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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Das Petroleum

ziehe", in Deutschland raffiniren, Difserenzinlzölle zwischen vrnclo und roliuvcl,
russisches Petroleum importiren und mit amerikanischem mischen, den Ver¬
brauch einschränken -- dann wird man sie schon klein kriegen, die Amerikaner
u. s. w., n. s. w.

Es ging mir merkwürdig bei dieser Lektüre. Ein andrer würde vermutlich
Schwefel gerochen haben, ich aber roch Lindenblüte. Es war mir ein Gedanke
dnrch den Kopf geschossen und hatte einen andern, ganz verwandten Gedanken
"ausgelöst," den ich einmal vor einigen dreißig Jahren gedacht hatte, und der
jetzt wieder im Gehirn erwachte. Plötzlich, greifbar deutlich, stand einer der
frühesten Tage meiner Jugend vor mir. Wir jungen Herren aus Obersekuuda
sitzen auf den Wurzelknorren einer uralten, mächtigen Linde. In dem berech¬
tigten Stolz auf unsre höhere Weisheit und unser ehrfnrchtgebietendes Alter
hielten wir uns immer etwas abseits; diese Linde war der von allen anerkannte
Stammsitz der Obersckunda während der großen Pause, der Freiviertelstundc,
wie wir damals sagten. Ein hübscher Platz: rechts etwas im Hintergründe
der rote Ziegelbau der Schule, gerade vor uns, jenseits der Promenade, die
lauggestreckte Mauer von Vogts Garten, dicht an unsrer Linde vorbei, die
Allee entlang laufend, das Geländer aus niedrigen Sandsteinpfeilern, durch die
sich eine dicke, vierkantige, eiserne Barre zog, hinter der Einfassung fiel ein
rasenbedeckter Hang nach dein Stadtgraben ab, jenseits erhoben sich terrassen¬
förmig die "Zwinger," schmale bis an die Stadtmauer reichende Gurten, und
dahinter die Ziegeldächer, friedlich qualmende Schornsteine, die scharfe Zwillings¬
spitze des mit Schiefer gedeckten Kirchtums, kurz das biedre Städtchen, das
noch keine Ahnung davon hatte, wie stolz es einst auf diesen Obersekundaner
sein würde.

Ich höre mich wieder ganz deutlich reden. Wir hatten eben den Unter¬
gang der Merowinger "gehabt." Ich war damals ein erfolgreicher Redner,
meine lieben Mitschüler verwöhnten mich mit Beifall und hatten es gern,
wenn ich unter diesem Lindenbaum nach der Stunde entweder "Geschichten er¬
zählte," Randglossen zu dem Gehörten zum besten gab oder gar höchst un-
ehrerbietigerweise die vorgetragne Geschichtsauffassung aus persönlichen Mängeln
des Vortragenden ableitete. Der vagabuudirende Pädagog -- ich glaube, er
wartete ans irgend eine wirkliche Anstellung, trieb sich inzwischen an Schulen
herum, ließ die Schüler irgend einen Leitfaden auswendig lernen und sich dafür
als Geschichtslehrer bezahlen --, dieser Herr also galt bei uns als ein be¬
schränkter Kopf, weil er uns einmal, über ein Komma in dem Leitfaden hinweg¬
lesend, die indischen Flüsse Acesines und Hydraotes für Könige und Kampf¬
genossen des Herrschers Porus hatte verkaufen wollen und erst dnrch den
lauten Protest der ganzen Klasse davon abzubringen gewesen war. Außerdem
aber hielten wir ihn für einen schlechten Kerl, weil er nicht ein Mann des
offnen Worts, sondern der kleinlichen Rache war, und die sittlichen Ansprüche


Das Petroleum

ziehe», in Deutschland raffiniren, Difserenzinlzölle zwischen vrnclo und roliuvcl,
russisches Petroleum importiren und mit amerikanischem mischen, den Ver¬
brauch einschränken — dann wird man sie schon klein kriegen, die Amerikaner
u. s. w., n. s. w.

Es ging mir merkwürdig bei dieser Lektüre. Ein andrer würde vermutlich
Schwefel gerochen haben, ich aber roch Lindenblüte. Es war mir ein Gedanke
dnrch den Kopf geschossen und hatte einen andern, ganz verwandten Gedanken
„ausgelöst," den ich einmal vor einigen dreißig Jahren gedacht hatte, und der
jetzt wieder im Gehirn erwachte. Plötzlich, greifbar deutlich, stand einer der
frühesten Tage meiner Jugend vor mir. Wir jungen Herren aus Obersekuuda
sitzen auf den Wurzelknorren einer uralten, mächtigen Linde. In dem berech¬
tigten Stolz auf unsre höhere Weisheit und unser ehrfnrchtgebietendes Alter
hielten wir uns immer etwas abseits; diese Linde war der von allen anerkannte
Stammsitz der Obersckunda während der großen Pause, der Freiviertelstundc,
wie wir damals sagten. Ein hübscher Platz: rechts etwas im Hintergründe
der rote Ziegelbau der Schule, gerade vor uns, jenseits der Promenade, die
lauggestreckte Mauer von Vogts Garten, dicht an unsrer Linde vorbei, die
Allee entlang laufend, das Geländer aus niedrigen Sandsteinpfeilern, durch die
sich eine dicke, vierkantige, eiserne Barre zog, hinter der Einfassung fiel ein
rasenbedeckter Hang nach dein Stadtgraben ab, jenseits erhoben sich terrassen¬
förmig die „Zwinger," schmale bis an die Stadtmauer reichende Gurten, und
dahinter die Ziegeldächer, friedlich qualmende Schornsteine, die scharfe Zwillings¬
spitze des mit Schiefer gedeckten Kirchtums, kurz das biedre Städtchen, das
noch keine Ahnung davon hatte, wie stolz es einst auf diesen Obersekundaner
sein würde.

