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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Stacitshilfe oder Selbsthilfe?

schärfen. Und wenn ein junger Mann bis zum dreißigsten Lebensjahre ans
des Vaters Tasche lebt, so mag er ja leichter für die Vorstellung zugänglich
sein, daß ihm nach dem Versiegen der gewohnten Hilfsquellen ein Anspruch
auf anderweitige Unterstützung zustehe.

Die Änderung der Lebensgewohnheiten, von der hier die Rede war, läßt
sich kurz so bezeichnen: es wird mehr sür den Genuß in der Gegenwart gelebt
und weniger an Sicherung für die Zukunft, sei es der eignen Daseins¬
bedingungen oder der der Kinder, gedacht. Gerade bei der Landwirtschaft, die
ja für ganz besonders hilfsbedürftig gilt, ist die Einwirkung dieser Änderung
deutlich nachweisbar. Durch das Verlassen der frühern einfachen Lebensweise
ist sowohl der Haushalt als auch die Wirtschaft des Landmanns kostspieliger
geworden. Die Arbeitskraft der eignen Familienmitglieder wird nicht mehr
in dem frühern Umfang in der Wirtschaft verwertet. Dadurch sind bei einem
einigermaßen großen Bauernbesitz die Kosten der Wirtschaft bedeutend gestiegen.
Zugleich ist eine soziale Trennung zwischen dem Landmann und seinem Ge¬
sinde eingetreten, die früher nicht vorhanden war, und durch die die Zuver¬
lässigkeit des Gesindes und seine Anhänglichkeit an die Brotherrschaft großen
Abbruch erlitten hat. Außerdem Pflegte in frühern Zeiten ein Kapital zur
Ausrüstung der Kinder beim Wirtschaften zurückgelegt zu werden. Dies geschah
oft selbst dann, wenn ein Besitz mit Schulden übernommen wurde, die dann
aber bald abgetragen wurden. Es ist zuzugeben, daß das heute meistens nicht
mehr möglich ist; Schulden werden eher gehäuft als abgetragen. Aber das
Ansammeln von Kapital ist auch schon versäumt worden in einer Zeit, wo es
noch ganz gut möglich war. Gerade die zu eiuer Zeit so günstige Lage der
Landwirtschaft hat zum großen Teil mit Anlaß zur Erhöhung der Lebcns-
cmsprüche gegeben. Und wo das nicht geschehen ist, wo die gute Zeit zur Für¬
sorge für die Zukunft benutzt worden ist, da ist auch der Bauernstand wider¬
standsfähig geblieben. In meiner Heimat Schleswig-Holstein kann man strich¬
weise diese Unterschiede der Lebensweise und der wirtschaftlichen Lage des
Bauernstandes verfolgen, und noch dazu wohnt der einfachere und zugleich
wohlhabendere Bauernstand durchweg auf dem ärmern Boden. Ja man kann
oft diese Unterschiede beobachten, wenn man von dem einen Nachbarn zum
andern geht. Die Fähigkeit der Erhaltung des Besitzes ist da vorhanden, wo
der Wunsch, den Besitz zu erhalten, die Denkart und die Lebensgewohnheiten
des Bauern beherrscht, wo der Familiensinn so stark ist, daß die Wünsche des
Einzelnen dem Interesse der Familie untergeordnet werden. Für die ledigen
Familienmitglieder, die ans dem Hofe bleiben, fällt des Bruders Interesse mit
dem eignen zusammen. "Unser" ist das Pferd und die Kuh und die ganze
Vauernhufe. Ein niedrigerer Vildungsstand erleichtert das Festhalten dieser
Gewohnheiten, nicht nur weil sich die Geschwister des Bnueru aus diesem
Grunde leichter darein finden, zeitlebens oder bis in ein späteres Lebensalter


Stacitshilfe oder Selbsthilfe?

schärfen. Und wenn ein junger Mann bis zum dreißigsten Lebensjahre ans
des Vaters Tasche lebt, so mag er ja leichter für die Vorstellung zugänglich
sein, daß ihm nach dem Versiegen der gewohnten Hilfsquellen ein Anspruch
auf anderweitige Unterstützung zustehe.

