten. Der
Ekonomist der Neuen Freien Presse benutzt die Gelegenheit zu zwei beachtenswerten
Mahnungen. Eine geht an die Regierungen, die durch ihre Konversionspolitik nicht
wenig dazu beitrügen, das Publikum nach höherm Zinsgenuß hungrig zu machen und
so zum Spiel zu drängen; die andre an die grundsätzlichen Feinde der Börse'
das Charakteristische des bösen Neunten sei eben gewesen, daß es an diesem Tage
keine Börse, kein Spiel von Angebot und Nachfrage gegeben habe; niemand habe
gekauft, und die Kurse seien unter dem Eindruck der herrschenden Panik von Zu¬
fällen diktirt worden; gäbe es keine Börse, so würde die Preisbildung gewöhnlich


Maßgebliches und Unmaßgebliches

finden, die nur mittelbar und auf Umwegen rückwirkend den Gemeinsinn
stärken und die Volksfeste schrittweise dem erstrebten Ideal näher zu bringen,
so ist auch das des Schweißes der Edeln wert; bleibt es doch unsre uner¬
schütterliche Zuversicht, daß ein solchen Zielen zähe und unablässig zustrebendes
Volk auch, wenn die Zeit erfüllt ist, die leitenden Männer findet, die dem
Kampfe zum Siege verhelfen.

(Schluß folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
semitisches, Antisemitisches und Christlich-Soziales.
'

Paris und
Wien haben am 9. wieder einmal ihren kleinen Zlg-vie IM-^ gehabt, der allerdings
kein Freitag, sondern ein Sonnabend war. So rätselhaft die Getreidebörse in
agrarischer Darstellung ist, so durchsichtig ist die Effektenbörse oder vielmehr deren
Spiel. Der Kladderadatsch hat es jüngst in den zwei Figuren der Hauffe und
der Baisse, die ihren Inhalt tauschen, aufs trefflichste veranschaulicht; der
wechselseitige Mästungs- und Entfettungsprozeß der beiden Männchen erinnert an
eine freilich weit poetischere Figurengruppe: die Schlange und die Irrlichter in
Goethes Märchen. Fraglich konnte in diesem Falle höchstens bleiben, ob die Hauffe
oder die Baisse der schuldige Teil sei, d. h. ob die Kurse in schwindelhafte Hohe
hinaufgetrieben oder durch Verwertung der schwarzen Punkte am Osthimmel von
einem normalen Stande hinabgestürzt worden sind, oder ob sich beide Parteien
in die Schuld teilen, ob der durch den Schwindel der Haussiers unvermeidlich ge¬
wordene Sturz von den Baissiers durch künstliche Mittel gefördert worden ist. Die
Hauptschuld scheint auf den Haussiers liegen zu bleiben, und zwar auf den Goldshare-
spekulanten; in Paris, wo besonders viel Theaterdämchen und Litteraten zu den
ausgequetschten Blutegeln gehören, scheint der Verlust der Hauffe fast ausschließlich
in der Entwertung der Goldshares zu bestehen. Auch die Kreuzzeitung hat sich
sofort dieser Auffassung angeschlossen; sie sieht in der Zurückführung der Kurse ans
ihre normale Höhe eine Wohlthat und vermag für die Opfer kein Mitleid zu em¬
pfinden, weil die Zeitungen monatelang eindringlich genug gewarnt hätten. Der
Ekonomist der Neuen Freien Presse benutzt die Gelegenheit zu zwei beachtenswerten
Mahnungen. Eine geht an die Regierungen, die durch ihre Konversionspolitik nicht
wenig dazu beitrügen, das Publikum nach höherm Zinsgenuß hungrig zu machen und
so zum Spiel zu drängen; die andre an die grundsätzlichen Feinde der Börse'
das Charakteristische des bösen Neunten sei eben gewesen, daß es an diesem Tage
keine Börse, kein Spiel von Angebot und Nachfrage gegeben habe; niemand habe
gekauft, und die Kurse seien unter dem Eindruck der herrschenden Panik von Zu¬
fällen diktirt worden; gäbe es keine Börse, so würde die Preisbildung gewöhnlich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/402>, abgerufen am 04.07.2024.