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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Staatshilfe oder Selbsthilfe?

einzelner Mitbewerber. Er widerlegt durch sein Verhalten die Behauptung
von der Jünunerlichkeit unsrer Zustände und der Notwendigkeit einer tief¬
greifenden Umgestaltung. So beschränkt sich die Anfeindung nicht auf andre
Berufsarten; auch der eigne Berufsgenosse wird angegriffen, wenn er Programm-
widrig handelt, d. h. wenn er nicht mit in die üblichen Klagen einstimmt, auf
Staatshilfe keinen Anspruch macht und durch seine eigne Thätigkeit ihre Ent¬
behrlichkeit beweist. Wie die Sozialisten allen Bemühungen auf dem Boden
der heutigen Gesellschaftsordnung, durch Anleitung zur Selbsthilfe deu Arbeiter-
stnnd emporzubringen, mißtrauisch und feindselig gegenüberstehen, so suchen
auch die Agrarier den Wert jeder Selbstfürsorge für die Landwirtschaft herab¬
zusetzen, und sie schlagen sogar den Wert der Staatshilfe in begrenztem Umfang,
der sogenannten kleinen Mittel, gering an.

So werden hohe Tugendideale aufgestellt; man will die Menschheit zu
gegenseitiger Hifsbereitschaft erziehen, aber die bescheidnern Tugenden, die der
Mensch zur richtigen Führung seiner eignen Angelegenheiten nicht entbehren
kann, werden gering geschätzt und vernachlässigt. Die UnVollkommenheit des
Bestehenden, die unvermeidlichen Härten des Daseins werden als ein Unrecht
empfunden, das eine weise Gesetzgebung abzustellen habe. Die Verantwortung
sür das Thun des Einzelnen wird ans die Gesamtheit oder eine angeblich
fehlerhafte Weltordnung abgeladen. Das Einschmeichelnde dieser Vorstellung
liegt darin, daß sie der ohnehin bei vielen Menschen so starken Neigung, für
eignes Verschulden andre Menschen oder äußere Verhältnisse verantwortlich
zu machen, entgegenkommt.

Wenn hier von Schuld die Rede ist, so ist allerdings dieser Begriff in
vielen Füllen in einem erweiterten Sinne zu verstehen; aber wenn er damit
abgeschwächt wird, so besteht doch nicht weniger die Verpflichtung, den Ur¬
sachen der Fehler nachzuspüren und sie nach Kräften zu beseitigen. Man kann
zugeben, daß die Anschauungen und Vorstellungen, die durch die Erziehung und
durch die ganze Lebensweise in dem Menschen geweckt und befestigt werden,
eine geistige Macht sind, der sich der Einzelne nur schwer entziehen kann.
Aber früher oder später müssen auch die Völker und muß die Menschheit für
alle Verirrungen büßen, deren sie sich schuldig machen. Und darum gilt es, der
Entstellung, die verkehrte Neigungen begünstigt und hätschelt, entgegenzutreten.
Das Hauptorgan der Mittelstandsretter, die Deutsche Tageszeitung, brachte
vor einiger Zeit einen sehr hoffnungsfrohen Artikel. Es war darin die Rede
von der Macht, die das Programm dieser Partei auf die Jugend übe, von
einer lenzlichen, lebensfroher Stimmung, der die Vertreter veralteter Partei¬
anschauungen gricsgrämlich abwehrend gegenüberstünden. Nun kann man gewiß
nicht die Parteien im strengen Sinne des Worts in Parteien der Alten und
der Jüngern in der Bevölkerung einteilen. Wohl aber müssen sich mit der
Zeit die durch Änderung der Lebensgewohnheiten entstehenden Übelstände ver-


Staatshilfe oder Selbsthilfe?

einzelner Mitbewerber. Er widerlegt durch sein Verhalten die Behauptung
von der Jünunerlichkeit unsrer Zustände und der Notwendigkeit einer tief¬
greifenden Umgestaltung. So beschränkt sich die Anfeindung nicht auf andre
Berufsarten; auch der eigne Berufsgenosse wird angegriffen, wenn er Programm-
widrig handelt, d. h. wenn er nicht mit in die üblichen Klagen einstimmt, auf
Staatshilfe keinen Anspruch macht und durch seine eigne Thätigkeit ihre Ent¬
behrlichkeit beweist. Wie die Sozialisten allen Bemühungen auf dem Boden
der heutigen Gesellschaftsordnung, durch Anleitung zur Selbsthilfe deu Arbeiter-
stnnd emporzubringen, mißtrauisch und feindselig gegenüberstehen, so suchen
auch die Agrarier den Wert jeder Selbstfürsorge für die Landwirtschaft herab¬
zusetzen, und sie schlagen sogar den Wert der Staatshilfe in begrenztem Umfang,
der sogenannten kleinen Mittel, gering an.

So werden hohe Tugendideale aufgestellt; man will die Menschheit zu
gegenseitiger Hifsbereitschaft erziehen, aber die bescheidnern Tugenden, die der
Mensch zur richtigen Führung seiner eignen Angelegenheiten nicht entbehren
kann, werden gering geschätzt und vernachlässigt. Die UnVollkommenheit des
Bestehenden, die unvermeidlichen Härten des Daseins werden als ein Unrecht
empfunden, das eine weise Gesetzgebung abzustellen habe. Die Verantwortung
sür das Thun des Einzelnen wird ans die Gesamtheit oder eine angeblich
fehlerhafte Weltordnung abgeladen. Das Einschmeichelnde dieser Vorstellung
liegt darin, daß sie der ohnehin bei vielen Menschen so starken Neigung, für
eignes Verschulden andre Menschen oder äußere Verhältnisse verantwortlich
zu machen, entgegenkommt.

