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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Die reine Interessenvertretung

hültnis dieser drei Faktoren zu einander an drei Beispielen. Da ist zunächst
Großbritannien mit seinem erblichen, aber rein repräsentativen Königtum. Das
Regieren ist nicht Sache des Herrschers, sondern des Ministeriums, und dies
wird, zwar nicht nach dem Gesetz, aber nach einem Herkommen, das in Eng¬
land mehr gilt als das Gesetz, von der Mehrheit des Unterhauses gestellt.
Diese ist es also, die in Wahrheit das Land regiert. Die Verfassung der
französischen Republik ist in diesem Punkt -- in einigen andern übrigens
auch -- viel monarchischer als die des Königreichs Großbritannien und Irland.
Der von der Volksvertretung auf Zeit gewählte Präsident ist in der Wahl
seines Ministerpräsidenten durch das Herkommen nicht entfernt so gebunden
wie die Königin von England. Er vermag vielmehr durch diese Wahl unter
Umständen geradezu einen entscheidenden Einfluß auf die Geschicke des Landes
auszuüben. Freilich muß der Kabinetschef die Mehrheit der Kammer in
Fragen von Bedeutung für sich haben, sodaß die Volksvertretung in allen
Regierungsangelegenheiten schließlich doch den Ausschlag giebt. Sie hat sich
aber durch die Wahl eines Präsidenten, der nach unabhängigem Ermessen zu
handeln befugt ist, eine Art Selbstbeschrünkung auferlegt, die das englische
Parlament nicht kennt. An der Spitze des deutschen Reiches endlich steht ein
erblicher Kaiser, der das Reich nach innen und außen repräsentirt, dem die
Verfassung aber darüber hinaus noch mancherlei Rechte einräumt, nur das
eine Recht nicht, seine Minister zu ernennen. Denn man muß sich wohl hüten,
unsre Staatssekretäre mit den Ministern andrer Länder zu vergleichen. Die
Staatssekretäre sind an sich reine Verwaltungsbeamte, die das Regieren gar
nichts angeht. Das eigentliche Ministerium des deutschen Reichs ist vielmehr
der Bundesrat, dessen Mitglieder nicht der Kaiser, sondern die einzelnen Bundes¬
regierungen ernennen. Der Kaiser ernennt nur den Ministerpräsidenten, das
will sagen den Reichskanzler; wenn er aber will, daß der Kanzler auch mit
zu stimmen hat, so muß er ihn aus den Mitgliedern des Bundesrath wählen
oder ihn in seiner Eigenschaft als preußischer König zum Bundesrat bevoll¬
mächtigen. Der dritte Faktor, die Volksvertretung, ist natürlich auch im
deutschen Reiche von den beiden andern unabhängig, sie hat aber ihrerseits
weder Einfluß auf die Besetzung des höchsten Staatsamts noch auf die Zu¬
sammensetzung des Bundesrath. Kommt es in England oder Frankreich zu
einem Konflikt zwischen der Volksvertretung und einem der beiden andern
Machtfaktoren, so weiß die Volksvertretung ganz genau, daß sie -- in Eng¬
land auf dem Herkommen fußend, in Frankreich auf dem Gesetz -- in ab¬
sehbarer Zeit ihren Willen durchsetzen kann, vorausgesetzt natürlich, daß sie
bis dahin die richtige Vertretung des Volkswillens bleibt. Dies Verhältnis
hat der Volksvertretung in jenen beiden Ländern ein starkes moralisches Über¬
gewicht über die beiden andern Faktoren gegeben. Anders liegt die Sache in
Deutschland. Hier ist keiner der drei Faktoren imstande, die Durchsetzung


