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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Stacitshilfe oder Selbsthilfe?

finden gegen das Unterbieten ans dem Arbeitsmarkt durch niedrige Lebens¬
ansprüche. Aber für die "Not" des Mittelstandes ist auf diesem Wege keine
Abhilfe zu finden. Erhöhung der persönlichen Fähigkeiten bietet keine Aus¬
sicht zur Besserung auf Arbeitsgebieten, wo das Durchschnittsmaß der Fähig¬
keiten die Möglichkeit ihrer Verwendung weit übersteigt. Je mehr sich die Bil¬
dung verallgemeinert, desto mehr hört sie auf ein Vorzug zu sein, durch den
ihr Besitzer zugleich die Möglichkeit besserer Verwertung seiner Arbeitskraft
gewinnt. Darum erschöpft sich die Pflicht der Selbstfürsorge nicht in Er¬
höhung der Leistungsfähigkeit, sondern es muß eine von deu Einzelnen an sich
geübte Selbstzucht hinzutreten, die in der Beschränkung auf das Erreichbare
und der Zufriedenheit damit besteht. Der Wert der Bildung sollte mehr in
dem innern Vorzug, den dnrch sie der Mensch gewinnt, gesucht werden, als
in äußerer Lebensstellung. So würde der Weg zum sozialen Ausgleich ge¬
funden, so auch am besten der Gefahr des Altwerdens und Melkens begegnet,
der andre Völker zum Opfer fielen, wenn sie, nachdem sie eine gewisse Stufe
der Kultur erreicht hatten, ihre tüchtigen Eigenschaften verloren. Auf die Land¬
wirtschaft angewandt, bedeutet die Mahnung zur Einfachheit, daß das Vater¬
land noch Raum hat für Tausende von fleißigen Händen, wenn die unzweck¬
mäßige Vesitzverteilung einiger ländlichen Gegenden einer zweckmäßigem Platz
macht.

Kurz: bei den Klagen über schlechte Lage und dem Streben nach Besserung
wird den äußern Verhältnissen zu große Bedeutung beigelegt und zu wenig
beachtet, wieviel der Mensch selbst durch sein Verhalten zur Gestaltung dieser
Verhältnisse beiträgt. Der Hauptsache nach bleibt der Mensch immer auf seine
eignen Kräfte augewiesen; sie haben das wertvollste zur Gestaltung seines
Loses beizutragen. Darum darf die Wirkung, die das Wohlwollen für andre
im besten Falle üben kann, nicht überschätzt werden. Diese Wirkung ist be¬
schränkt, wo das Wohlwollen von einzelnen, beschränkt auch, wo es vom Staate
geübt wird. Das Bemühen, eine noch weitere Ausdehnung des Wohlwollens
zu erlangen, hat die Selbstsucht nicht, wie beabsichtigt war, gedämpft, sondern
bestärkt. Die Thatsache ist nicht wegzuschaffen, daß der Raum im lieben
Vaterlande enger geworden ist. Das Drängen und Stoßen, das den Teil¬
nehmern am Erwerbskampf Unbehagen verursacht, ist von den neuzeitlichen
Verhältnissen unzertrennlich, ist die notwendige Folge davon, daß das Auf¬
wärtsstreben immer allgemeiner geworden ist. Wenn dieser Kampf in gewissem
Maße eine Erhöhung der menschlichen Fähigkeiten bewirkt, so ist doch die
Möglichkeit des auf diesem Wege für die Gesamtheit erreichbaren viel enger
begrenzt, als sich im Durchschnitt die menschlichen Wünsche erstrecken. Es
läßt sich keine Wirtschaftsordnung ersinnen, die diesen Wünschen gerecht würde,
die ein allgemeines Recht auf Wohlergehen verwirklichte. Solchen Träumen
ist die nüchterne Erkenntnis entgegenzustellen, daß das Verlangen, die mersch-


Stacitshilfe oder Selbsthilfe?

finden gegen das Unterbieten ans dem Arbeitsmarkt durch niedrige Lebens¬
ansprüche. Aber für die „Not" des Mittelstandes ist auf diesem Wege keine
Abhilfe zu finden. Erhöhung der persönlichen Fähigkeiten bietet keine Aus¬
sicht zur Besserung auf Arbeitsgebieten, wo das Durchschnittsmaß der Fähig¬
keiten die Möglichkeit ihrer Verwendung weit übersteigt. Je mehr sich die Bil¬
dung verallgemeinert, desto mehr hört sie auf ein Vorzug zu sein, durch den
ihr Besitzer zugleich die Möglichkeit besserer Verwertung seiner Arbeitskraft
gewinnt. Darum erschöpft sich die Pflicht der Selbstfürsorge nicht in Er¬
höhung der Leistungsfähigkeit, sondern es muß eine von deu Einzelnen an sich
geübte Selbstzucht hinzutreten, die in der Beschränkung auf das Erreichbare
und der Zufriedenheit damit besteht. Der Wert der Bildung sollte mehr in
dem innern Vorzug, den dnrch sie der Mensch gewinnt, gesucht werden, als
in äußerer Lebensstellung. So würde der Weg zum sozialen Ausgleich ge¬
funden, so auch am besten der Gefahr des Altwerdens und Melkens begegnet,
der andre Völker zum Opfer fielen, wenn sie, nachdem sie eine gewisse Stufe
der Kultur erreicht hatten, ihre tüchtigen Eigenschaften verloren. Auf die Land¬
wirtschaft angewandt, bedeutet die Mahnung zur Einfachheit, daß das Vater¬
land noch Raum hat für Tausende von fleißigen Händen, wenn die unzweck¬
mäßige Vesitzverteilung einiger ländlichen Gegenden einer zweckmäßigem Platz
macht.