Die Änderung der Lebensgewohnheiten, von der hier die Rede war, läßt
sich kurz so bezeichnen: es wird mehr sür den Genuß in der Gegenwart gelebt
und weniger an Sicherung für die Zukunft, sei es der eignen Daseins¬
bedingungen oder der der Kinder, gedacht. Gerade bei der Landwirtschaft, die
ja für ganz besonders hilfsbedürftig gilt, ist die Einwirkung dieser Änderung
deutlich nachweisbar. Durch das Verlassen der frühern einfachen Lebensweise
ist sowohl der Haushalt als auch die Wirtschaft des Landmanns kostspieliger
geworden. Die Arbeitskraft der eignen Familienmitglieder wird nicht mehr
in dem frühern Umfang in der Wirtschaft verwertet. Dadurch sind bei einem
einigermaßen großen Bauernbesitz die Kosten der Wirtschaft bedeutend gestiegen.
Zugleich ist eine soziale Trennung zwischen dem Landmann und seinem Ge¬
sinde eingetreten, die früher nicht vorhanden war, und durch die die Zuver¬
lässigkeit des Gesindes und seine Anhänglichkeit an die Brotherrschaft großen
Abbruch erlitten hat. Außerdem Pflegte in frühern Zeiten ein Kapital zur
Ausrüstung der Kinder beim Wirtschaften zurückgelegt zu werden. Dies geschah
oft selbst dann, wenn ein Besitz mit Schulden übernommen wurde, die dann
aber bald abgetragen wurden. Es ist zuzugeben, daß das heute meistens nicht
mehr möglich ist; Schulden werden eher gehäuft als abgetragen. Aber das
Ansammeln von Kapital ist auch schon versäumt worden in einer Zeit, wo es
noch ganz gut möglich war. Gerade die zu eiuer Zeit so günstige Lage der
Landwirtschaft hat zum großen Teil mit Anlaß zur Erhöhung der Lebcns-
cmsprüche gegeben. Und wo das nicht geschehen ist, wo die gute Zeit zur Für¬
sorge für die Zukunft benutzt worden ist, da ist auch der Bauernstand wider¬
standsfähig geblieben. In meiner Heimat Schleswig-Holstein kann man strich¬
weise diese Unterschiede der Lebensweise und der wirtschaftlichen Lage des
Bauernstandes verfolgen, und noch dazu wohnt der einfachere und zugleich
wohlhabendere Bauernstand durchweg auf dem ärmern Boden. Ja man kann
oft diese Unterschiede beobachten, wenn man von dem einen Nachbarn zum
andern geht. Die Fähigkeit der Erhaltung des Besitzes ist da vorhanden, wo
der Wunsch, den Besitz zu erhalten, die Denkart und die Lebensgewohnheiten
des Bauern beherrscht, wo der Familiensinn so stark ist, daß die Wünsche des
Einzelnen dem Interesse der Familie untergeordnet werden. Für die ledigen
Familienmitglieder, die ans dem Hofe bleiben, fällt des Bruders Interesse mit
dem eignen zusammen. „Unser" ist das Pferd und die Kuh und die ganze
Vauernhufe. Ein niedrigerer Vildungsstand erleichtert das Festhalten dieser
Gewohnheiten, nicht nur weil sich die Geschwister des Bnueru aus diesem
Grunde leichter darein finden, zeitlebens oder bis in ein späteres Lebensalter


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[0268] Stacitshilfe oder Selbsthilfe? schärfen. Und wenn ein junger Mann bis zum dreißigsten Lebensjahre ans des Vaters Tasche lebt, so mag er ja leichter für die Vorstellung zugänglich sein, daß ihm nach dem Versiegen der gewohnten Hilfsquellen ein Anspruch auf anderweitige Unterstützung zustehe. Die Änderung der Lebensgewohnheiten, von der hier die Rede war, läßt sich kurz so bezeichnen: es wird mehr sür den Genuß in der Gegenwart gelebt und weniger an Sicherung für die Zukunft, sei es der eignen Daseins¬ bedingungen oder der der Kinder, gedacht. Gerade bei der Landwirtschaft, die ja für ganz besonders hilfsbedürftig gilt, ist die Einwirkung dieser Änderung deutlich nachweisbar. Durch das Verlassen der frühern einfachen Lebensweise ist sowohl der Haushalt als auch die Wirtschaft des Landmanns kostspieliger geworden. Die Arbeitskraft der eignen Familienmitglieder wird nicht mehr in dem frühern Umfang in der Wirtschaft verwertet. Dadurch sind bei einem einigermaßen großen Bauernbesitz die Kosten der Wirtschaft bedeutend gestiegen. Zugleich ist eine soziale Trennung zwischen dem Landmann und seinem Ge¬ sinde eingetreten, die früher nicht vorhanden war, und durch die die Zuver¬ lässigkeit des Gesindes und seine Anhänglichkeit an die Brotherrschaft großen Abbruch erlitten hat. Außerdem Pflegte in frühern Zeiten ein Kapital zur Ausrüstung der Kinder beim Wirtschaften zurückgelegt zu werden. Dies geschah oft selbst dann, wenn ein Besitz mit Schulden übernommen wurde, die dann aber bald abgetragen wurden. Es ist zuzugeben, daß das heute meistens nicht mehr möglich ist; Schulden werden eher gehäuft als abgetragen. Aber das Ansammeln von Kapital ist auch schon versäumt worden in einer Zeit, wo es noch ganz gut möglich war. Gerade die zu eiuer Zeit so günstige Lage der Landwirtschaft hat zum großen Teil mit Anlaß zur Erhöhung der Lebcns- cmsprüche gegeben. Und wo das nicht geschehen ist, wo die gute Zeit zur Für¬ sorge für die Zukunft benutzt worden ist, da ist auch der Bauernstand wider¬ standsfähig geblieben. In meiner Heimat Schleswig-Holstein kann man strich¬ weise diese Unterschiede der Lebensweise und der wirtschaftlichen Lage des Bauernstandes verfolgen, und noch dazu wohnt der einfachere und zugleich wohlhabendere Bauernstand durchweg auf dem ärmern Boden. Ja man kann oft diese Unterschiede beobachten, wenn man von dem einen Nachbarn zum andern geht. Die Fähigkeit der Erhaltung des Besitzes ist da vorhanden, wo der Wunsch, den Besitz zu erhalten, die Denkart und die Lebensgewohnheiten des Bauern beherrscht, wo der Familiensinn so stark ist, daß die Wünsche des Einzelnen dem Interesse der Familie untergeordnet werden. Für die ledigen Familienmitglieder, die ans dem Hofe bleiben, fällt des Bruders Interesse mit dem eignen zusammen. „Unser" ist das Pferd und die Kuh und die ganze Vauernhufe. Ein niedrigerer Vildungsstand erleichtert das Festhalten dieser Gewohnheiten, nicht nur weil sich die Geschwister des Bnueru aus diesem Grunde leichter darein finden, zeitlebens oder bis in ein späteres Lebensalter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/268>, abgerufen am 26.07.2024.