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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Unsre Volksfeste

Und darauf kommt es an: weshalb ist die erste und vornehmliche Grund¬
lage aller Volksfeste, der Gemeinstnn verloren gegangen? Sein Totengräber
war, wie für so viele schöne Blüten unsrer Kultur, der dreißigjährige Krieg.
Aber für uns Kinder der Wende des neunzehnten Jahrhunderts kommt noch
etwas andres hinzu. Alles, was heute noch an Trümmern von Volksfesten
übrig ist, führt seinen Ursprung auf eine heidnische, mit christlichen Elementen
mehr oder weniger verquickte und durchsetzte Anschauung, oder auf rein christlich¬
katholische Institutionen, oder endlich auf rein weltliche, in diesem Falle meist
national-patriotische Bestrebungen zurück. Eine heidnisch-christliche Grundlage
ist bis auf wenige vollständig verdunkelte Festbrüuche auf immer verloren;
katholisch-christliche Feste sind seit der Reformation von der protestantischen
Bevölkerung zurückgewiesen worden; Fronleichnamsprozession und Passionsspiele
gehören nur einem Teile unsers Vaterlands an; patriotische Gedenkfeste sind
endlich teilweise überhaupt erst seit einem Vierteljahrhundert möglich, teilweise
sind sie Parteisache geworden -- von einer allgemeinen Feier ist nicht einmal
für den "Seoantag" die Rede. Wir stehen auf neuem Boden. Die moderne
Weltanschauung ist bisher der dogmatisch-christlichen nur negativ und kritisch
gegenübergetreten, schaffend noch nicht; sie hat nur zerstören, aber nicht auf¬
bauen können. Wie tief wir dies beklagen mögen, wie sehr wir uns nach
jener Einheit des Glaubens zurücksehnen mögen, wir müssen uns mit der
Thatsache abfinden, daß sie verloren, unwiederbringlich verloren ist, ohne bisher
einen Ersatz dafür entdecken zu können. Zugleich werden wir uns aber damit
gegenwärtig halten, die gemeinsame Grundlage eines echten Volksfestes nun¬
mehr anderswo zu suchen (wenn wir ein solches überhaupt noch für möglich
halten), als etwa im Anschluß an kirchliche Einrichtungen, deren Gemeinsamkeit
durch katholische und protestantische Anschauungsweise auf immer zerstört ist.

Diese gemeinsame Grundlage finden wir in dem Nationalcharakter unsers
Volkes, und aus der ganzen Menge alter öffentlicher Feste erhaltbar erscheinen
uns nur die, deren gemeinsamer Grundzug auf der Kraft und der Tüchtigkeit
unsers Volkscharakters beruht. Das Heidentum ist bis auf unbewußt schlum¬
mernde Trümmer verschwunden, die rein kirchlich-christliche Anschauung ist ins
Wanken geraten; lebensfrisch aber, steht noch der deutsche Sinn, der drei schöne
Blüten an seinem starken Stamme treibt: einen frommen Sinn, einen geselligen
Sinn und einen kampfesmutiger Sinn. Hat die Kirche aufgehört, in ihren
Bräuchen und Formen eine einheitliche Kirche zu sein, so ist doch, Gott seis
gedankt, damit nicht auch der fromme Sinn zerstört, der die Treue zu Gott
und dem Nächsten mit Blut und Manneswort zu halten gewillt ist, so steht
noch die deutsche Gesittung hoch, die für Recht, Gesetz und guten Lebensanstand
eintritt, so gilt noch die Achtung vor der Frau, und auch das reine Bild der
Keuschheit steht noch hochgeehrt in deutschen Landen. Haben wir in einer
unsäglich jammervollen Entwicklung unser Volk künstlich und uugermauisch in


Unsre Volksfeste

Und darauf kommt es an: weshalb ist die erste und vornehmliche Grund¬
lage aller Volksfeste, der Gemeinstnn verloren gegangen? Sein Totengräber
war, wie für so viele schöne Blüten unsrer Kultur, der dreißigjährige Krieg.
Aber für uns Kinder der Wende des neunzehnten Jahrhunderts kommt noch
etwas andres hinzu. Alles, was heute noch an Trümmern von Volksfesten
übrig ist, führt seinen Ursprung auf eine heidnische, mit christlichen Elementen
mehr oder weniger verquickte und durchsetzte Anschauung, oder auf rein christlich¬
katholische Institutionen, oder endlich auf rein weltliche, in diesem Falle meist
national-patriotische Bestrebungen zurück. Eine heidnisch-christliche Grundlage
ist bis auf wenige vollständig verdunkelte Festbrüuche auf immer verloren;
katholisch-christliche Feste sind seit der Reformation von der protestantischen
Bevölkerung zurückgewiesen worden; Fronleichnamsprozession und Passionsspiele
gehören nur einem Teile unsers Vaterlands an; patriotische Gedenkfeste sind
endlich teilweise überhaupt erst seit einem Vierteljahrhundert möglich, teilweise
sind sie Parteisache geworden — von einer allgemeinen Feier ist nicht einmal
für den „Seoantag" die Rede. Wir stehen auf neuem Boden. Die moderne
Weltanschauung ist bisher der dogmatisch-christlichen nur negativ und kritisch
gegenübergetreten, schaffend noch nicht; sie hat nur zerstören, aber nicht auf¬
bauen können. Wie tief wir dies beklagen mögen, wie sehr wir uns nach
jener Einheit des Glaubens zurücksehnen mögen, wir müssen uns mit der
Thatsache abfinden, daß sie verloren, unwiederbringlich verloren ist, ohne bisher
einen Ersatz dafür entdecken zu können. Zugleich werden wir uns aber damit
gegenwärtig halten, die gemeinsame Grundlage eines echten Volksfestes nun¬
mehr anderswo zu suchen (wenn wir ein solches überhaupt noch für möglich
halten), als etwa im Anschluß an kirchliche Einrichtungen, deren Gemeinsamkeit
durch katholische und protestantische Anschauungsweise auf immer zerstört ist.