Kurz: bei den Klagen über schlechte Lage und dem Streben nach Besserung
wird den äußern Verhältnissen zu große Bedeutung beigelegt und zu wenig
beachtet, wieviel der Mensch selbst durch sein Verhalten zur Gestaltung dieser
Verhältnisse beiträgt. Der Hauptsache nach bleibt der Mensch immer auf seine
eignen Kräfte augewiesen; sie haben das wertvollste zur Gestaltung seines
Loses beizutragen. Darum darf die Wirkung, die das Wohlwollen für andre
im besten Falle üben kann, nicht überschätzt werden. Diese Wirkung ist be¬
schränkt, wo das Wohlwollen von einzelnen, beschränkt auch, wo es vom Staate
geübt wird. Das Bemühen, eine noch weitere Ausdehnung des Wohlwollens
zu erlangen, hat die Selbstsucht nicht, wie beabsichtigt war, gedämpft, sondern
bestärkt. Die Thatsache ist nicht wegzuschaffen, daß der Raum im lieben
Vaterlande enger geworden ist. Das Drängen und Stoßen, das den Teil¬
nehmern am Erwerbskampf Unbehagen verursacht, ist von den neuzeitlichen
Verhältnissen unzertrennlich, ist die notwendige Folge davon, daß das Auf¬
wärtsstreben immer allgemeiner geworden ist. Wenn dieser Kampf in gewissem
Maße eine Erhöhung der menschlichen Fähigkeiten bewirkt, so ist doch die
Möglichkeit des auf diesem Wege für die Gesamtheit erreichbaren viel enger
begrenzt, als sich im Durchschnitt die menschlichen Wünsche erstrecken. Es
läßt sich keine Wirtschaftsordnung ersinnen, die diesen Wünschen gerecht würde,
die ein allgemeines Recht auf Wohlergehen verwirklichte. Solchen Träumen
ist die nüchterne Erkenntnis entgegenzustellen, daß das Verlangen, die mersch-


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[0272] Stacitshilfe oder Selbsthilfe? finden gegen das Unterbieten ans dem Arbeitsmarkt durch niedrige Lebens¬ ansprüche. Aber für die „Not" des Mittelstandes ist auf diesem Wege keine Abhilfe zu finden. Erhöhung der persönlichen Fähigkeiten bietet keine Aus¬ sicht zur Besserung auf Arbeitsgebieten, wo das Durchschnittsmaß der Fähig¬ keiten die Möglichkeit ihrer Verwendung weit übersteigt. Je mehr sich die Bil¬ dung verallgemeinert, desto mehr hört sie auf ein Vorzug zu sein, durch den ihr Besitzer zugleich die Möglichkeit besserer Verwertung seiner Arbeitskraft gewinnt. Darum erschöpft sich die Pflicht der Selbstfürsorge nicht in Er¬ höhung der Leistungsfähigkeit, sondern es muß eine von deu Einzelnen an sich geübte Selbstzucht hinzutreten, die in der Beschränkung auf das Erreichbare und der Zufriedenheit damit besteht. Der Wert der Bildung sollte mehr in dem innern Vorzug, den dnrch sie der Mensch gewinnt, gesucht werden, als in äußerer Lebensstellung. So würde der Weg zum sozialen Ausgleich ge¬ funden, so auch am besten der Gefahr des Altwerdens und Melkens begegnet, der andre Völker zum Opfer fielen, wenn sie, nachdem sie eine gewisse Stufe der Kultur erreicht hatten, ihre tüchtigen Eigenschaften verloren. Auf die Land¬ wirtschaft angewandt, bedeutet die Mahnung zur Einfachheit, daß das Vater¬ land noch Raum hat für Tausende von fleißigen Händen, wenn die unzweck¬ mäßige Vesitzverteilung einiger ländlichen Gegenden einer zweckmäßigem Platz macht. Kurz: bei den Klagen über schlechte Lage und dem Streben nach Besserung wird den äußern Verhältnissen zu große Bedeutung beigelegt und zu wenig beachtet, wieviel der Mensch selbst durch sein Verhalten zur Gestaltung dieser Verhältnisse beiträgt. Der Hauptsache nach bleibt der Mensch immer auf seine eignen Kräfte augewiesen; sie haben das wertvollste zur Gestaltung seines Loses beizutragen. Darum darf die Wirkung, die das Wohlwollen für andre im besten Falle üben kann, nicht überschätzt werden. Diese Wirkung ist be¬ schränkt, wo das Wohlwollen von einzelnen, beschränkt auch, wo es vom Staate geübt wird. Das Bemühen, eine noch weitere Ausdehnung des Wohlwollens zu erlangen, hat die Selbstsucht nicht, wie beabsichtigt war, gedämpft, sondern bestärkt. Die Thatsache ist nicht wegzuschaffen, daß der Raum im lieben Vaterlande enger geworden ist. Das Drängen und Stoßen, das den Teil¬ nehmern am Erwerbskampf Unbehagen verursacht, ist von den neuzeitlichen Verhältnissen unzertrennlich, ist die notwendige Folge davon, daß das Auf¬ wärtsstreben immer allgemeiner geworden ist. Wenn dieser Kampf in gewissem Maße eine Erhöhung der menschlichen Fähigkeiten bewirkt, so ist doch die Möglichkeit des auf diesem Wege für die Gesamtheit erreichbaren viel enger begrenzt, als sich im Durchschnitt die menschlichen Wünsche erstrecken. Es läßt sich keine Wirtschaftsordnung ersinnen, die diesen Wünschen gerecht würde, die ein allgemeines Recht auf Wohlergehen verwirklichte. Solchen Träumen ist die nüchterne Erkenntnis entgegenzustellen, daß das Verlangen, die mersch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/272>, abgerufen am 26.07.2024.