Wenn hier von Schuld die Rede ist, so ist allerdings dieser Begriff in
vielen Füllen in einem erweiterten Sinne zu verstehen; aber wenn er damit
abgeschwächt wird, so besteht doch nicht weniger die Verpflichtung, den Ur¬
sachen der Fehler nachzuspüren und sie nach Kräften zu beseitigen. Man kann
zugeben, daß die Anschauungen und Vorstellungen, die durch die Erziehung und
durch die ganze Lebensweise in dem Menschen geweckt und befestigt werden,
eine geistige Macht sind, der sich der Einzelne nur schwer entziehen kann.
Aber früher oder später müssen auch die Völker und muß die Menschheit für
alle Verirrungen büßen, deren sie sich schuldig machen. Und darum gilt es, der
Entstellung, die verkehrte Neigungen begünstigt und hätschelt, entgegenzutreten.
Das Hauptorgan der Mittelstandsretter, die Deutsche Tageszeitung, brachte
vor einiger Zeit einen sehr hoffnungsfrohen Artikel. Es war darin die Rede
von der Macht, die das Programm dieser Partei auf die Jugend übe, von
einer lenzlichen, lebensfroher Stimmung, der die Vertreter veralteter Partei¬
anschauungen gricsgrämlich abwehrend gegenüberstünden. Nun kann man gewiß
nicht die Parteien im strengen Sinne des Worts in Parteien der Alten und
der Jüngern in der Bevölkerung einteilen. Wohl aber müssen sich mit der
Zeit die durch Änderung der Lebensgewohnheiten entstehenden Übelstände ver-


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[0267] Staatshilfe oder Selbsthilfe? einzelner Mitbewerber. Er widerlegt durch sein Verhalten die Behauptung von der Jünunerlichkeit unsrer Zustände und der Notwendigkeit einer tief¬ greifenden Umgestaltung. So beschränkt sich die Anfeindung nicht auf andre Berufsarten; auch der eigne Berufsgenosse wird angegriffen, wenn er Programm- widrig handelt, d. h. wenn er nicht mit in die üblichen Klagen einstimmt, auf Staatshilfe keinen Anspruch macht und durch seine eigne Thätigkeit ihre Ent¬ behrlichkeit beweist. Wie die Sozialisten allen Bemühungen auf dem Boden der heutigen Gesellschaftsordnung, durch Anleitung zur Selbsthilfe deu Arbeiter- stnnd emporzubringen, mißtrauisch und feindselig gegenüberstehen, so suchen auch die Agrarier den Wert jeder Selbstfürsorge für die Landwirtschaft herab¬ zusetzen, und sie schlagen sogar den Wert der Staatshilfe in begrenztem Umfang, der sogenannten kleinen Mittel, gering an. So werden hohe Tugendideale aufgestellt; man will die Menschheit zu gegenseitiger Hifsbereitschaft erziehen, aber die bescheidnern Tugenden, die der Mensch zur richtigen Führung seiner eignen Angelegenheiten nicht entbehren kann, werden gering geschätzt und vernachlässigt. Die UnVollkommenheit des Bestehenden, die unvermeidlichen Härten des Daseins werden als ein Unrecht empfunden, das eine weise Gesetzgebung abzustellen habe. Die Verantwortung sür das Thun des Einzelnen wird ans die Gesamtheit oder eine angeblich fehlerhafte Weltordnung abgeladen. Das Einschmeichelnde dieser Vorstellung liegt darin, daß sie der ohnehin bei vielen Menschen so starken Neigung, für eignes Verschulden andre Menschen oder äußere Verhältnisse verantwortlich zu machen, entgegenkommt. Wenn hier von Schuld die Rede ist, so ist allerdings dieser Begriff in vielen Füllen in einem erweiterten Sinne zu verstehen; aber wenn er damit abgeschwächt wird, so besteht doch nicht weniger die Verpflichtung, den Ur¬ sachen der Fehler nachzuspüren und sie nach Kräften zu beseitigen. Man kann zugeben, daß die Anschauungen und Vorstellungen, die durch die Erziehung und durch die ganze Lebensweise in dem Menschen geweckt und befestigt werden, eine geistige Macht sind, der sich der Einzelne nur schwer entziehen kann. Aber früher oder später müssen auch die Völker und muß die Menschheit für alle Verirrungen büßen, deren sie sich schuldig machen. Und darum gilt es, der Entstellung, die verkehrte Neigungen begünstigt und hätschelt, entgegenzutreten. Das Hauptorgan der Mittelstandsretter, die Deutsche Tageszeitung, brachte vor einiger Zeit einen sehr hoffnungsfrohen Artikel. Es war darin die Rede von der Macht, die das Programm dieser Partei auf die Jugend übe, von einer lenzlichen, lebensfroher Stimmung, der die Vertreter veralteter Partei¬ anschauungen gricsgrämlich abwehrend gegenüberstünden. Nun kann man gewiß nicht die Parteien im strengen Sinne des Worts in Parteien der Alten und der Jüngern in der Bevölkerung einteilen. Wohl aber müssen sich mit der Zeit die durch Änderung der Lebensgewohnheiten entstehenden Übelstände ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/267>, abgerufen am 26.07.2024.