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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Was verlange" wir von einem bürgerlichen Gesetzbuch?

Haupt einmal klar zu macheu. Leo von Petrazycki sieht sie in seinem Werke
über die Lehre von Einkommen mit Recht darin, daß es den Erwerb des
Privateinkommens, oder mit Bezug auf das ganze Volk gesprochen, die Ver¬
teilung des Volkseinkommens, der durch das Volk geschaffnen Güter, zwischen
den einzelnen Gliedern des Volks regelt. Gemäß dieser Aufgabe des gesamten
bürgerlichen Rechts ist darnach jede einzelne Bestimmung daraufhin zu prüfen,
welche Wirkung sie auf eine gerechte, d. h. dem Wohle des gesamten Volks
förderliche Verteilung des Einkommens ausübt; es ist zunächst ihre soziale
Bedeutung festzustellen. Hierbei ist aber wieder -- und darauf neuerdings
nachdrücklich hingewiesen zu haben ist das große Verdienst Petmzyekis --
nicht zu übersehen, daß jede gesetzliche Vorschrift nicht nur die Regelung eines
bestimmten vorliegende!! Rechts- und Streitverhältnisses enthält, sondern zu¬
gleich durch ihr Bestehen und die in Aussicht gestellte Regelung aller künf¬
tigen gleichartigen Verhältnisse einen psychologischen Einfluß auf die Menschen
ausübt und so auch ihre künftigen Handlungen und Unterlassungen bestimmt.
Die soziale Bedeutung und Wirkung der einzelnen zivilrechtlichen Einrichtungen
und Vorschriften besteht also nicht nur darin, daß im einzelnen Falle die ver-
mögensrechtliche und wirtschaftliche Beziehung des einen zu dem andern in be¬
stimmter Weise geregelt wird, sondern weiter auch darin, daß sie bei allen
Menschen Beweggründe für ein bestimmtes Handeln erzeugen und dadurch
geradezu gewisse Handlungen hervorrufen oder verhindern. So regelt die Vor¬
schrift, daß Spielschulden -- und bei Ausdehnung dieser Bestimmung auch reine
Differenzgeschäfte -- nicht einklagbar sind, nicht nur die wirtschaftliche Be¬
ziehung des einen Spielers zu dem andern, verhindert nicht nur, daß aus
dessen Vermögen eine bestimmte Summe in das des andern übergehe, was
unter Umständen für das allgemeine Wohl höchst gleichgiltig sein kann, sondern
sie nimmt zugleich von vornherein vielen Spielern und Bankiers den Reiz,
andre zum Spielen zu verlocken, und verhindert so in vielen Fällen, daß Ver¬
mögenswerte auch da umgesetzt werden, wo deren Verlust die Vernichtung der
wirtschaftlichen Existenz des einen Spielers bedeuten, damit aber das Wohl
des gesamten Volks schädigen könnte.

Nach dieser ihrer sozialen Wirkung bedürfen die Bestimmungen des Ent¬
wurfs einer besonders genaue" Prüfung. Auch hier handelt es sich wieder
nicht um rein technisch-juristische Fragen, daher muß der Reichstag durchaus
für verpflichtet erachtet werden, sich dieser Prüfung zu unterziehen. Denn
von der richtigen Würdigung jener Bestimmungen hängt das Wohl und Wehe
des ganzen Volks in wirtschaftlicher und sittlicher Beziehung ab. Leider fehlen
über die Wirkungen, die die zivilrechtlichen Einrichtungen und Sätze auf das soziale
Leben ausüben, durchaus noch genügende wissenschaftliche Untersuchungen, und
doch kau" nur dann der Gesetzgeber ein gutes Zivilrecht schaffen, wenn ihm jene
Grundsätze der Zivilpolitik geläufig sind. Diese ist aber eine Wissenschaft, die


Was verlange» wir von einem bürgerlichen Gesetzbuch?

Haupt einmal klar zu macheu. Leo von Petrazycki sieht sie in seinem Werke
über die Lehre von Einkommen mit Recht darin, daß es den Erwerb des
Privateinkommens, oder mit Bezug auf das ganze Volk gesprochen, die Ver¬
teilung des Volkseinkommens, der durch das Volk geschaffnen Güter, zwischen
den einzelnen Gliedern des Volks regelt. Gemäß dieser Aufgabe des gesamten
bürgerlichen Rechts ist darnach jede einzelne Bestimmung daraufhin zu prüfen,
welche Wirkung sie auf eine gerechte, d. h. dem Wohle des gesamten Volks
förderliche Verteilung des Einkommens ausübt; es ist zunächst ihre soziale
Bedeutung festzustellen. Hierbei ist aber wieder — und darauf neuerdings
nachdrücklich hingewiesen zu haben ist das große Verdienst Petmzyekis —
nicht zu übersehen, daß jede gesetzliche Vorschrift nicht nur die Regelung eines
bestimmten vorliegende!! Rechts- und Streitverhältnisses enthält, sondern zu¬
gleich durch ihr Bestehen und die in Aussicht gestellte Regelung aller künf¬
tigen gleichartigen Verhältnisse einen psychologischen Einfluß auf die Menschen
ausübt und so auch ihre künftigen Handlungen und Unterlassungen bestimmt.
Die soziale Bedeutung und Wirkung der einzelnen zivilrechtlichen Einrichtungen
und Vorschriften besteht also nicht nur darin, daß im einzelnen Falle die ver-
mögensrechtliche und wirtschaftliche Beziehung des einen zu dem andern in be¬
stimmter Weise geregelt wird, sondern weiter auch darin, daß sie bei allen
Menschen Beweggründe für ein bestimmtes Handeln erzeugen und dadurch
geradezu gewisse Handlungen hervorrufen oder verhindern. So regelt die Vor¬
schrift, daß Spielschulden — und bei Ausdehnung dieser Bestimmung auch reine
Differenzgeschäfte — nicht einklagbar sind, nicht nur die wirtschaftliche Be¬
ziehung des einen Spielers zu dem andern, verhindert nicht nur, daß aus
dessen Vermögen eine bestimmte Summe in das des andern übergehe, was
unter Umständen für das allgemeine Wohl höchst gleichgiltig sein kann, sondern
sie nimmt zugleich von vornherein vielen Spielern und Bankiers den Reiz,
andre zum Spielen zu verlocken, und verhindert so in vielen Fällen, daß Ver¬
mögenswerte auch da umgesetzt werden, wo deren Verlust die Vernichtung der
wirtschaftlichen Existenz des einen Spielers bedeuten, damit aber das Wohl
des gesamten Volks schädigen könnte.

Nach dieser ihrer sozialen Wirkung bedürfen die Bestimmungen des Ent¬
wurfs einer besonders genaue» Prüfung. Auch hier handelt es sich wieder
nicht um rein technisch-juristische Fragen, daher muß der Reichstag durchaus
für verpflichtet erachtet werden, sich dieser Prüfung zu unterziehen. Denn
von der richtigen Würdigung jener Bestimmungen hängt das Wohl und Wehe
des ganzen Volks in wirtschaftlicher und sittlicher Beziehung ab. Leider fehlen
über die Wirkungen, die die zivilrechtlichen Einrichtungen und Sätze auf das soziale
Leben ausüben, durchaus noch genügende wissenschaftliche Untersuchungen, und
doch kau» nur dann der Gesetzgeber ein gutes Zivilrecht schaffen, wenn ihm jene
Grundsätze der Zivilpolitik geläufig sind. Diese ist aber eine Wissenschaft, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/274>, abgerufen am 25.07.2024.