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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Die reine Interessenvertretung

seines Willens in Fragen zu erzwingen, die die Verfassung nicht schon seiner
Entscheidung allein vorbehalten hat. Zu einer gedeihlichen Entwicklung des
Reichs ist es also notwendig, daß sich die drei Faktoren verständigen, um im
gleichen Sinne zu wirken. Von einer moralischen Überlegenheit der Volks¬
vertretung kann bei einer solchen Sachlage nicht wohl die Rede sein, ebenso
wenig wie das Gegenteil eine notwendige Folge davon ist. Wohl aber sollte
man meinen, die Eigenart der deutschen Reichsverfassung müßte eine Gestaltung
des Parteiwesens hervorgebracht haben, die wesentlich verschieden wäre von der
in andern, parlamentarisch regierten Ländern.

Eine politische Partei ist durch Rücksichten nach zwei Seiten hin gebunden,
durch ihr Verhältnis zur Wählerschaft und durch ihr Verhältnis zur Regierung.
Die parlamentarische Regierungsform nun bringt es mit sich, daß dies letzte
Verhältnis für die Parteien ungleich wichtiger wird als das erste. In Frank¬
reich -- dies Beispiel ist sür den Vergleich mit Deutschland lehrreicher als
England, wo manche Unzuträglichkeiten des Parlamentarismus im Laufe einer
jahrhundertelangen Praxis durch stillschweigende Übereinkunft beseitigt worden
sind -- in Frankreich muß das Hauptstreben jeder Partei darauf gerichtet
sein, die Negierung selbst in die Hand zu bekommen, oder wenn das wegen
zu geringer Zahl nicht geht, das Zünglein an der Wage zu werden, das
unter Umständen zwischen den großen Parteien den Ausschlag giebt. Denn
eine Partei, die weder selbst zur Negierung gelangen kann noch sich der Re¬
gierung gelegentlich furchtbar zu machen weiß, wird in einem parlamentarisch
regierten Lande schließlich einfach vergewaltigt. Will sie dem entgehen, so
muß sie eben in erster Linie ihr Verhältnis zur Negierung im Auge behalten,
und thut sie das, so kann sie das Interesse ihrer Wählerschaft mitunter in
höchst wichtigen Fragen nicht zum leitenden Grundsatz ihrer Handlungen
machen. Wir wollen das um einem besondern Fall erläutern. In keinem Lande
kann es in dem unmittelbaren Interesse monarchisch gesinnter Männer liegen, den
Sozialisten zu einem moralischen Erfolge zu verhelfen. Trotzdem haben zahl¬
reiche Abgeordnete der Rechten beim letzten Ministersturz in der französischen
Kammer für die sozialistische Tagesordnung gestimmt, und ihre Wähler werden
ihnen diese so wie manche frühere Abstimmung ähnlicher Art sicher nicht übel
nehmen. Denn so stark der monarchische Geist im französischen Volke anch
noch sein mag, die monarchischen Parteien bedeuten an sich nicht allzu viel
wehr, und sie würden noch weniger bedeuten, wenn die Republikaner unter
sich einig wären. Da sie das aber nicht sind, so ist es für die Monarchisten
nützlich, sie zuweilen die Macht ihres bloßen Daseins fühlen zu lassen, selbst
wenn sie dadurch antimonarchischen Bestrebungen Vorschub leisten.

Da hat die Reichsverfassung den deutschen Parteien doch eine weit vor¬
nehmere Stellung im Staatsleben zugedacht. Durch keinerlei Rücksichten auf
die Regierung brauchen sie sich abhalten zu lassen, sich ganz der Sorge für


Die reine Interessenvertretung

seines Willens in Fragen zu erzwingen, die die Verfassung nicht schon seiner
Entscheidung allein vorbehalten hat. Zu einer gedeihlichen Entwicklung des
Reichs ist es also notwendig, daß sich die drei Faktoren verständigen, um im
gleichen Sinne zu wirken. Von einer moralischen Überlegenheit der Volks¬
vertretung kann bei einer solchen Sachlage nicht wohl die Rede sein, ebenso
wenig wie das Gegenteil eine notwendige Folge davon ist. Wohl aber sollte
man meinen, die Eigenart der deutschen Reichsverfassung müßte eine Gestaltung
des Parteiwesens hervorgebracht haben, die wesentlich verschieden wäre von der
in andern, parlamentarisch regierten Ländern.