Die reine Interessenvertretung

hültnis dieser drei Faktoren zu einander an drei Beispielen. Da ist zunächst
Großbritannien mit seinem erblichen, aber rein repräsentativen Königtum. Das
Regieren ist nicht Sache des Herrschers, sondern des Ministeriums, und dies
wird, zwar nicht nach dem Gesetz, aber nach einem Herkommen, das in Eng¬
land mehr gilt als das Gesetz, von der Mehrheit des Unterhauses gestellt.
Diese ist es also, die in Wahrheit das Land regiert. Die Verfassung der
französischen Republik ist in diesem Punkt — in einigen andern übrigens
auch — viel monarchischer als die des Königreichs Großbritannien und Irland.
Der von der Volksvertretung auf Zeit gewählte Präsident ist in der Wahl
seines Ministerpräsidenten durch das Herkommen nicht entfernt so gebunden
wie die Königin von England. Er vermag vielmehr durch diese Wahl unter
Umständen geradezu einen entscheidenden Einfluß auf die Geschicke des Landes
auszuüben. Freilich muß der Kabinetschef die Mehrheit der Kammer in
Fragen von Bedeutung für sich haben, sodaß die Volksvertretung in allen
Regierungsangelegenheiten schließlich doch den Ausschlag giebt. Sie hat sich
aber durch die Wahl eines Präsidenten, der nach unabhängigem Ermessen zu
handeln befugt ist, eine Art Selbstbeschrünkung auferlegt, die das englische
Parlament nicht kennt. An der Spitze des deutschen Reiches endlich steht ein
erblicher Kaiser, der das Reich nach innen und außen repräsentirt, dem die
Verfassung aber darüber hinaus noch mancherlei Rechte einräumt, nur das
eine Recht nicht, seine Minister zu ernennen. Denn man muß sich wohl hüten,
unsre Staatssekretäre mit den Ministern andrer Länder zu vergleichen. Die
Staatssekretäre sind an sich reine Verwaltungsbeamte, die das Regieren gar
nichts angeht. Das eigentliche Ministerium des deutschen Reichs ist vielmehr
der Bundesrat, dessen Mitglieder nicht der Kaiser, sondern die einzelnen Bundes¬
regierungen ernennen. Der Kaiser ernennt nur den Ministerpräsidenten, das
will sagen den Reichskanzler; wenn er aber will, daß der Kanzler auch mit
zu stimmen hat, so muß er ihn aus den Mitgliedern des Bundesrath wählen
oder ihn in seiner Eigenschaft als preußischer König zum Bundesrat bevoll¬
mächtigen. Der dritte Faktor, die Volksvertretung, ist natürlich auch im
deutschen Reiche von den beiden andern unabhängig, sie hat aber ihrerseits
weder Einfluß auf die Besetzung des höchsten Staatsamts noch auf die Zu¬
sammensetzung des Bundesrath. Kommt es in England oder Frankreich zu
einem Konflikt zwischen der Volksvertretung und einem der beiden andern
Machtfaktoren, so weiß die Volksvertretung ganz genau, daß sie — in Eng¬
land auf dem Herkommen fußend, in Frankreich auf dem Gesetz — in ab¬
sehbarer Zeit ihren Willen durchsetzen kann, vorausgesetzt natürlich, daß sie
bis dahin die richtige Vertretung des Volkswillens bleibt. Dies Verhältnis
hat der Volksvertretung in jenen beiden Ländern ein starkes moralisches Über¬
gewicht über die beiden andern Faktoren gegeben. Anders liegt die Sache in
Deutschland. Hier ist keiner der drei Faktoren imstande, die Durchsetzung


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[0308] Die reine Interessenvertretung hültnis dieser drei Faktoren zu einander an drei Beispielen. Da ist zunächst Großbritannien mit seinem erblichen, aber rein repräsentativen Königtum. Das Regieren ist nicht Sache des Herrschers, sondern des Ministeriums, und dies wird, zwar nicht nach dem Gesetz, aber nach einem Herkommen, das in Eng¬ land mehr gilt als das Gesetz, von der Mehrheit des Unterhauses gestellt. Diese ist es also, die in Wahrheit das Land regiert. Die Verfassung der französischen Republik ist in diesem Punkt — in einigen andern übrigens auch — viel monarchischer als die des Königreichs Großbritannien und Irland. Der von der Volksvertretung auf Zeit gewählte Präsident ist in der Wahl seines Ministerpräsidenten durch das Herkommen nicht entfernt so gebunden wie die Königin von England. Er vermag vielmehr durch diese Wahl unter Umständen geradezu einen entscheidenden Einfluß auf die Geschicke des Landes auszuüben. Freilich muß der Kabinetschef die Mehrheit der Kammer in Fragen von Bedeutung für sich haben, sodaß die Volksvertretung in allen Regierungsangelegenheiten schließlich doch den Ausschlag giebt. Sie hat sich aber durch die Wahl eines Präsidenten, der nach unabhängigem Ermessen zu handeln befugt ist, eine Art Selbstbeschrünkung auferlegt, die das englische Parlament nicht kennt. An der Spitze des deutschen Reiches endlich steht ein erblicher Kaiser, der das Reich nach innen und außen repräsentirt, dem die Verfassung aber darüber hinaus noch mancherlei Rechte einräumt, nur das eine Recht nicht, seine Minister zu ernennen. Denn man muß sich wohl hüten, unsre Staatssekretäre mit den Ministern andrer Länder zu vergleichen. Die Staatssekretäre sind an sich reine Verwaltungsbeamte, die das Regieren gar nichts angeht. Das eigentliche Ministerium des deutschen Reichs ist vielmehr der Bundesrat, dessen Mitglieder nicht der Kaiser, sondern die einzelnen Bundes¬ regierungen ernennen. Der Kaiser ernennt nur den Ministerpräsidenten, das will sagen den Reichskanzler; wenn er aber will, daß der Kanzler auch mit zu stimmen hat, so muß er ihn aus den Mitgliedern des Bundesrath wählen oder ihn in seiner Eigenschaft als preußischer König zum Bundesrat bevoll¬ mächtigen. Der dritte Faktor, die Volksvertretung, ist natürlich auch im deutschen Reiche von den beiden andern unabhängig, sie hat aber ihrerseits weder Einfluß auf die Besetzung des höchsten Staatsamts noch auf die Zu¬ sammensetzung des Bundesrath. Kommt es in England oder Frankreich zu einem Konflikt zwischen der Volksvertretung und einem der beiden andern Machtfaktoren, so weiß die Volksvertretung ganz genau, daß sie — in Eng¬ land auf dem Herkommen fußend, in Frankreich auf dem Gesetz — in ab¬ sehbarer Zeit ihren Willen durchsetzen kann, vorausgesetzt natürlich, daß sie bis dahin die richtige Vertretung des Volkswillens bleibt. Dies Verhältnis hat der Volksvertretung in jenen beiden Ländern ein starkes moralisches Über¬ gewicht über die beiden andern Faktoren gegeben. Anders liegt die Sache in Deutschland. Hier ist keiner der drei Faktoren imstande, die Durchsetzung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/308>, abgerufen am 24.07.2024.