Ich höre mich wieder ganz deutlich reden. Wir hatten eben den Unter¬
gang der Merowinger „gehabt." Ich war damals ein erfolgreicher Redner,
meine lieben Mitschüler verwöhnten mich mit Beifall und hatten es gern,
wenn ich unter diesem Lindenbaum nach der Stunde entweder „Geschichten er¬
zählte," Randglossen zu dem Gehörten zum besten gab oder gar höchst un-
ehrerbietigerweise die vorgetragne Geschichtsauffassung aus persönlichen Mängeln
des Vortragenden ableitete. Der vagabuudirende Pädagog — ich glaube, er
wartete ans irgend eine wirkliche Anstellung, trieb sich inzwischen an Schulen
herum, ließ die Schüler irgend einen Leitfaden auswendig lernen und sich dafür
als Geschichtslehrer bezahlen —, dieser Herr also galt bei uns als ein be¬
schränkter Kopf, weil er uns einmal, über ein Komma in dem Leitfaden hinweg¬
lesend, die indischen Flüsse Acesines und Hydraotes für Könige und Kampf¬
genossen des Herrschers Porus hatte verkaufen wollen und erst dnrch den
lauten Protest der ganzen Klasse davon abzubringen gewesen war. Außerdem
aber hielten wir ihn für einen schlechten Kerl, weil er nicht ein Mann des
offnen Worts, sondern der kleinlichen Rache war, und die sittlichen Ansprüche


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[0318] Das Petroleum ziehe», in Deutschland raffiniren, Difserenzinlzölle zwischen vrnclo und roliuvcl, russisches Petroleum importiren und mit amerikanischem mischen, den Ver¬ brauch einschränken — dann wird man sie schon klein kriegen, die Amerikaner u. s. w., n. s. w. Es ging mir merkwürdig bei dieser Lektüre. Ein andrer würde vermutlich Schwefel gerochen haben, ich aber roch Lindenblüte. Es war mir ein Gedanke dnrch den Kopf geschossen und hatte einen andern, ganz verwandten Gedanken „ausgelöst," den ich einmal vor einigen dreißig Jahren gedacht hatte, und der jetzt wieder im Gehirn erwachte. Plötzlich, greifbar deutlich, stand einer der frühesten Tage meiner Jugend vor mir. Wir jungen Herren aus Obersekuuda sitzen auf den Wurzelknorren einer uralten, mächtigen Linde. In dem berech¬ tigten Stolz auf unsre höhere Weisheit und unser ehrfnrchtgebietendes Alter hielten wir uns immer etwas abseits; diese Linde war der von allen anerkannte Stammsitz der Obersckunda während der großen Pause, der Freiviertelstundc, wie wir damals sagten. Ein hübscher Platz: rechts etwas im Hintergründe der rote Ziegelbau der Schule, gerade vor uns, jenseits der Promenade, die lauggestreckte Mauer von Vogts Garten, dicht an unsrer Linde vorbei, die Allee entlang laufend, das Geländer aus niedrigen Sandsteinpfeilern, durch die sich eine dicke, vierkantige, eiserne Barre zog, hinter der Einfassung fiel ein rasenbedeckter Hang nach dein Stadtgraben ab, jenseits erhoben sich terrassen¬ förmig die „Zwinger," schmale bis an die Stadtmauer reichende Gurten, und dahinter die Ziegeldächer, friedlich qualmende Schornsteine, die scharfe Zwillings¬ spitze des mit Schiefer gedeckten Kirchtums, kurz das biedre Städtchen, das noch keine Ahnung davon hatte, wie stolz es einst auf diesen Obersekundaner sein würde. Ich höre mich wieder ganz deutlich reden. Wir hatten eben den Unter¬ gang der Merowinger „gehabt." Ich war damals ein erfolgreicher Redner, meine lieben Mitschüler verwöhnten mich mit Beifall und hatten es gern, wenn ich unter diesem Lindenbaum nach der Stunde entweder „Geschichten er¬ zählte," Randglossen zu dem Gehörten zum besten gab oder gar höchst un- ehrerbietigerweise die vorgetragne Geschichtsauffassung aus persönlichen Mängeln des Vortragenden ableitete. Der vagabuudirende Pädagog — ich glaube, er wartete ans irgend eine wirkliche Anstellung, trieb sich inzwischen an Schulen herum, ließ die Schüler irgend einen Leitfaden auswendig lernen und sich dafür als Geschichtslehrer bezahlen —, dieser Herr also galt bei uns als ein be¬ schränkter Kopf, weil er uns einmal, über ein Komma in dem Leitfaden hinweg¬ lesend, die indischen Flüsse Acesines und Hydraotes für Könige und Kampf¬ genossen des Herrschers Porus hatte verkaufen wollen und erst dnrch den lauten Protest der ganzen Klasse davon abzubringen gewesen war. Außerdem aber hielten wir ihn für einen schlechten Kerl, weil er nicht ein Mann des offnen Worts, sondern der kleinlichen Rache war, und die sittlichen Ansprüche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/318>, abgerufen am 29.06.2024.