Eine politische Partei ist durch Rücksichten nach zwei Seiten hin gebunden,
durch ihr Verhältnis zur Wählerschaft und durch ihr Verhältnis zur Regierung.
Die parlamentarische Regierungsform nun bringt es mit sich, daß dies letzte
Verhältnis für die Parteien ungleich wichtiger wird als das erste. In Frank¬
reich — dies Beispiel ist sür den Vergleich mit Deutschland lehrreicher als
England, wo manche Unzuträglichkeiten des Parlamentarismus im Laufe einer
jahrhundertelangen Praxis durch stillschweigende Übereinkunft beseitigt worden
sind — in Frankreich muß das Hauptstreben jeder Partei darauf gerichtet
sein, die Negierung selbst in die Hand zu bekommen, oder wenn das wegen
zu geringer Zahl nicht geht, das Zünglein an der Wage zu werden, das
unter Umständen zwischen den großen Parteien den Ausschlag giebt. Denn
eine Partei, die weder selbst zur Negierung gelangen kann noch sich der Re¬
gierung gelegentlich furchtbar zu machen weiß, wird in einem parlamentarisch
regierten Lande schließlich einfach vergewaltigt. Will sie dem entgehen, so
muß sie eben in erster Linie ihr Verhältnis zur Negierung im Auge behalten,
und thut sie das, so kann sie das Interesse ihrer Wählerschaft mitunter in
höchst wichtigen Fragen nicht zum leitenden Grundsatz ihrer Handlungen
machen. Wir wollen das um einem besondern Fall erläutern. In keinem Lande
kann es in dem unmittelbaren Interesse monarchisch gesinnter Männer liegen, den
Sozialisten zu einem moralischen Erfolge zu verhelfen. Trotzdem haben zahl¬
reiche Abgeordnete der Rechten beim letzten Ministersturz in der französischen
Kammer für die sozialistische Tagesordnung gestimmt, und ihre Wähler werden
ihnen diese so wie manche frühere Abstimmung ähnlicher Art sicher nicht übel
nehmen. Denn so stark der monarchische Geist im französischen Volke anch
noch sein mag, die monarchischen Parteien bedeuten an sich nicht allzu viel
wehr, und sie würden noch weniger bedeuten, wenn die Republikaner unter
sich einig wären. Da sie das aber nicht sind, so ist es für die Monarchisten
nützlich, sie zuweilen die Macht ihres bloßen Daseins fühlen zu lassen, selbst
wenn sie dadurch antimonarchischen Bestrebungen Vorschub leisten.

Da hat die Reichsverfassung den deutschen Parteien doch eine weit vor¬
nehmere Stellung im Staatsleben zugedacht. Durch keinerlei Rücksichten auf
die Regierung brauchen sie sich abhalten zu lassen, sich ganz der Sorge für


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[0309] Die reine Interessenvertretung seines Willens in Fragen zu erzwingen, die die Verfassung nicht schon seiner Entscheidung allein vorbehalten hat. Zu einer gedeihlichen Entwicklung des Reichs ist es also notwendig, daß sich die drei Faktoren verständigen, um im gleichen Sinne zu wirken. Von einer moralischen Überlegenheit der Volks¬ vertretung kann bei einer solchen Sachlage nicht wohl die Rede sein, ebenso wenig wie das Gegenteil eine notwendige Folge davon ist. Wohl aber sollte man meinen, die Eigenart der deutschen Reichsverfassung müßte eine Gestaltung des Parteiwesens hervorgebracht haben, die wesentlich verschieden wäre von der in andern, parlamentarisch regierten Ländern. Eine politische Partei ist durch Rücksichten nach zwei Seiten hin gebunden, durch ihr Verhältnis zur Wählerschaft und durch ihr Verhältnis zur Regierung. Die parlamentarische Regierungsform nun bringt es mit sich, daß dies letzte Verhältnis für die Parteien ungleich wichtiger wird als das erste. In Frank¬ reich — dies Beispiel ist sür den Vergleich mit Deutschland lehrreicher als England, wo manche Unzuträglichkeiten des Parlamentarismus im Laufe einer jahrhundertelangen Praxis durch stillschweigende Übereinkunft beseitigt worden sind — in Frankreich muß das Hauptstreben jeder Partei darauf gerichtet sein, die Negierung selbst in die Hand zu bekommen, oder wenn das wegen zu geringer Zahl nicht geht, das Zünglein an der Wage zu werden, das unter Umständen zwischen den großen Parteien den Ausschlag giebt. Denn eine Partei, die weder selbst zur Negierung gelangen kann noch sich der Re¬ gierung gelegentlich furchtbar zu machen weiß, wird in einem parlamentarisch regierten Lande schließlich einfach vergewaltigt. Will sie dem entgehen, so muß sie eben in erster Linie ihr Verhältnis zur Negierung im Auge behalten, und thut sie das, so kann sie das Interesse ihrer Wählerschaft mitunter in höchst wichtigen Fragen nicht zum leitenden Grundsatz ihrer Handlungen machen. Wir wollen das um einem besondern Fall erläutern. In keinem Lande kann es in dem unmittelbaren Interesse monarchisch gesinnter Männer liegen, den Sozialisten zu einem moralischen Erfolge zu verhelfen. Trotzdem haben zahl¬ reiche Abgeordnete der Rechten beim letzten Ministersturz in der französischen Kammer für die sozialistische Tagesordnung gestimmt, und ihre Wähler werden ihnen diese so wie manche frühere Abstimmung ähnlicher Art sicher nicht übel nehmen. Denn so stark der monarchische Geist im französischen Volke anch noch sein mag, die monarchischen Parteien bedeuten an sich nicht allzu viel wehr, und sie würden noch weniger bedeuten, wenn die Republikaner unter sich einig wären. Da sie das aber nicht sind, so ist es für die Monarchisten nützlich, sie zuweilen die Macht ihres bloßen Daseins fühlen zu lassen, selbst wenn sie dadurch antimonarchischen Bestrebungen Vorschub leisten. Da hat die Reichsverfassung den deutschen Parteien doch eine weit vor¬ nehmere Stellung im Staatsleben zugedacht. Durch keinerlei Rücksichten auf die Regierung brauchen sie sich abhalten zu lassen, sich ganz der Sorge für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/309>, abgerufen am 24.07.2024.