Diese gemeinsame Grundlage finden wir in dem Nationalcharakter unsers
Volkes, und aus der ganzen Menge alter öffentlicher Feste erhaltbar erscheinen
uns nur die, deren gemeinsamer Grundzug auf der Kraft und der Tüchtigkeit
unsers Volkscharakters beruht. Das Heidentum ist bis auf unbewußt schlum¬
mernde Trümmer verschwunden, die rein kirchlich-christliche Anschauung ist ins
Wanken geraten; lebensfrisch aber, steht noch der deutsche Sinn, der drei schöne
Blüten an seinem starken Stamme treibt: einen frommen Sinn, einen geselligen
Sinn und einen kampfesmutiger Sinn. Hat die Kirche aufgehört, in ihren
Bräuchen und Formen eine einheitliche Kirche zu sein, so ist doch, Gott seis
gedankt, damit nicht auch der fromme Sinn zerstört, der die Treue zu Gott
und dem Nächsten mit Blut und Manneswort zu halten gewillt ist, so steht
noch die deutsche Gesittung hoch, die für Recht, Gesetz und guten Lebensanstand
eintritt, so gilt noch die Achtung vor der Frau, und auch das reine Bild der
Keuschheit steht noch hochgeehrt in deutschen Landen. Haben wir in einer
unsäglich jammervollen Entwicklung unser Volk künstlich und uugermauisch in


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[0396] Unsre Volksfeste Und darauf kommt es an: weshalb ist die erste und vornehmliche Grund¬ lage aller Volksfeste, der Gemeinstnn verloren gegangen? Sein Totengräber war, wie für so viele schöne Blüten unsrer Kultur, der dreißigjährige Krieg. Aber für uns Kinder der Wende des neunzehnten Jahrhunderts kommt noch etwas andres hinzu. Alles, was heute noch an Trümmern von Volksfesten übrig ist, führt seinen Ursprung auf eine heidnische, mit christlichen Elementen mehr oder weniger verquickte und durchsetzte Anschauung, oder auf rein christlich¬ katholische Institutionen, oder endlich auf rein weltliche, in diesem Falle meist national-patriotische Bestrebungen zurück. Eine heidnisch-christliche Grundlage ist bis auf wenige vollständig verdunkelte Festbrüuche auf immer verloren; katholisch-christliche Feste sind seit der Reformation von der protestantischen Bevölkerung zurückgewiesen worden; Fronleichnamsprozession und Passionsspiele gehören nur einem Teile unsers Vaterlands an; patriotische Gedenkfeste sind endlich teilweise überhaupt erst seit einem Vierteljahrhundert möglich, teilweise sind sie Parteisache geworden — von einer allgemeinen Feier ist nicht einmal für den „Seoantag" die Rede. Wir stehen auf neuem Boden. Die moderne Weltanschauung ist bisher der dogmatisch-christlichen nur negativ und kritisch gegenübergetreten, schaffend noch nicht; sie hat nur zerstören, aber nicht auf¬ bauen können. Wie tief wir dies beklagen mögen, wie sehr wir uns nach jener Einheit des Glaubens zurücksehnen mögen, wir müssen uns mit der Thatsache abfinden, daß sie verloren, unwiederbringlich verloren ist, ohne bisher einen Ersatz dafür entdecken zu können. Zugleich werden wir uns aber damit gegenwärtig halten, die gemeinsame Grundlage eines echten Volksfestes nun¬ mehr anderswo zu suchen (wenn wir ein solches überhaupt noch für möglich halten), als etwa im Anschluß an kirchliche Einrichtungen, deren Gemeinsamkeit durch katholische und protestantische Anschauungsweise auf immer zerstört ist. Diese gemeinsame Grundlage finden wir in dem Nationalcharakter unsers Volkes, und aus der ganzen Menge alter öffentlicher Feste erhaltbar erscheinen uns nur die, deren gemeinsamer Grundzug auf der Kraft und der Tüchtigkeit unsers Volkscharakters beruht. Das Heidentum ist bis auf unbewußt schlum¬ mernde Trümmer verschwunden, die rein kirchlich-christliche Anschauung ist ins Wanken geraten; lebensfrisch aber, steht noch der deutsche Sinn, der drei schöne Blüten an seinem starken Stamme treibt: einen frommen Sinn, einen geselligen Sinn und einen kampfesmutiger Sinn. Hat die Kirche aufgehört, in ihren Bräuchen und Formen eine einheitliche Kirche zu sein, so ist doch, Gott seis gedankt, damit nicht auch der fromme Sinn zerstört, der die Treue zu Gott und dem Nächsten mit Blut und Manneswort zu halten gewillt ist, so steht noch die deutsche Gesittung hoch, die für Recht, Gesetz und guten Lebensanstand eintritt, so gilt noch die Achtung vor der Frau, und auch das reine Bild der Keuschheit steht noch hochgeehrt in deutschen Landen. Haben wir in einer unsäglich jammervollen Entwicklung unser Volk künstlich und uugermauisch in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/396>, abgerufen am 29.06.2024.